Tichys Einblick
DIE MISERE DER FDP

Angst essen (liberale) Seele auf

Millionen Wähler sehnen sich nach einer politischen Alternative. Selten wurde eine Partei der Freiheit und der Vernunft, die für Marktwirtschaft und deutsche Interessen steht, so sehr gebraucht wie heute. Die FDP aber versagt wegen Mutlosigkeit, Kleinmütigkeit und Bequemlichkeit.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Das Scheitern der FDP hat eine historische Dimension. Es geht nicht um die Misere einer kleinen Partei mit ehrenwerter Geschichte, die in diesen Zeiten der digitalen Revolution und Demokratiekrise wie so viele andere Parteien des 20. Jahrhunderts in Europa zunehmend marginalisiert wird. Die Tragik des Niedergangs der FDP liegt darin begründet, dass selten zuvor eine starke liberale Partei so wichtig gewesen wäre wie heute.

Die FDP hatte nach der Bundestagswahl 2017, bei der sie mit 10,7 Prozent fast triumphal den Wiedereinzug in den Bundestag schaffte, die einmalige Chance, einen Zipfel des Mantels der Geschichte zu ergreifen. Diese Option lag nicht in den Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU und Grünen, sondern im Abbruch dieser Gespräche. Denn in einer Jamaika-Koalition wären liberale Positionen, zum Beispiel bei Klima, Wirtschaft, Bildung oder Migration, kaum erkennbar gewesen.

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Das in der Öffentlichkeit wirklich deutlich zu machen, hat FDP-Chef Christian Lindner mit seinen gestelzten, wachsweichen Erklärungen versäumt. Er wollte sichtlich weder Kanzlerin Angela Merkel noch die Parteien offen und inhaltlich begründet attackieren. Diese befremdliche Vornehmheit – die möglicherweise mit den sozialen Mechanismen im Berliner Mikrokosmos zu tun hat – sollte folgenschwer sein. Statt beim Abbruch der Verhandlungen trotzig und selbstbewusst die liberale Fahne zu hissen, wurde sie leise eingezogen, die Liberalen setzten sich still auf die Oppositionsbank.

Lindners leiser Rückzug wurde zum Menetekel der folgenden Jahre. Natürlich gab es Liberale, die fast jeden Preis für eine Machtbeteiligung akzeptiert hätten und deshalb den Verzicht auf eine schwarz-gelb-grüne Koalition kritisierten. Übersehen wurde aber, wie viele Bürger erleichtert waren, dass die FDP eben nicht um der Macht willen klein beigegeben hatte, und welche ungeheueren Chancen sich nun der Partei boten. Die FDP hätte das Sammelbecken für Millionen liberal und konservativ gesinnter Bürger werden können, die sich angesichts der Politik von Angela Merkel in wachsendem Maße weder in den Unionsparteien noch gar in anderen Parteien mehr wiederfanden.

Die Liberalen hätten einer Politik der Emotionen Vernunft und Augenmaß entgegensetzen können

Die aktuelle, die Menschen verunsichernde Politik stärkte im vergangenen Jahrzehnt häufig sogenannte „Populisten“ und spülte zunehmend politische Außenseiter an die Macht, so in Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich und in den USA. Manche stockseriös wie Frankreichs Emmanuel Macron – andere unkonventionell und irritierend wie Italiens Beppe Grillo von der Fünf-Sterne-Bewegung. Dem Erfolg aller Populisten und Außenseiter ist aber eines gemein: Sie nutzen in ihren Ländern das tiefe Unbehagen von Millionen Bürgern an einer sich rasant verändernden, globalisierten und digitalisierten Welt, die mit einem dramatischen Kulturwandel einhergeht.

Die FDP hatte die einmalige Chance, eine wirkliche, seriöse und rationale Alternative für Deutschland zu werden. Sie hätte in einer polarisierten Gesellschaft, in der das politische Koordinatensystem zunehmend nach links verschoben wurde, das Vakuum in der politischen Mitte besetzen, den großen Unmut und den Zorn der Klugen und Leistungsträger in Deutschland aufgreifen und repräsentieren können.

Chance zur Positionierung verpasst

Die Liberalen hätten einer fragwürdigen Politik der Emotionen und der Moral, mit der die gravierenden Weichenstellungen in der Energiepolitik, der Flüchtlings- und Migrationsfrage oder der Klimapolitik begründet wurden, Nüchternheit, Vernunft und Augenmaß, die explizite Verteidigung deutscher Interessen entgegensetzen können. Damit wäre die FDP sogar für das traditionelle Klientel linker Parteien wie der Arbeiter attraktiv geworden.

Denn die Partei mit dem Namen „Alternative für Deutschland“ ist trotz ihrer Wahlerfolge und manch akzeptabler Sichtweisen für Millionen Menschen unwählbar. Allein schon die Sprache eines Björn Höcke, oder die Entgleisung des einst respektierten Alexander Gauland, der die Nazi-Zeit als „Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte verharmloste, reicht für viele aus, um die AfD als einen unappetitlichen Haufen abzulehnen.

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Die AfD allerdings ist mit ein Grund, warum die FDP ein so klägliches Bild abgibt. Die liberale Partei, der Freiheit und der Aufklärung verpflichtet wie kaum eine andere, traditionell auch politische Heimat vieler Wissenschaft­ler, Intellektueller und Künstler, diese FDP fürchtete offenbar nichts mehr, als dass sie beispielsweise mit Positionen zu nationalen Interessen und kulturel­ler Identität in die rechtsradikale Ecke gedrängt werden könnte.

Da die FDP seit einigen Jahren offen­bar auch von der Sorge getrieben wird, nicht grün und nicht sozial genug, zu sehr „neoliberaler“ Interessenvertreter von „Besserverdienenden“ zu sein, hat sich die Partei lieber einer ungefähr­lichen Politik der Unkenntlichkeit ver­schrieben.

Bei den nichtssagenden Wischi-­Wa­schi­-Wahlparolen wie „Die Zukunft gestalten“, die „weltbeste Bildung für jeden“, „Für ein freies Europa mit fai­rem Wettbewerb“, „Vorfahrt für Arbeits­plätze“ oder der Forderung nach dem „digitalen Durchbruch“ ist beim besten Willen kein Alleinstellungsmerkmal erkennbar. Das alles könnte auch jeder Grüne oder Linke unterschreiben.

Die Politik der Beliebigkeit kontras­tiert deutlich die klaren Positionen, die die Partei im Grunde vertritt – auch wenn sie meist in Watte verpackt und in Grundsatzpapieren versteckt werden. Die FDP bekennt sich zwar deutlich zum Asylrecht, fordert aber auch eine Rück­kehr von Flüchtlingen nach Kriegsen­de, eine klare, an deutschen Interessen ausgerichtete Einwanderungspolitik, deutlich beschleunigte Asylverfahren und konsequente Abschiebung abge­lehnter Asylbewerber.

Die Wirklichkeit in Deutschland sieht anders aus. Auf diesem Feld herrschen fast anarchische Zustände, Milliarden Euro teure Fehlentwicklungen, politi­sche Blockaden und bürokratische Un­fähigkeit, kurz „Berliner Verhältnisse“: Nichts funktioniert, Skandalöses wird unter den Teppich gekehrt, Unüberseh­bares schöngeredet.

Schweigen statt Fehlerbenennung

Konsequent und sinnvoll wäre es, die FDP würde diese Realität, die sehr vie­le Menschen in Deutschland bedrückt, lautstark und offensiv thematisieren. Die Stimme der FDP aber ist leise und von größter Nachsicht gegenüber den Verantwortlichen geprägt. Zu den dra­matischen Gefahren von Parallelgesell­schaften für die Zukunft Deutschlands, zur Ausbreitung des politischen Islam mit all seinen Folgen für den gesell­schaftlichen Frieden, den zivilisatori­schen Umgang oder die Gleichberechtigung von Frauen unterscheiden sich die Liberalen nur wenig von den säuselnden und verdrucksten Politikern von Union und SPD.

Eher folgt die FDP den Verlockun­gen des realitätsverweigernden Zeit­geists. Da wirbt dann sogar ein liberaler Kreisverband mit einer Muslima mit Kopftuch, ein anderer schreibt politi­sche Stellungnahmen in entstellendem Gender­-Deutsch. Während Macron in Frankreich spektakulär vor dem üblen Wirken des Islamismus warnt – wobei er kurz darauf durch die Enthauptung eines liberalen Lehrers durch einen Islamisten auf schreckliche Weise bestä­tigt wird –, fühlt sich keiner der poli­tischen Granden der FDP inspiriert, ebenso nüchtern wie leidenschaftlich auf die wachsende Gefahr aufmerksam zu machen. Man könnte ja in eine frem­denfeindliche Ecke geschoben werden. Macron, aber auch Österreichs Kanzler Kurz oder die Sozialdemokraten Däne­marks sind da sehr viel mutiger.

Illiberal
Die FDP hat ein Problem mit der Pressefreiheit
Auch die FDP weiß, dass in deut­schen Redaktionen eine rotgrüne Weltsicht dominiert. Tagtäglich de­monstrieren die öffentlich­rechtlichen Sender in Nachrichtensendungen und Reportagen bis hin zu Talkshows und Unterhaltungssendungen ihren Wil­len, einerseits konservative und libera­le Positionen an den Rand zu drängen, anderseits dagegen sogenannten „fortschrittlichen“ Themen und Sichtweisen breiten Raum zu geben.

Die FDP thematisiert das kaum. Immerhin hat jedoch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki gerade ein kluges, nachdenkliches Buch über die Meinungsfreiheit vorgelegt. Darin werden überzeugend die neue „Kultur des Missverstehens“, eine aggressive „Sprachpolizei“, die Unduldsamkeit und Moralisierung in Gesellschaft und Politik, die Dynamik der sozialen Plattformen, die Gefährlichkeit der Fake News und nicht zuletzt auch der moderne „Haltungsjournalismus“ in deutschen Redaktionsstuben kritisiert: „Der gesamte freiheitliche Fortschritt, den die Werte der Aufklärung nach Europa und vor allem nach Deutschland gebracht haben, wird dadurch massiv und nachhaltig infrage gestellt.“ Aber auch Kubicki verletzt die FDP-Strategie nicht – wirklich politisch scharf angegriffen wird niemand.

Es grenzt schon fast an Feigheit, dass sich die FDP – wie natürlich auch die Unionsparteien – einer simplen Überprüfung der politischen Realitäten zumindest in den öffentlich-rechtlichen Anstalten verweigert. Jede empirische Untersuchung wird zu dem Ergebnis kommen müssen, dass nicht nur die politischen Sendungen, sondern so gut wie das gesamte Programm an einer eklatanten Einseitigkeit leidet.
Kubicki verweist auf den enormen Vertrauensverlust in die Meinungsfreiheit in Deutschland. Schließlich hatten erschreckende 71 Prozent der Bürger einer Allensbach-Erhebung 2019 zufolge Vorbehalte, frei und offen ihre Meinung zu äußern. Nicht nur da zeigt sich, dass die zentralen Werte des Liberalismus derzeit massiv gefährdet sind.

Mit Macht fordern Ideologen Einschränkungen der Freiheit des Denkens und Sprechens, mehr Vorschriften und Verbote, mehr Regulierung und Staat. Es wächst sichtlich der Widerwille gegenüber den Errungenschaften der abendländischen Kultur, der sozialen Marktwirtschaft und dem Wettbewerb, der Berechtigung deutscher Interessen, den Gedanken der Freiheit des Individuums überhaupt. Viele aktuelle Entwicklungen – nicht zuletzt in der Corona-Krise – sind eine einzige Provokation liberaler Werte.

Verteidiger der Meinungsfreiheit
Lonesome Kubicki und der schwindende Kern der FDP
Obwohl seit Jahren ein freiheitsfeindlicher Wind durchs Land weht wie selten zuvor, der Staat immer mehr Terrain in Wirtschaft und Gesellschaft beansprucht, obwohl es immer mehr Regulierungen, Restriktionen, Vorschriften und Verbote gibt, der öffentliche Schuldenberg gigantisch wächst, die Regierungspolitik das Geldeintreiben beim Bürger als Herzensangelegenheit betrachtet, obwohl nicht Vernunft und Augenmaß, sondern moralisierende, zunehmend ideologische Botschaften die Politik in Berlin dominieren, präsentiert sich die FDP auf Schmusekurs. Die Partei traut sich nicht einmal, die Linke und Teile der SPD als sozialismusgläubige Ideologen oder die Grünen als Bulldozer für eine Deindustrialisierung und einen gefährlichen Kulturwandel in Deutschland anzugreifen.

Der Lage entsprechend müsste die FDP laut und dramatisch auftreten. Tatsache ist, dass weder Kanzlerin Merkel noch die SPD, die Grünen oder die Linken oder gar die oft hysterisch und offen antidemokratisch auftretende Klimabewegung attackiert werden. Schließlich sind sie alle wesentlich für die aktuelle Politik verantwortlich, für die zunehmende Ausgrenzung unliebsamer Positionen, für wachsende Intoleranz, einen zunehmend schmalen Meinungskorridor, wenn es um Klima, EU, Flüchtlinge oder Gender geht.

Zurück zur liberalen Tradition

Würde die FDP intellektuelle Tiefe suchen – in der Tradition großer Liberaler wie Friedrich Naumann oder Ralf Dahrendorf oder gar der großen liberalen Denker wie John Stuart Mill oder Friedrich August von Hayek –, könnte sie sich eines stark unterschätzten Themas annehmen, das viele aktuelle Phänomene erklären hilft: des seit Jahrzehnten ausgetragenen Kulturkampfs im Westen, den die Linken fürs Erste – zumindest in den Medien, an den Universitäten und in der Kultur – gewonnen haben. Das hat massive Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – und eben auch auf den öffentlichen, demokratischen Diskurs.

"Fürchtet Euch nicht"
Auch im 16. Jahr der Merkel: Lasst uns Weihnachten feiern
Eine mutige FDP würde auch für die bislang eher schweigsamen Intellektuellen des Landes attraktiv. Aber die Partei traut sich ja nicht einmal, Opfern der modernen Unduldsamkeit wie Monika Maron, Hans-Georg Maaßen, Thilo Sarrazin, Henryk Broder, Norbert Bolz oder Peter Sloterdijk zumindest ein Podium zu bieten. Es scheint, die Liberalen wissen nicht, dass sich Millionen Menschen um die Zukunft der deutschen Wirtschaft, der Alltagskultur, der demokratischen und zivilisatorischen Errungenschaften sorgen – und alles andere als noch mehr Staat, noch mehr Gesetze und noch mehr Regulierungen wollen.

Vermutlich ist der aktuellen FDP-Führung nicht klar, dass sie mit ihrer Konturlosigkeit, ihrer Ängstlichkeit und Scheu vor harter Konfrontation und ihrer offensichtlichen Sehnsucht, doch noch in irgendeine Koalition eintreten zu können, eine ganz erhebliche Mitverantwortung für die aktuelle Krise der politischen Kultur in Deutschland hat.

Die Liberalen haben offensichtlich seit 2017 deutlich an Unterstützung verloren. Nun droht die FDP mit ihrer Kuschelpolitik laut Meinungsumfragen sogar in die Bedeutungslosigkeit zu versinken, selbst wenn sie 2021 wieder den Sprung in den Bundestag schaffen sollte. Für ihre lähmende Angst vor dem Zorn der Medien und des „Justemilieu“ in Berlin zahlt die FDP einen hohen Preis.

Die vergangenen Jahre hätten die Stunde der Liberalen sein können – doch der Zipfel des Mantels der Geschichte ist längst verschwunden.


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