Nicht nur Bücher, auch politische Texte haben ihre Schicksale. Dem programmatischen Beitrag von Saskia Esken, Lars Klingbeil, Richarda Lang, Omid Nouripour und Christian Lindner, erschienen in der FAZ vom 6. Dezember 2022, merkt der Leser die Schwierigkeiten an, die Stichpunktlieferung der drei Parteispitzen irgendwie zu einem Ganzen zu verschrauben.
Den Anlass des Artikels bietet der erste Jahrestag von Rot-Grün-Gelb, zum einen schaut das Autorenkollektiv zurück, zum anderen skizziert es einen Ausblick auf die drei Jahre, die noch folgen sollen. Darin besteht eine Funktion des Textes: Er erinnert die Leser daran, dass die „Fortschrittskoalition“ – so die Selbstbezeichnung – erst seit Dezember 2021 webt und wirkt, und das noch bis 2025 zu tun gedenkt. Dem einen oder anderen Beobachter ihrer Politik dürfte es ähnlich gehen wie dem Theaterbesucher Alfred Kerr, der einmal schrieb: „Als man nach einer Stunde auf die Uhr sah, waren erst zehn Minuten um.“
Die Überschrift weckt immerhin eine gewisse Neugier: „Zweifel und Kritik sind notwendig“. Woran allerdings, das machen die Autorinnen und Autoren nicht ganz klar. Denn die Parteispitzen, die einander in der FAZ unterhaken, zeigen sich nicht nur vollumfänglich zufrieden mit sich und dem Regierungswerk des letzten Jahres. Sie versprechen auch eine noch viel bessere Zukunft. Aber gemach, es gibt auch eine Auflösung.
Die eigentliche Begriffsklammer, die so oder so ähnlich mehrfach im Text auftaucht, lautet „Fortschrittskoalition“ beziehungsweise „Fortschritt“, also die Ausrichtung der Politik auf ein Fernziel, ein Telos. „Wir haben in dem Bewusstsein, dass uns ein Jahrzehnt mit großen Veränderungen bevorsteht, ein Bündnis geschmiedet, mit dem wir mehr Fortschritt wagen“, heißt es gleich am Anfang. Einige Sätze geht es dann ohne Herleitung mit einer Passage weiter, die überwiegend etwas ganz anderes sagt. „Wir wollen gemeinsam den Wandel aktiv gestalten, den sozialen Zusammenhalt stärken, Freiheit, Wohlstand und unsere natürlichen Lebensgrundlagen bewahren: So gelingt das Wagnis des Fortschritts.“ Abgesehen von der Ankündigung, einen nicht näher beschriebenen Wandel aktiv gestalten zu wollen – wie gestaltet man eigentlich passiv? – soll also Zusammenhalt gestärkt und vieles bewahrt werden. Folgerichtig wäre dann eher der Satz: ‘So gelingt das Wagnis des Konservatismus.’ An der Bewahrung von Freiheit, Wohlstand und Lebensgrundlagen hätte auch kaum jemand etwas zu kritisieren.
Da es sich beim ersten Teil um einen Rückblick handelt, erwähnen die Autoren schon früh Putins Überfall auf die Ukraine, um dann von den Folgen zu sprechen: „Und mit nicht weniger großer Sicherheit werden innenpolitische Konsequenzen sichtbar. Energieversorgung, bezahlbare Energiepreise, Geldwertstabilität: Vieles, das unsere Gesellschaft sicher wähnte, stand auf einmal in Frage.“
Bei Russlands Überfall auf die Ukraine handelt es sich ohne Zweifel um einen brutalen Angriffskrieg. Aber die Energiepreise stiegen schon vor dem Februar 2022, als ganz Mitteleuropa 2021 ein außerordentlich schlechtes Windjahr erlebte, und deshalb deutlich mehr Gas verbrannt werden musste, was die Preise nach oben trieb. Auch die Inflation zog bereits vor dem Krieg in der Ukraine an. Der Angriff verstärkte nur die Entwicklungen, die es schon vorher gab. Putin hat vieles zu verantworten. Aber ganz sicher nicht die Politik der EZB, auch nicht die Umformung der deutschen Energiewirtschaft.
Nach dieser Aufzählung von Dingen, was nun auf einmal in Frage steht, erwartet der Leser eine wie auch immer geartete Antwort der drei Koalitionäre, wie sie Energieversorgung und Geldwertstabilität sichern wollen. Die Hoffnung, sie käme am Ende noch, soll die Leser offenbar bei der Stange halten.
Politische Aufsätze bieten den Vorteil, dass sie sich so abarbeiten lassen, wie sie entstanden sind, nämlich Spiegelstrich für Spiegelstrich. Beginnen wir mit der Energiefrage. Nach dem Lob für die vollen Gasspeicher und das erste Terminal für Flüssiggas heißt es: „Neue Lieferverträge wurden geschlossen, die Strom- und Wärmeversorgung ist durch den vorübergehend verlängerten Betrieb von Kohle- und Atomkraftwerken gesichert.“ Bekanntlich soll die Stromerzeugung in den drei letzten Kernkraftwerken im April 2023 enden. Warum sie annehmen, dass die Probleme in der Strom- und Wärmeversorgung pünktlich zum 15.4. vorübergehen, teilen die Koalitionäre nicht mit. Ein paar Absätze weiter heißt es dann: „Gleichzeitig treiben wir die Energiewende und den Ausstieg aus den fossilen Energien entschieden voran.“ Und noch einige Sätze später: „Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist klimaneutral und digital.“ Es müssen also jetzt aus Versorgungssicherheitsgründen die Kernkraftwerke am Netz bleiben und noch zusätzlich Kohlemeiler im Hochbetrieb arbeiten, letzteres so, dass Energiewendedeutschland mittlerweile neben Polen in Europa zu den Ländern mit der höchsten Kohleverstromung zählt.
In einigen Monaten findet allerdings der finale Atomausstieg statt, 2030 kommt das Ende der Kohle. Nennenswerte Speicherkapazitäten existieren nicht. Dass sich der mutwillige Verzicht auf Kernkraft nicht auf die gewünschte Klimaneutralität reimt, fällt eigentlich jedem außer den vier Autoren auf. Wer liefert dann die Energie für den digitalen Zukunftswirtschaftsstandort? Der Antwortversuch lautet: „Wir haben den Ausbaupfad von Windkraft, Solarenergie und grünem Wasserstoff massiv beschleunigt.“ Sehen wir einmal von der Frage ab, wie sich ein Pfad beschleunigen lässt. Die Veröffentlichung des FAZ-Artikels fiel zeitlich fast exakt mit der ersten Dunkelflaute des Winters zusammen. An den täglichen Diagrammen dieser Tage, in denen unter der dichten Wolken- oder Hochnebeldecke fast kein Wind weht, kann jeder ablesen, welchen winzigen Beitrag Wind- und Solarenergie dann leistet. Und egal, mit welcher Geschwindigkeit der Pfad dank der Regierungspolitik im Jahr 2030 dahindüst – an trübstillen Tagen würden dann auch doppelt oder dreimal so viele Windräder und Solardächer nicht nennenswert mehr erzeugen als jetzt. Der sogenannte grüne Wasserstoff wiederum soll mit Solar- und Windstrom hergestellt werden, wobei allerdings erhebliche Umwandlungsverluste anfallen. Wenn schon fünf Regierungsparteivorsitzende ein Papier zu ihrem Woher und Wohin schreiben, hätte sich der Leser und Bürger wenigstens einen kleinen Hinweis gewünscht, einen Fingerzeig, eine versteckte Andeutung wie in Miss-Marple-Krimis, mit welchem Trick sie am Ende doch alles zur Zufriedenheit aufzulösen gedenken. Stattdessen gelten unverändert die goldenen Worte der grünen Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl: „Die Energieversorgung der Zukunft wird herausfordernder, auch spannender.“ Ganz ohne Zweifel wird sie das.
Der nächste Themenblock handelt von den Staatsfinanzen, genauer, den „nachhaltigen Staatsfinanzen“. Denn die bescheinigen sich die Koalitionäre nach der lobenden Erwähnung ihrer Preisdämpfungsmaßnahmen im Energiesektor. Den Kostenschock, schreiben die Autoren, habe der Staat – also die Bürger mit ihren Steuern – „mit insgesamt fast 300 Milliarden Euro in mehreren Schritten abgefedert“. Und: „dass wir trotz der krisenbedingt insgesamt enormen Ausgaben für die Vorgaben im Bundeshaushalt die Schuldenbremse einhalten, ist ein Schritt hin zu nachhaltigen Staatsfinanzen.“ Lassen wir dazu einen Fachmann zu Wort kommen, den Präsidenten des Bundesrechnungshofs Kay Scheller:
„In 70 Jahren Bundesrepublik hat der Bund einen Schuldenberg von 1,3 Billionen Euro angehäuft. In nur drei Jahren – 2020 bis 2022 – steigt der Berg um sagenhafte 800 Milliarden Euro auf dann über zwei Billionen Euro.” Zu dem als nachhaltig gelobten Haushalt für 2023 meint Scheller, die tatsächliche Schuldenaufnahme sei inklusive der Nebenhaushalte („Sondervermögen“) mit fast 107 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie die offiziell ausgewiesene Neuverschuldung von knapp 46 Milliarden Euro. „Die Regierung unterläuft die Schuldenbremse”, so Scheller, und „verschleiert […] die Lage.”
Den verhältnismäßig größten Platz im Ampeltext nimmt die Aufzählung aller guter Dinge ein, mit denen die Regierung die Bürger bedenkt. „Bürgergeldreform“, Wohngeld, erhöhtes BAföG, Kindergeld und Kinderzuschlag, das alles eröffne „vielen Menschen neue Chancen auf Teilhabe und Aufstieg“. Viele Erhöhungen gleichen die Inflation aus. Das Bürgergeld, das ursprünglich als Einstieg in das bedingungslose Grundeinkommen gedacht war, aber auch in seiner abgemilderten Form den Unterschied zwischen Transferbezug und besteuerter Arbeit im Niedriglohnbereich noch ein bisschen schrumpfen lässt, stellt einen Sonderfall dar: Es soll vor allem die Erinnerung an Gerhard Schröders Sozialstaatsumbau tilgen. Als maßstabsetzend in dem Text kann gelten, dass alle drei Parteispitzen – darunter eine mit bürgerlicher Benutzeroberfläche – den Begriff „Aufstieg“ offenbar nur noch im Zusammenhang mit staatlichen Alimentierungen denken kann. In dem Text, der sich mit seiner Formel „mehr Fortschritt wagen“ an Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 anzulehnen oder besser anzuschleichen versucht, kommt der Bürger ausschließlich als Objekt als staatlicher Betreuung vor. Zu Unternehmen, es soll schließlich um Zukunft beziehungsweise die Zukunftsagenda gehen, findet sich in dem Beitrag genau ein Satz: „Wir beschleunigen die Transformation und die Digitalisierung unseres Landes und unterstützen die Unternehmen in diesem Wandel.“
In der Kleinstadt, in der der Autor dieses Textes aufwuchs, gab es einen einarmigen Kriegsversehrten, der Leuten zusagen pflegte, die ihn beim Anziehen der Jacke unterstützen wollten: „Bitte helfen Sie mir nicht. Allein ist es schon schwer genug.“ In genau dieser Lage befinden sich die deutschen Unternehmen. Sie müssten verrückt sein, sich bei der Digitalisierung von einem Staat helfen zu lassen, in dessen Amtsstuben noch massenhaft Faxgeräte stehen, dessen Behörden nicht miteinander kommunizieren können, weil die IT-Systeme seit Jahren nicht zusammenpassen, und der jetzt schon ankündigt, die Umsetzung der angekündigten Wohngeldreform werde sehr, sehr schwierig, die Computerprogramme wären darauf nicht eingerichtet, und überhaupt gebe es zu wenige qualifizierte Mitarbeiter. Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass es sich bei dem Staat, der Firmen seine unegalen Hände reichen will, um den gleichen Tollpatsch handelt, der Senioren Gutscheine für Masken schickte, statt gleich die Masken selbst einzutüten. Und der die Corona-Hilfen so gestaltete, dass im Prinzip jeder für eine Firma, mit der er nichts zu tun hatte, Geld beantragen konnte, und es sogar ohne jede Kontrolle bekam wie ein Syrer aus Berlin, der dann mit der Beute nach Unbekannt retirierte. Der Hinweis auf Verantwortung von Bund und Ländern führt nicht weit, denn zum einen regieren da wie dort mehr oder weniger die gleichen Parteien, zum anderen trägt nur in seltensten Fällen eine Ebene allein die Verantwortung für diesen Verfall, der nicht Knall auf Fall stattfindet, sondern eher still und stetig wie das Rieseln in einer Sanduhr.
Wie gesagt, der im weitesten Sinn wertschöpfende Bereich des Landes kommt in dem FAZ-Text nur sehr, sehr kursorisch vor. Insofern besteht eine zarte Hoffnung, dass die Koalitionäre diesen Gesellschaftsabschnitt demnächst ganz aus den Augen verlieren. Den Umständen entsprechend wäre es das Beste, was ihm passieren kann.
Um gerecht zu sein: Es kommen tatsächlich Unternehmen vor, wenn auch staatliche, und das in einem Satz. „Mit dem Deutschlandticket“, heißt es da, „bringen wir die Modernisierung eines leistungsfähigen und modernen ÖPNV voran.“
Warum in aller Welt sollte eine höhere Subventionierung von Fahrscheinen den Nahverkehr modernisieren? Und warum muss ein Nahverkehr, der angeblich schon modern und leistungsfähig ist, überhaupt modernisiert werden? Gab es für die vier Autoren nicht wenigstens einen Redakteur, um den gröbsten Unfug zu beseitigen? Vor der Einführung des 49-Euro-Tickets hatte die Bahn erklärt, sie sehe sich außerstande, die Kapazität der Züge zu erhöhen. Im Fernverkehr – gar nicht betroffen vom Deutschlandticket und vergleichsweise noch passabel ausgestattet – sieht es so aus:
Im Netz insgesamt eher so.
Es folgt ein Abschnitt zur Migration. „Mit einem modernen und praktikablen Einwanderungsrecht werden wir dringend benötigten Fachkräften die Zuwanderung erleichtern“, heißt es dort. Dringenden Fachkräftebedarf gibt es tatsächlich. Der Präsident des deutschen Handwerks-Zentralverbands Hans Peter Wollseifer teilte kürzlich mit, dass allein in seinem Bereich etwa 250 000 Leute fehlen. Nach derzeitigem Stand scheitert die große Energie-Transformation, wie die Koalition sie plant, schon an den fehlenden Arbeitskräften, denn bei fast allem, von der Solardachmontage bis zum Heizungsaustausch, handelt es sich um körperliche Arbeit. Inhaber von Politikwissenschaftsdiplomen helfen da nicht weiter. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung am Institut für Wirtschaftsforschung Köln listete kürzlich auf, dass allein in dem energiewenderelevanten Sektor etwa 17 000 Elektrik-Fachkräfte fehlen, dazu 14 000 Handwerker in der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik-Branche, außerdem 13 600 Informatiker.
Warum es trotz des Zuzugs von mittlerweile mehr als drei Millionen Migranten seit 2015 an Arbeitskräften in einem bedrohlichen Ausmaß mangelt, vom Installateur bis zur Küchenhilfe, diese Frage stellt das Autorenquartett gar nicht erst. Im Jahr 2022 beträgt der Anteil der Nichtdeutschen an Hartz-IV- und demnächst Bürgergeldbeziehern 40 Prozent – und zwar ohne die ukrainischen Kriegsflüchtlinge. Irgendetwas muss mit Zuwanderung also nicht so funktionieren, wie es sich viele auch heute noch mitregierende Politiker dachten, die 2015 ein Jobwunder vorausgesagt hatten. Möglicherweise besteht ja ein Zusammenhang zwischen der Art der Migration, den angebotenen Transferleistungen einer- und den Steuern und Abgaben andererseits? Jedenfalls erwartet ein Leser, der nicht im unmittelbaren Wirkungskreis der schreibenden Politiker lebt, dass der Ankündigung eines modernen und praktikablen Einwanderungsrechts eine kleine Ausführung zur Vereinfachung des Steuersystems folgt und noch einiges mehr, was Deutschland aus der Sicht eines, sagen wir, jungen IT-Talents aus Singapur attraktiv machen könnte. Die Einwanderung selbst wurde ja durch das bisherige Recht eher nicht gebremst. Wichtiger als das Recht wäre also die Frage, ob es Hochqualifizierte, um die viele Länder werben, tatsächlich in einen Staat zieht, der Singles so hoch besteuert wie kein anderes Land in Europa, und der als Bonus obendrein ein löchriges Internet, eine schrottreife Bahn, immer mal wieder blockierte Straßen und Rollfelder und demnächst auch Stromabschaltungen im Südwesten bietet. Zu diesem Themenkreis verlieren unsere Autoren kein Wort. Auch nicht übrigens zu dem Punkt, wo die etwa 1,2 Millionen Migranten eigentlich untergebracht werden sollten, die Deutschland allein in diesem Jahr aufnimmt. In umgenutzten Turn- und Lagerhallen oder Zelten wie in Berlin geht es schließlich nur ein paar erste Wochen. Von den 400 000 Wohnungen, die nach der Kalkulation der Bundesregierung jährlich gebaut werden sollten, entstehen – auch wegen Arbeitskräftemangels und Kostenschubs – 2022 noch nicht einmal die Hälfte. Zumal auch fast niemand eine Abschiebung fürchten muss.
Hier verhält es sich ähnlich wie bei der Energiefrage: Die Politiker, die auf dem beschleunigten Pfad in die Agendazukunft eilen, wollen sich mit diesem Detailkram gar nicht erst befassen. „Fortschrittsperspektive“ bekommt so eine ganz konkrete Bedeutung: Das Schlüsselwort lautet „fort“. Also: nichts wie weg aus dieser unschönen Gegenwart. An einer Stelle beschreiben die Verbündeten den Telos selbst zwar nicht näher, setzen ihn aber in Beziehung zum Ganzen: „Wenn Fortschritt in der Gesellschaft angenommen werden soll, dann müssen dafür“ – nein, keine Pfade beschleunigt und Zukunftsweichen gestellt, sondern „Brücken gebaut und lagerübergreifende Perspektiven eingebunden werden“. Der Fortschritt lagerte nämlich schon irgendwo als Komplettpaket, es geht nur darum, ihn zur Gesellschaft zu schaffen, die ihn annehmen und ihm gewissermaßen nachkommen muss. Hier muss noch einmal daran erinnert werden, dass auch der FDP-Chef zu den Autoren dieser Ausführung gehört, in der die Bürgergesellschaft Knetmasse darstellt und sonst gar nichts.
Ganz zum Schluss folgt das schon in der Überschrift dramaturgisch geschickt angekündigte Gebiet von „Zweifel und Kritik“. Warum sollte eigentlich jemand überhaupt zweifeln und irgendetwas kritisieren? Nach drei Spalten Ausführungen von vier Regierungspolitikern, die sich vollumfänglich zufrieden mit ihrer Leistung zeigen und sich das Vertrauen aussprechen, kommt dieser Abschnitt dann doch ein bisschen überraschend.
„Bei diesen vielen Weichenstellungen, mit denen wir dem Fortschritt eine Richtung geben“, heißt es jedenfalls im Finale, „sind öffentlich geführte Debatten, Zweifel und Kritik nicht nur erwartbar. Sie sind in einer demokratischen Gesellschaft sogar notwendig, so prüfen wir unterschiedliche Argumente und Lösungen. Darin liegt zugleich Anstrengung und Stärke der Demokratie. Wir können uns glücklich schätzen, dass eine sehr große Mehrheit in diesem Land nicht dem Ruf von Hetze und Gewalt der radikalen Ränder folgt.“Eine Erläuterung, wie weit Zweifel und Kritik denn reichen dürfen, damit die Regierenden sie wohlwollend zur Kenntnis nehmen, fehlt bedauerlicherweise auch. Dabei wäre eine amtliche Zertifizierung von Kritik und Zweifel dringend nötig, damit die Bürger endlich Bescheid wissen, ob sie nicht doch den Rädern ungewollt zu nahe kommen.
Vor noch nicht allzu langer Zeit versuchten zumindest große Teile der Koalition, eine gesetzliche Corona-Impfpflicht durchzusetzen. Wie die Befürworter damals mit Kritikern und Zweiflern verfuhren, lässt sich in Archiven nachlesen. Die grüne Bundestagsabgeordnete Emilia Fester meinte, Impfen sei „keine Individualentscheidung“; der SPD-Parlamentarier Helge Lindh belehrte Bürger, die das nach Grundgesetzlektüre noch anders in Erinnerung hatten, die Forderung nach körperlicher Unversehrtheit offenbare ein vulgäres Freiheitsverständnis. Gesundheitsminister Karl Lauterbach erklärte Nichtgeimpfte zu Geiselnehmern. Wer an der regierungsamtlichen Falschbehauptung zweifelte, die Impfung schütze vor Weitergabe der Infektion, fand sich im Lager der Wissenschaftsfeinde und Leugner wieder.
Die grüne Familienministerin Lisa Paus verbuchte kürzlich alle Kritiker an dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz unter der Rubrik „reaktionäre & menschenverachtende Personen(-Gruppen)“.
Ihre Wortmeldung illustrierte sie mit dem lobenden Verweis auf eine ZDF-Sendung, deren Moderator Frauen, die an der Vorstellung von nur zwei biologischen Geschlechtern festhalten, als „Scheißhaufen“ bezeichnete.
Die bisher konstruktivste Kritik an der Regierung in diesem Jahr trugen 20 Wissenschaftler in der „Stuttgarter Erklärung“ vor: Die überparteiliche Initiative forderte die Bundesregierung auf, die Kernkraftwerke nicht nur bis April 2023 weiterlaufen zu lassen, sondern erst einmal unbegrenzt. Im Archiv kann sich jeder anschauen, wie zwei der Wissenschaftler vor dem Petitionsausschuss des Bundestages zwar vortragen durften, weil sie genügend Unterschriften dafür gesammelt hatten, die Koalitionsabgeordneten allerdings noch nicht einmal ein Interesse an deren Vortrag simulierten, geschweige denn, dass die auf ein Argument eingegangen wären.
Eine neue Qualität im Staatsverständnis zeigte Innenministerin Nancy Faeser dieser Tage: Auf eine entsprechende Frage im Bundestag sagte sie, sie wolle in der Bundesdisziplinarordnung die „Beweislast umkehren“; künftig solle der Bewerber oder Beamte seine Verfassungstreue nachweisen. Wenn der Staat das immer erledigen müsse, sei das oft „kompliziert“.
Zweifel hegt die Regierung also offenbar vor allem an den Regierten, die dafür selbstredend Kritik verdienen. Wer sagt denn, dass beides von unten nach oben funktionieren soll? Wenn das Grundmisstrauen einer Innenministerin schon für die eigenen Mitarbeiter gilt, dann natürlich für den gemeinen Bürger erst recht. Darin liegt ja auch eine gewisse Konsequenz: Je mehr die Regierung den Rechtsstaat abwrackt, desto weniger davon können sich künftige Putschisten unten den Nagel reißen.
Kritik soll nach dem Gesellschaftsbild, das die Parteivorsitzenden in der FAZ entwerfen, am besten nur daran vorgetragen werden, dass der Fortschritt nicht schnell genug vorwärts geht, Zweifel sollten sich am besten darauf beziehen, ob die Maßnahmen der Regierung für die Zielerfüllung auch wirklich reichen. Und man muss sagen: Ein großer Teil der Begleitmedien praktiziert das auch genau so. Zu den beliebten Fragen in der Bundespressekonferenz zählt das Muster: ‘Müssten Sie nicht bei XY mehr tun?’ Nur bei großer Distanz zum Hauptstadtmedienbetrieb fällt auf, dass Grundsatzkritik, ob nun an der Corona- , der Energie- oder der Migrationspolitik in vielen Blättern und Sendern überhaupt nicht mehr vorkommt.
Zum einjährigen Regierungsjubiläum schrieb der Herausgeber des Tagesspiegel Stephan-Andreas Casdorff: “Scholz will Lösungen – er bekommt sie. Streit über die Gasumlage zur Rettung des Gasversorgers Uniper? Abgeräumt. Streit um die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken? Abgeräumt. Streit um die Staatsfinanzen? Abgeräumt. Nicht immer geräuschlos, aber unterm Strich effektiv. Zu Harmonie kann nur das Erreichte führen. Auch der Ausblick auf 2023 lässt sich sehen.“
In einem Interview des Focus mit Olaf Scholz lauten die Fragen an den Kanzler (kleine Auswahl): „Wie viele E-Mails erreichen Sie am Tag?“ „Schalten Sie Ihr Handy nachts aus?“ „Gans oder Würstchen?“ „Wie halten Sie sich fit?“ „Welcher Bowie-Song beschreibt das erste Jahr der Ampelregierung: ‚Heroes‘ oder ‚Under Pressure‘?“
Das ARD-ZDF-Jugendformat wendet sich an sein Publikum mit der Information: „1 Jahr Ampel: das wurde für junge Leute getan.“
Zwar betonen viele Journalisten, so viel Krise wie jetzt habe es noch nie gegeben. Das mag sein. In erstaunlich vielen Leitartikeln und Interviews scheint sie trotzdem keine Rolle zu spielen. Die kleine Presseschau, die noch lange und unmunter so fortgesetzt werden könnte, erklärt zum einen, warum Texte wie der von Esken, Klingbeil, Lindner, Lang und Nouripour in der FAZ überhaupt entstehen können. Aber auch, woher die überfallartige Erwähnung von Zweifel und Kritik rührt: Gewiss, die Kritik der Regierung gilt erst einmal und zuvorderst Ihren Bürgern, die sie wahlweise als Virenträger, CO2-Emittent, Zuwendungsempfänger oder unwilligen Steuerzahler wahrnimmt. Aber ein kleines Quentchen wünschen sich die Koalitionäre gerade in der Adventszeit offenbar auch für sich.
Sonst sterben sie noch vor Bräsigkeit, bevor die Legislatur herum ist.