Tichys Einblick
Das Volk ist den Herrschenden egal

Ampel-Politik: Konsequent gegen die Mehrheit

Noch nie regierte eine Koalition so beharrlich an den Wünschen der Bürger vorbei. Die Frage, warum besonders die AfD davon profitiert, kommt erst an zweiter Stelle. Das zentrale Problem besteht in der Unbelehrbarkeit der Akteure in Berlin

IMAGO / photothek

Als sich am Sonntag die politisch-medialen Betriebsvertreter bei „Anne Will“ trafen, um die Lage im Land zu besprechen, gingen die Befunde fast aller Teilnehmer in die gleiche Richtung. Robert Habecks Heizgesetz, befand etwa die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge, sei „sehr pragmatisch“ und „sozial ausgewogen“.

Nur hätten die Bürger das eben noch nicht hinreichend verstanden: „Das sind alles Details, die wir in der lauten Debatte nicht mehr mit den Menschen besprechen konnten.“ Der Soziologe Steffen Mau meinte, dass „die Leute irgendwie abgeholt werden müssen“, und verkündete gleich noch eine frohe Botschaft: „Die Gesellschaft ist nicht gespalten. Das zeigen Studien.“ Eine Journalistin, die eine gewisse Branchenbekanntheit wegen ihres einfühlsamen Habeck-Porträts in der ZEIT genießt, warf Unionschef Friedrich Merz vor, mit einem „Kulturkampf“ nach dem Vorbild von Donald Trump den Aufstieg der AfD zu fördern. Zusammengefasst: Eine Mehrheit lehnt das Heizgesetz aus Ignoranz ab, aber das werde sich schon geben, wenn Koalitionspolitiker vereint auf „die Menschen“ (Dröge) einreden. Bei den störrischen Bürgern handelt es sich zweitens um eine Art Speditionsgut, das „abgeholt“ und zu einem von einer Partei vorbestimmten Ziel „mitgenommen“ gehört. Zum dritten: steigt die Zustimmung zu einer Oppositionspartei, dann liegt das nicht etwa an der Regierung – sondern an einer anderen Oppositionskraft.
Angesicht dieser Weltdeutung lohnt sich ein Blick auf die Umfragen der letzten Wochen und Monate. Sie zeigen: in allen Themen, die entweder die Ampel insgesamt oder die Partei der Grünen für relevant erklärt, stehen sie jeweils gegen solide Mehrheiten in der Bevölkerung. Daraus scheinen sie bis jetzt nur einen Schluss zu ziehen: weiter so.

Das Volk ist den Herrschenden egal
Im RTL/ntv-Trendbarometer von Ende Mai etwa sprechen sich nur 21 Prozent der Befragten für das Heizgesetz aus, also das politische Projekt, das die Grünen für zentral im globalen Klimakampf halten. Eine sehr klare Mehrheit von 76 Prozent lehnt das Gesetzesvorhaben ab. Interessanterweise sprechen sich nicht nur 87 Prozent der Unionsanhänger dagegen aus, sondern auch 72 Prozent der SPD-Wähler – und selbst 30 Prozent der Grünen-Parteigänger. Daran, dass die neuen Heiz-Vorschriften noch vor der Sommerpause den Bundestag passieren, glauben dieser Umfrage zufolge sogar 85 Prozent nicht. Bei „Anne Will“ bekräftigte Dröge erneut, natürlich werde das Gesetz noch vor den Ferien durchs Parlament gebracht.
Laut ARD-Deutschlandtrend befürchten 67 Prozent der Befragten, durch die Vorgaben des Heizgesetzes finanziell überfordert zu werden. Nur 28 Prozent meinen, das werde bei ihnen nicht der Fall sein.

Das gleiche Bild zeigt sich in der Migrationsfrage, nur umgekehrt: hier gibt es eine deutliche Zustimmung zu einer Maßnahme, die die Bundesregierung und insbesondere Innenministerin Nancy Faeser ausdrücklich nicht will. In einer Umfrage des Instituts Civey, abgehalten vom 25. bis 28. Mai, sagten 66 Prozent, es solle „auf jeden Fall“ stärkere Kontrollen an der deutschen Grenze geben, um die illegale Migration einzudämmen. Weitere 11,8 Prozent meinten, eine restriktivere Grenzpolitik sei eher richtig. Und nur eine Minderheit von 17,2 Prozent fand, eine bessere Kontrolle sollte auf keinen Fall beziehungsweise eher nicht stattfinden.
Bei dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem vorsieht, dass schon 14jährige ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können, ergab sich in einer Civey-Umfrage – durchgeführt vom 22. Mai bis 5. Juni – ebenfalls ein klares Bild: Dort hielten 58,9 Prozent die Regelung für „eindeutig falsch“, weitere 10, 6 Prozent für „eher falsch“. Ebenfalls Civey fragte vom 28. Mai bis 5. Juni nach den Plänen der Koalition zur leichteren Einbürgerung. Ergebnis: 46,9 Prozent halten sie so wie von der Ampel geplant für „eindeutig falsch“, weitere 19,1 Prozent für „eher falsch“.
Kürzlich schlug der grüne Bundestagsabgeordnete Bruno Hönel vor, Bargeldzahlungen über 5000 Euro zu verbieten. Civey fragte vom 3. bis 5. Juni nach der Bürgermeinung dazu; 49, 9 Prozent hielten die neue grüne Verbotsidee für „eindeutig falsch“, weitere 9,9 Prozent für „eher falsch“.

Auch bei anderen Lieblingsideen, etwa der Quotierung von Wahllisten nach Geschlecht, wie die vor allem die bayerischen Grünen durchboxen wollen, oder bei der Gendersprache in Behörden – durchgesetzt von Hannovers grünem Stadtoberhaupt – sieht sich die Sonnenblumenpartei soliden Ablehnungsmehrheiten gegenüber. Und gegen den von ihr durchgesetzten endgültigen Atomausstieg zum 15. April sprachen sich in zahlreichen Umfragen zwei Drittel bis drei Viertel der Bürger aus.

Eine Klientelpartei wie die Grünen muss keine Mehrheit hinter sich bringen. Nur färbt dieses Verhalten, nur die eigenen Anhänger bei Laune zu halten, inzwischen auf die gesamte Koalition ab: Es gibt weit und breit kein Projekt, bei dem sie sich auf eine Mehrheit der Bürger stützen könnte, egal, ob in ihrer Klima- , Energie- oder Migrationspolitik. Das, was viele Bundesbürger für extrem wichtig halten – Eindämmung der Armutseinwanderung, Dämpfung der Energiekosten, Stopp der Deindustrialisierung – kommt im Programm der Ampel-Koalitionäre dagegen kaum oder überhaupt nicht vor. Interessanterweise auch nicht in den Talkshow-Fragestellungen. Statt sich zu fragen, was eine Mehrheit als dringend ansieht, und dazu Vorschläge zu machen, konzentriert sich die Ampel ganz darauf, mit verstärkter Agitation die störrischen Wähler doch noch für ihre Themen zu begeistern.
Interessant ist die Antwort auf die Frage, woher der Zustrom zur AfD stammt. Nach einer Erhebung von Forsa rekrutierten sich deren Wähler 2021 noch zu 41 Prozent aus dem Nichtwählerlager, zu 33 Prozent aus früheren Unionswählern, zu 8 Prozent aus enttäuschten Parteigängern der SPD und zu 9 Prozent aus Ex-FDP-Wählern. Ein deutlich anderes Bild zeigt sich 2023: hier kommen nur noch 32 Prozent aus dem Nichtwählerlager und 24 Prozent aus dem Reservoir der Union – aber 16 Prozent aus der SPD-Wählerschaft, 15 Prozent aus dem FDP-Lager.

Dass die Union unter Friedrich Merz zwischen 27 und 30 Prozent stagniert, obwohl die Ampel derart hartnäckig an der Bürgermehrheit vorbeiregiert, liegt zum einen am unverdauten Merkel-Erbe. Schließlich trieb die frühere Kanzlerin Deutschland 2011 in den Atomausstieg, und setzte 2015 ihre illusionäre Keine-Obergrenze-Migrationspolitik durch. Beides halten die Ampel-Parteien der Union bis heute genüsslich vor. Weder Friedrich Merz noch Markus Söder besitzen die Kraft, diese Entscheidungen heute klar für falsch zu erklären. Zum zweiten spekuliert Merz offenbar noch immer auf einen Regierungswechsel zu Schwarz-Grün bei der nächsten Bundestagswahl. Gegenüber der Habeck-Partei zeigt er sich entsprechend gehemmt in der Attacke. Während der Graichen-Affäre wirkte er eher wie ein Beobachter, kaum wie ein angriffslustiger Oppositionschef. Dass unter diesen Bedingungen unzufriedene Wähler die AfD auf einen Höchststand von 19 Prozent führen, verwundert deshalb kaum. Der zentrale Grund dafür liegt in der Überzeugung der Berliner Koalitionäre, die könnten beim Regieren auf Mehrheiten verzichten. Beziehungsweise, sie müssten ihre Projekte den begriffsstutzigen Menschen draußen im Land einfach nur noch ein fünftes und sechstes Mal im Talkshow-Studio erklären. Das lässt nur einen Schluss zu: sie wollen es nicht anders.

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