Tichys Einblick
Offene Fragen

Annalena Baerbocks Abschluss

Wie verlief eigentlich die akademische Karriere der grünen Kanzlerkandidatin? Etwas anders, als sie es bisher darstellte. Jetzt legt die Partei Unterlagen vor, beantwortet aber wichtige Fragen immer noch nicht.

IMAGO / photothek

Über den Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet gibt es eine Biografie, über den Beinahe-Kandidaten Markus Söder sogar zwei. Auch eine „exklusive Biografie“ Robert Habecks gehört zum Sortiment des Wahljahrs.

Nur zu der Kanzlerkandidatin der Grünen Annalena Baerbock findet sich nichts Biografisches auf dem Markt, abgesehen von einem Bildband („in großem Format: 21,5 x 21,5 Zentimeter, leichtes Softcover in Premium-Papier mit Filmlaminierung, hochwertige Aufnahmen von internationalen Profifotografen, großartige und unvergessene Momente“).

Die Süddeutsche fragte vor einiger Zeit bei Verlagen nach dem Grund für die Leerstelle, und erfuhr, dass Droemer Knaur 2020 versuchte, Baerbock für ein Biografieprojekt zu gewinnen, allerdings erfolglos. „’Wahrscheinlich hat sie sich aufs Machen konzentriert und hat das Schreiben Robert Habeck überlassen. Das sind aber nur Mutmaßungen – politisch jedenfalls hat sie sehr klug agiert’, zitiert das Blatt Margit Ketterle, Verlagsleiterin des Bereichs Sachbuch. Droemer Knaur sei „weiter an einer Biografie interessiert“. Dass eine Politikerin, die das Amt der Bundeskanzlerin anstrebt, ein Jahr vor Wahlkampfbeginn keine Zeit für eine Biografie bei einem großen Verlag finden sollte, wäre ungewöhnlich. Möglicherweise liegt ihre Abstinenz daran, dass es aus ihrem Leben nicht viel zu berichten gibt. In ihrem Lebenslauf findet sich nur eine kurze berufliche Station außerhalb der Politik: die Freie Mitarbeit bei der Hannoverschen Allgemeinen von 2000 bis 2003.

Baerbocks akademische Karriere galt bisher als das, was ihr im Vergleich zu vielen anderen Politikern trotzdem einen gewissen Glanz verschaffte: ein Masterabschluss in internationalem Recht an der renommierten London School of Economics. Das genügte vielen Medien, um die Grünen-Kandidatin zur Juristin zu befördern, wahlweise auch zur Völkerrechtlerin. „Die studierte Politologin und Juristin wurde in Hannover geboren und lebt mit ihrer Familie in Potsdam“, hieß es beispielsweise in der „Galileo“-Sendereihe von Pro 7. Bei genauerer Betrachtung bleibt allerdings auch von ihrer Bildungskarriere nichts Überdurchschnittliches. Im Gegenteil, es ergeben sich etliche Fragen, die sie bis jetzt nicht beantworten kann oder will.

Am 11. Mai legte der für den Grünen-Wahlkampf zuständige Parteisprecher Andreas Kappler auf Twitter einige Dokumente zu Baerbocks Studiengängen vor, eingeleitet von der Klage: „Es kursieren Falschbehauptungen über Annalena Baerbock. Diesmal über die akademische Ausbildung. Die Fakten im Thread.“

Der Tagesspiegel sekundierte mit einem larmoyanten Text über „Rechte Medien“, die nachgefragt hätten – und beschwerte sich über „Falschmeldungen“. Bisher kursierten allerdings weniger Falschmeldungen, sondern die Fragen mehrerer Medien, unter anderem von Hadmut Danisch, Tichys Einblick und Publico. Was die falschen oder zumindest irreführenden Behauptungen über die akademischen Meriten der grünen Kanzlerkandidatin angeht: Die stammen nachweislich und nahezu vollständig von ihrer Partei selbst.

„Egal ob beim Klimaschutz, Sicherheitsfragen, oder der Migrationspolitik – für die studierte Völkerrechtlerin steht fest: Dafür braucht es ein starkes und geeintes Europa, das die Herausforderungen unserer Zeit mit Mut und Leidenschaft anpackt“, heißt es etwa auf einer Partei-Webseite.

In mehreren offiziellen Darstellungen der Partei, die auch von etlichen Medien übernommen wurden, las sich bis vor kurzem ihr Werdegang so:
Von 2000 bis 2004 Studium der Politikwissenschaften mit Nebenfach öffentlichem Recht an der Universität Hamburg mit Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaften, Masterstudiengang in internationalem Recht an der London School of Economics von 2004 bis 2005.

Auf ihrer Bundestagsseite erwähnte sie ihr Studium in Hamburg überhaupt nicht, sondern nur den Aufenthalt in London. Dort stand noch bis vor kurzem: „Annalena Baerbock schloss im Jahr 2005 ihr Studium des Völkerrechts an der London School of Economics mit dem Titel LLM (Master of Laws) ab.“

Ihre offiziellen biografischen Angaben führten systematisch in die Irre. Auf ihrer Bundestagsseite erweckt sie den Eindruck, sie habe Völkerrecht in London studiert. Die notwendige Information, dass es sich bei ihrem Aufenthalt an der LSE nur um einen einjährigen Master-Studiengang handelte, lässt sie dort komplett weg. Die Angaben an anderer Stelle, sie hätte in Hamburg einen Bachelor-Studiengang Politikwissenschaften absolviert, ist falsch: Wie die Universität Hamburg auf Anfrage von TE und Publico bestätigt, wurde dort der Bachelor-Studiengang in diesem Fach erst zum Wintersemester 2005/06 eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Baerbock die Universität Hamburg schon verlassen. Baerbock absolvierte in Hamburg also einen klassischen Studiengang Politikwissenschaften plus Nebenfach, der normalerweise mit einem Diplom abschließt. Die falsche Bachelor-Darstellung, die viele Medien übernahmen

verfolgte offenbar das Ziel, die Frage nach einem Hamburger Diplom gar nicht aufkommen zu lassen. Ihre Bundestagsseite erwähnte, siehe oben, ihr eigentliches Studium in Hamburg noch nicht einmal.

Am 11. Mai veröffentlichte Grünen-Sprecher Kappler nach mehreren Medienanfragen schließlich zwei Dokumente: Eine undatierte faksimilierte Urkunde, aus der hervorgeht, dass sie das Vordiplom für Politikwissenschaften in Hamburg mit der Note 1,3 abgelegt hatte. Und eine ebenfalls undatierte Urkunde über den Erwerb des Master of Laws an der London School of Economics.

Das bestätigt die Vermutung angesichts der vorliegenden Daten und Auslassungen: Baerbock erwarb in Hamburg keinen Studienabschluss, also ein Diplom in Politikwissenschaften. Laut Prüfungsordnung besagt das Vordiplom nur, dass jemand das Grundstudium erfolgreich hinter sich gebracht hat. Aus welchen Gründen und wann genau sie die Universität Hamburg ohne Diplom verließ, erklärte sie bisher nicht.

Die London School of Economics zählt zu den renommierten privaten Instituten der englischsprachigen Welt. Die Gebühren für einen einjährigen Masterkurs liegen oberhalb von 20.000 Pfund. Grundsätzlich gilt für ein postgraduales Studium an der LSE ein sehr gutes Diplom oder Vordiplom einer anderen Einrichtung. Für das Law Department gilt folgende Anforderung:

„The LLM programme is open to applicants who have an undergraduate degree in law and places are normally only offered to applicants with very good grades in their law studies (for example, a first or very high upper second in the UK LLB), and who rank amongst the best graduates of their law schools. Applicants with a very good degree in another discipline together with very good grades in an appropriate graduate diploma in law (such as the UK’s Graduate Diploma in Law) may apply also qualify for a place. The LLM selectors must choose from a large pool of well-qualified candidates. In evaluating applications, the selectors take into consideration the applicant’s grades and class rank, letters of reference, the coherence of the applicant’s proposed programme of study, and any significant professional accomplishments.“

Nötig ist also mindestens ein sehr gutes Vordiplom in Rechtswissenschaften – oder ein sehr guter Abschluss in einem anderen Fach in Verbindung mit einem sehr guten Bachelorabschluss in Recht, etwa dem britischen LLB. Beides trifft auf Baerbock nicht zu.

Auf der Seite der LSE findet sich der ganz allgemeine Hinweis an deutsche Bewerber, was die Voraussetzungen angeht:

„Germany: Diplom, Staatsexamen or Magister with good grades. We will consider you if you have taken the Vordiplom or other intermediate qualification, provided that you have also taken a third year (at least two semesters) of substantive study beyond this point.“

Ein rechtswissenschaftlicher Master-Studiengang steht also eigentlich nur Bewerbern offen, die schon über einen Abschluss in Recht verfügen – wobei die Webseite der LSE auch darauf hinweist, dass Referenzen und andere berufliche Abschlüsse ebenfalls in die Bewertung einbezogen werden können. Ganz allgemein kann auch ein Vordiplom aus Deutschland als Voraussetzung anerkannt werden – allerdings, jedenfalls nach den jetzt geltenden Regeln, aber offensichtlich gerade nicht im Laws Department. Zu dem Vordiplom muss jedenfalls noch mindestens der Nachweis von zwei weiteren Semestern kommen. Die widerwillig gelieferten Angaben von Baerbocks Sprecher lassen aber offen, was sie nach dem Vordiplom machte.

Auf der Seite der LSE heißt es über den Abschluss eines Master-Kurses auch:

„The taught courses are assessed generally by written examination, held during the Summer Term in May/June. Some courses are assessed by extended essay, submitted in May. Dissertations are submitted in August.“

TE und Publico fragten Baerbock nach ihrer Abschlussarbeit in London: zum einen, zu welchem Thema sie die Arbeit verfasst hatte, zum anderen, wo sie hinterlegt ist. Der Sprecher der Grünen beantwortete die Frage bis jetzt nicht. Auch die LSE äußerte sich auf eine entsprechende Anfrage nicht. Auch nicht zu der Frage, welche Ausnahmen es erlaubten, dass Baerbock damals ein postgraduales Studium in internationalem Recht aufnehmen konnte, ohne über einen Abschluss in Recht zu verfügen, oder überhaupt jemals Recht studiert zu haben.

An der Freien Universität Berlin versuchte Baerbock später noch, ab 2009 in Völkerrecht zu promovieren – also ohne Diplom und mit einem postgradualen Abschluss in der Tasche, den sie unter bis jetzt nicht ganz geklärten Bedingungen erhielt. Ihre Dissertation zum Thema „Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe im Völkerrecht“ brach sie ab, obwohl sie damit, wie sie 2013 bei ihrem Bundestagseinzug erklärte, „in den letzten Zügen“ gelegen habe.

In der Liste der prominenten Alumni der LSE findet sich Annalena Baerbock übrigens bis jetzt nicht – obwohl auf deren Webseite eine eigene Sektion berühmter Absolventinnen dazugehört, die die ersten auf einem bestimmten Gebiet waren. Die deutsche Grünen-Politikerin ist sowohl die erste Kanzlerkandidatin der Grünen, als auch die erste LSE-Absolventin, die sich für dieses Spitzenamt bewirbt, eigentlich wäre sie für diese Reihe prädestiniert.

Vielleicht lässt sich mit dieser Ausnahme-Studentin nicht so gut werben, die sich anschickt, Deutschland zu regieren – sich aber schon erstaunlich schwer damit tut, ihren akademischen Lebenslauf halbwegs widerspruchsfrei zu erklären.

Offenbar rechnete sie nicht damit, dass überhaupt jemand nachfragt.

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