In der CDU ist, so liest man allerorten, ein „Machtkampf“ entbrannt. Der Begriff „Kampf“ mag zur Beschreibung von Personalfragen in der merkelistischen CDU allzu martialisch sein. Wirklich kämpfen, also etwas riskieren, will in dieser Partei nach 19 Jahren Merkel-Opportunismus kaum jemand mehr. Aber es stimmt schon, es brodelt. Das bestätigt jeder in der CDU, den man danach fragt. Alles andere wäre nach dem jüngsten Wahlergebnis in Thüringen und angesichts der ungenierten Bereitschaft von Landes- und Bundespolitikern, mit der Nachfolgepartei der SED zusammenzuarbeiten, auch mehr als seltsam.
Andererseits sollten sich all jene, die sich nun auf das Spektakel einer stürzenden Kanzlerin und einer ultimativen Schlacht ums Kanzleramt freuen, an den Sommer des vergangenen Jahres erinnern.
Also gingen Seehofer und Söder als böse Buben aus dem Koalitionsstreitsommer hervor, die sich beide, als sie das realisierten, schnell als reumütige Gefolgsleute ganz und gar der Siegerin im Kanzleramt unterordneten. Hat man nach der Thüringen-Wahl ein kritisches Wort von beiden vernommen? Man muss sich, das war die eigentliche Lehre des Sommers 2018, die Berufspolitiker der Union (und wohl aller anderen Parteien auch) als Auslese von Menschen vorstellen, die sich mehrheitlich besonders durch größte annehmbare Feigheit auszeichnen. Nur so ist die anhaltende Regentschaft Angela Merkels zumindest seit 2015 nachvollziehbar.
Wie schon seit dem Herbst 2015 angesichts des Regierungsversagens vor der Herausforderung der Massenmigration jeder Versuch eines fraktionsinternen Widerstands, geschweige denn des eigentlich jederzeit möglichen Sturzes der Kanzlerin kaum im Ansatz erkennbar war, so könnte auch nach der thüringischen Wahlniederlage (die wievielte war es eigentlich? Nach so vielen hat man aufgehört zu zählen) die Merkel-Ära noch länger dauern, als man es in anderen Ländern und im vormerkelschen Deutschland für möglich halten würde.
Ein Szenario für Merkels Abgang
Ein mit dem real existierenden Merkelismus seit mehreren Legislaturperioden erfahrenes Mitglied des deutschen Bundestags könnte sich für Merkels Abgang aus dem Kanzleramt und ihre Nachfolge folgendes Szenario vorstellen: Sie wird in absehbarer Zeit aus gesundheitlichen Gründen freiwillig ihren Rückzug verkünden. Nach den Zitterattacken der jüngeren Vergangenheit dürfte das glaubhaft erscheinen. AKK wird dann geschäftsführend dem Kabinett vorsitzen. Aber nicht dauerhaft und als Kanzlerkandidatin für die Wahlen 2021. Dazu war ihre Performance in jüngster Zeit zu schwach. Sie wurde von Merkel gewogen – und für zu leicht befunden. Der neue, eigentliche Wunschkandidat der Kanzlerin für ihre Nachfolge ist möglicherweise Armin Laschet. In seiner offenbar grenzenlosen Bereitschaft zur Aufgabe christdemokratischen Tafelsilbers ist er der Kanzlerin ganz nahe. Eine Regierung Laschet würde wohl kaum eine Revision des Merkelismus einleiten – und darum auch Merkels Post-Kanzlerinnen-Leben nicht desavouieren. Eine Abrechnung würde ausbleiben, Merkel könnte in aller Ruhe zur elder stateswoman werden. Das würde ihr unter einem Kanzler Merz wohl kaum vergönnt sein.
Der Arbeitnehmerflüger (CDA) und wohl auch die Frauenunion halten (noch?) zu AKK, die Mittelstandsvereinigung der Union, der konservative Berliner Kreis stehen offen hinter Merz. Ob sich die Mehrheit der Bundestagsfraktion für Merz entschiede, ist aber fraglich. Einer Umfrage der Bildzeitung zufolge, an der bisher über 48.000 Bürger teilnahmen, halten 47 Prozent Merz für den besten Unionskandidaten, gefolgt von Söder mit 41 Prozent. Alle anderen, inklusive AKK (3 Prozent) und Laschet (4) sind völlig abgeschlagen.
Die Junge Union unter dem aufsässigen Tilmann Kuban vertritt die Forderung nach einer Urwahl ebenso offen wie die WerteUnion. Beide haben angekündigt, das Thema auch auf dem Bundesparteitag Ende November aufs Tableau zu bringen. Aber dass sie sich durchsetzen, ist eher unwahrscheinlich, glaubt ein anderer Merkel-Opponent und Merz-Anhänger in der Unionsfraktion. Nicht nur weil das Bild, das die SPD derzeit bei ihrer Urwahl einer neuen Führung abgibt, nicht gerade zur Nachahmung reizt. Vor allem die CSU werde da nicht mitmachen – selbst wenn der CDU-Parteitag dies fordert.
In der CSU zumindest ist die oberste Personalfrage ja auch geklärt. Markus Söder ist der Boss. Und wer weiß, vielleicht hoffen er selbst und andere christsoziale Jungkarrieristen ja, dass in einem Hinterzimmerverfahren Söder schließlich sogar tatsächlich zum nächsten Kanzlerkandidaten gemacht wird. Einer der erfahrensten Kungelexperten der CDU, der mittlerweile abgesägte EU-Parlamentarier Elmar Brok, hatte Söder öffentlich ins Spiel gebracht. Nach dem Motto: Wenn AKK es nicht kann, Laschet keine eindeutige Mehrheit hat und Merz zu unbequem für die Merkelisten wäre, dann kann man sich ja auf Söder einigen. Merkel hat vielleicht auch gar nichts gegen ihn, da er als geübter Politische-Positionen-Aufgeber und Grünen-Anbiederer wohl keine tiefgreifende Anti-Merkel-Kurskorrektur durchziehen würde.
Ob Merz allerdings – sollte er denn einen parteiinternen Aufstand nun wirklich wagen und gewinnen – die erhoffte Grundsatzkorrektur wirklich durchsetzen wollte und könnte, ist längst nicht sicher. Er hat in der Vergangenheit schon mehrfach im entscheidenden Augenblick, wenn Mut zum Risiko und kaltblütige Standfestigkeit erforderlich schienen, letztlich den Rückzug angetreten. Dass ein Mann, der vor 14 Jahren seinen Posten kampflos räumte und vor einem Jahr eine Abstimmung um den Parteivorsitz verlor, immer noch die große Hoffnung der innerparteilichen Erneuerung sein soll, offenbart den ganzen Jammer der CDU: Sie ist personell ebenso ausgebrannt wie programmatisch.