Alexander van der Bellen ist – entsprechend der österreichischen Verfassung – ein vom Volk direkt gewählter Bundespräsident. Dieser Tatsache wurde er gestern abend in einer Kurzansprache an dieses Volk überzeugend gerecht. Mit seiner Haltung in der österreichischen Regierungskrise beweist der langjährige Politiker der Grünen als Bundespräsident, dass er über den Parteien steht.
Van der Bellen spach in einer Nachrichtensendung des ORF. Seitdem ist Van der Bellen endgültig Bundespräsident aller Österreicher. Dem parteiischen ORF-Mann stand die Enttäuschung im Gesicht, dass der Bundespräsident sich nicht gegen Kurz einreihte.
Die Tageszeitung Die Presse gibt die Kurzansprache zutreffend wieder:
»„Selten wurde so intensiv und emotional über Politik diskutiert“, leitete er seine Ansprache ein. „Mein Gott, das ist ja alles furchtbar, und ich verstehe nicht, was da abläuft“, würden sich viele Menschen denken. Aus dem Grund wende er sich direkt an die Österreicher, sagte Van der Bellen.
Seine Worte richteten sich aber vielmehr an die Politiker des Landes. Die Botschaft, die das Staatsoberhaupt in Hinblick auf das Ibiza-Video der mittlerweile abgetretenen FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus übermittelte: „So sind wir nicht, so ist Österreich nicht.“ Nachsatz: „Aber das müssen wir beweisen.“ Den Politikern würde hier eine besondere Rolle zufallen.«
Die Tageszeitung Kurier deutet die eigentliche Adresse Van der Bellens an die Parteien in seiner Kurzansprache nicht so zurückhaltend wie Die Presse:
»Van der Bellen appelliert an die „Ruhe, Vernunft und die staatspolitische Verantwortung“. Er spricht damit vor allem der SPÖ ins Gewissen. Die Roten würden am liebsten Türkis-Blau komplett in die Wüste schicken, mitsamt Kurz und den Seinen.
Doch VdB setzt auf eine stabile Übergangsregierung bis zum Wahltermin Anfang September. Und Kurz soll sie anführen. „Alles geschieht nur zum Wohl der Republik“, macht er klar.«
Der österreichische Bundespräsident fordert die Parteien im Nationalrat wenig verklausuliert auf, einem Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht zuzustimmen, sondern die Übergangsregierung für die kurze Zeit bis zur Neuwahl im September im Amt zu lassen.
Jetzt sei nicht die Zeit für Wahlkampfreden und den Fokus auf den kurzfristigen Vorteil für Parteien. Mit seiner Kurzansprache ging der Bundespräsident der Österreicher sehr knapp an die Grenze des Erlaubten: Chapeau.
Auch der von den Oberen der Parteien der GroKo in Berlin ernannte, nicht vom Volk legitimierte, ebenfalls Bundespräsident genannte Frank-Walter Steinmeier wendet sich manchmal ans Volk. Doch er ermahnt dasselbe, genauer gesagt den unbotmäßigen Teil desselben, regelmäßig, den Parteien der GroKo samt loyaler Opposition zu folgen.
Van der Bellen ermahnt die Parteien, ans Ganze zu denken, Steinmeier ermahnt das Volk, an die Interessen der (richtigen) Parteien zu denken. Van der Bellen ist der Bundespräsident aller Österreicher. Steinmeier ist der Bundespräsident des deutschen Establishments.
Ohne den lieben Gott in Österreich überstrapazieren zu wollen, aber es hat schon viel österreichischen Witz: Die Grünen (Jetzt – Liste Pilz) stellen einen Misstrauensantrag im Nationalrat und ihr ehemaliger Abgeordneter, Alexander van der Bellen, nunmehr Bundespräsident, rät den Parteien, nicht zuzustimmen.
Felix Austria.