Aleppo fällt. So könnte man die aktuellen Nachrichten aus dem Syrischen Krieg in zwei Wörtern zusammenfassen. Russland und sein Mündel Bashar Hafiz al-Asad können einen großen Sieg einfahren. Denn mit Aleppo wird ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zu einem russischen Satellitenstaat in Nordwestsyrien erreicht. Das allerdings ist ein Ziel, das gleichzeitig einen Keil in die junge Freundschaft zwischen die Alleinherrscher Putin und Erdogan treibt.
Das syrische Armageddon
Vladimir Putin hat in den vergangenen Jahren mehr als einmal bewiesen, dass er ein Meister der Taktik ist. Zielsicher nutzt er jede noch so kleine Schwäche des Feindes aus, um mit kleinen und großen Landgewinnen sein postsowjetisches Reich zu erweitern. Als nun die nonfaktischen Politeliten Europas und Amerikas auf den für sie unerwünschten und unerwarteten Sieg des Donald Trump in den USA blickten, sich in selbst so bezeichneter „Schockstarre“ befanden und der aussortierte Präsident Barack Obama seine Abschiedstournee gab, ließ Putin im Magdeburg des syrischen Krieges, der nordwestsyrischen Metropole Aleppo/Chalap, Fakten schaffen.
Nachdem systematisch alle Infrastrukturen einschließlich der Krankenhäuser im von sunnitischen Regimegegnern gehaltenen Osten der Stadt zerbombt waren, gelang es der von iranisch gesteuerten Milizen unterstützten russisch-alawitischen Allianz, die Stadtteile der Asad-Gegner abschließend einzukreisen. Mindestens 70.000 Zivilisten sollen dem Armageddon noch entflohen sein – über 200.000 sollen in den von jeder Unterstützung abgeschnittenen Stadtteilen nach wie vor verharren.
Die russisch geführte Allianz setzt zum Sturm auf die letzten Bastionen des Widerstandes an – der Umgang mit der tschetschenischen Stadt Grosny hatte gezeigt, dass bei solchen Vernichtungsfeldzügen auf die Bevölkerung keinerlei Rücksicht genommen wird. Wie einst, als am 20. Mai 1631 der Horror einer entfesselten Soldateska über das deutsche Magdeburg kam, steht nun der syrischen Stadt der Horror der Vernichtung vor Augen. Die Stadt gehört den Siegern – das war in der Antike und im Mittelalter so und ist heute nicht anders. Man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, was den „Kollaborateuren“ wider das Regime bevorsteht. So zynisch das klingt – aber die Selbsttötung dürfte für viele erträglicher sein als der Foltertod unter den Häme der Sieger. Die Welt steht vor einer Neuauflage des bosnischen Screbrenica. Und es gilt die alte Regel aller despotischen Kriegsherren: Der Terror der Sieger bricht den Widerstand der noch nicht Besiegten. In der Antike ließ Sanerib widerstehende Städter pfählen; Alexanders Versklavung der Bewohner der phönizischen Metropole Tyros oder eben auch die Brandschatzungen des christlichen Konstantinopel und des protestantischen Magdeburgs dienten immer auch dem Zweck, den Widerstandswillen noch nicht unterworfener Gegner zu brechen.
Der russische Alawitenstaat
Die russische Allianz hat nie einen Hehl daraus gemacht, die von Asad gehaltenen und beanspruchten Gebiete ethnisch säubern zu wollen. Für sunnitische Muslime ist im künftigen Oblast Aleppo, dem einst von der französischen Mandatsmacht geschaffenen État d’Alep, kein Platz mehr. Asad und Putin haben längst vollzogen, was westliche Regierungen nach wie vor für undenkbar halten: Die Neuaufteilung im Nahen Osten.
Deshalb aber wird es auch für die syrischen Kurden der YPG, die im Nordwesten der Stadt stehen, Zufluchtsort für zahlreiche Bürger aus dem rebellischen Osten sind und sich bislang in dem Konflikt neutral verhalten haben, eng werden, sobald die russische Allianz den Rest der Stadt unter Kontrolle hat. Die YPG gilt den Asad-Truppen als Verbündeter der USA – allein schon das macht sie im Endspiel um die Macht zum Gegner. Und wie sehr sich Regimegegner auf amerikanische Solidarität verlassen können – das erleben derzeit gerade die Sunniten im Osten des Schlachtfeldes Aleppo.
Das russisch-alawitische Ziel steht fest: Die Küstenregion und das westliche Kernland des alten Syriens sollen künftig uneingeschränkt unter der Herrschaft des schiitischen Alawiten stehen. Unterstützung findet diese Allianz in den iranischen Schiiten, deren libanesische Kämpfer der „Partei Allahs“ (Hizbu’lah) die Möglichkeit sehen, einen schiitischen Keil zwischen die türkischen und die arabischen Sunniten zu treiben.
Erdogans Desaster
Das wiederum ruft einmal mehr den türkischen Despoten Erdogan auf den Plan. Der hatte angesichts seines Ziel, die Verbindung zur NATO durch eine sunnitische Militärallianz zu ersetzen (TE berichtete darüber), zwar jüngst sein angespanntes Verhältnis zu Russlands Putin entspannt – Hintergrund war auch die gemeinsame Perspektive, russisches Erdgas durch die Türkei nach Westen zu leiten – doch in der klassischen Unberechenbarkeit des Türken unterstrich er angesichts des bevorstehenden Falls von Aleppo sein ursprüngliches Ziel, den schiitisch-alawitischen Asad aus Damaskus zu vertreiben.
Das könnte spätestens dann erfolgen, wenn die NATO – wie hier bei TE bereits seit über einem Jahr gefordert – ihren Luftwaffenstützpunkt aus dem Land des unsicheren Kantonisten verlagert. So denkt die Bundeswehr seit jüngstem darüber nach, Ausweichquartier beispielsweise in Jordanien zu finden. Ob ein Donald Trump sich von einem Haselnussproduzenten auf der Nase herumtanzen lassen wird, darf ebenfalls angezweifelt werden.
Schlimmer jedoch stellt sich das türkische Desaster im Süden dar. Erdogan, der darauf abzielte, im Norden Syriens Einflusszonen und Geländegewinne zu verbuchen, blieb beim Kampf um die IS-Hochburgen Mosul und Raqa ungefragt und unbeteiligt. Das vor seiner Haustür liegende Aleppo fällt derzeit an seine Glaubensgegner der Schia. Die ihm verhassten Kurden weichen nicht und halten den durch innere Säuberungen verunsicherten türkischen Invasionstruppen stand – ebenso wie die Islamfundamentalisten vom IS, mittlerweile zu Erdogan-Gegnern mutiert, die Gefangennahme von türkischen Soldaten in al Dana, direkt an der türkischen Grenze, feiern.
Das sa‘udische Dilemma
Mit Erdogan stehen auch die islamfundamentalistischen Wahabiten der Sa’ud im Dilemma. Ihr bislang wenig erfolgreicher Feldzug gegen die Schiiten im Yemen bindet Kräfte und offenbart die militärtaktische Unfähigkeit der hochgerüsteten Araber. Die von ihnen unterstützten Sunnitenmilizen in Syrien stehen vor der Niederlage. Und im Kampf der US-irakischen Allianz gegen den von sa‘udischen „Privatleuten“ unterstützten Islamischen Staat spielen sie ebenfalls keine Rolle.
Den Arabern geht dank der weltweiten Überproduktion an Erdöl das Geld aus – und so waren sie nun sogar bereit, sich mit dem schiitischen Erzfeind Iran über die OPEC an einen Tisch zu setzen und eine Drosselung der Fördermenge zu beschließen. Der Effekt dieser Einigung allerdings ist mehr als fraglich. Der Niedergang der Ölpreise hatte maßgeblich zwei Ursachen: Russland fuhr in den vergangenen Jahrzehnten die Produktion seiner mittlerweile wichtigsten Einnahmequelle beständig hoch und überflügelte sogar die Produktionsmenge der Sa’ud. Die USA konnten sich dank Fracking vom Weltmarkt weitgehend abkoppeln und werden diese Produktion kurzfristig wieder hochfahren, sobald der Ölpreis dieses erneut rentabel macht.
Ölländer wie Russland und das kurz vor einem Bürgerkrieg stehende, von den Sozialisten Chavez und Maduro herabgewirtschaftete Venezuela werden angesichts ihrer knappen Kassen kaum bereit sein, die eigene Ölförderung zu drosseln. So reagierten die Börsen nach einem kurzen Zwischenhoch schnell und passten ihre Erwartungen vorsichtig mit Kursrückgängen an.
Wie geht es weiter?
Russland – daran besteht kein Zweifel – wird seine neue Provinz in Syrien nicht aufgeben. Putin hat in einer Rede in Moskau scheinbar den USA des Donald Trump die Hand gereicht – zumindest mittelfristig aber wird Trump nicht akzeptieren, das wirtschaftlich marode Russenreich als gleichwertigen Partner zu akzeptieren. Bis dahin allerdings könnte Putin in seiner bisherigen Vorgehensweise weitere Überraschungsaktionen starten – auf der besetzten Krim wurde jüngst deutlich aufgerüstet, um auf „ukrainische Provokationen“ schnell reagieren zu können. Die Landverbindung zwischen den russisch besetzten Gebieten in der Ostukraine und der Krim – gegebenenfalls bis hin nach Odessa – steht in Russland nach wie vor auf der Agenda.
Auch die erneute Annektion des Baltikums ist in Moskau nicht abgehakt. Doch würde diese – auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass die NATO sie im Ernstfall bei einem Überraschungsangriff nicht würde verhindern können – den Konflikt mit den USA unvermeidbar machen. Solange Putin davon ausgeht, seine Ziele ohne eine solche Provokation beispielsweise über Cyberkrieg gegen die westliche Infrastruktur – wie jüngst einmal mehr beim Angriff auf die Telekom-Router von „Unbekannt“ dokumentiert – oder durch propagandistisches Einwirken bei den Wahlen in den Demokratien erreichen zu können, wird er die unmittelbare Konfrontation mit der NATO nicht riskieren.
Die Türkei befindet sich derzeit im Strudel von Bürgerkrieg und Wirtschaftszusammenbruch. Dem irrationalen Muslimbruder Erdogan ist in einer solchen Situation, die ihn unmittelbar bedrohen wird, alles zuzutrauen. Das akute Risiko, im Irak und in Syrien militärisch wie diplomatisch zu versagen und damit vor der islamischen Welt sein Gesicht zu verlieren, lässt irrationale Aktionen nicht ausschließen. Zwar ist kaum damit zu rechnen, dass er tatsächlich militärisch gegen die Verbündeten der Russen vorgeht, doch er könnte versucht sein, seinen Kampf gegen die US-Verbündeten der Kurden zu intensivieren oder auch als „Schutzauftrag“ für verfolgte Sunniten größere Areale in Syrien besetzen zu wollen. Das zu befürchtende Massaker an den Asad-Gegnern in Aleppo würde ihm dafür treffliche Argumente liefern und könnte tatsächlich die Gefahr einer erneuten Konfrontation mit den Russen erheblich erhöhen.
Der Westen – ich wiederhole dieses nun schon fast gebetsmühlenartig – ist dringend gefordert, eine eigene Nahost-Strategie zu entwickeln. Und dazu gehört zwingend auch der Abschied von der Ordnung der Herren Sykes und Picot, die vor genau 100 Jahren die Grenzen im ehemaligen Osmanischen Reich fest- und damit den Grundstein für zahlreiche Konflikte der Gegenwart legten.