Der alte und neue AfD-Parteichef Tino Chrupalla machte aus seiner Abneigung gegen den früheren und mittlerweile ausgetretenen Co-Parteivorsitzenden Jörg Meuthen nie einen Hehl. Auf dem Parteitag in Riesa dürfte er ihm allerdings im Stillen gedankt haben – wahrscheinlich zum ersten Mal. In der Fragerunde vor der Vorsitzenden-Kür prasselte Kritik auf Chrupalla ein: Wer trägt die Verantwortung für das schlechte Abschneiden bei den vergangenen Landtagswahlen? Und dafür, dass die AfD selbst bei den Kommunalwahlen in Sachsen deutlich unter ihren Erwartungen geblieben war, ihrem Stammland und Chrupallas Heimat? Warum leidet die Partei unter Mitgliederschwund und Geldmangel?
Der Vorsitzende konnte ausgiebig auf die Verantwortung des früheren Chefs Meuthen verweisen, der früher im Bundesvorstand zumindest eine Zeit lang die Mehrheit besessen hatte. Die Frage nach dem mäßigen Sachsen-Ergebnis schüttelte er mit der Bemerkung ab, dort wären eben die falschen Kandidaten angetreten. Als es zur Abstimmung kam, schaffte Chrupalla die Wiederwahl sehr knapp – mit gerade 53,45 Prozent.
Wesentlich besser setzte sich der andere Teil der Führung durch, Alice Weidel, die 67 Prozent der Delegiertenstimmen holte. Allerdings wollte sie eigentlich gar nicht wieder an die Spitze treten. Sie hatte nach ihren eigenen Worten vor dem Parteitag dafür geworben, die Doppelspitze abzuschaffen, und plante, nur noch für den Vizeposten anzutreten. Sie sei eben, so Weidel, „Anhängerin einer ungeteilten Verantwortung“.
Dann votierte die Delegiertenmehrheit in Riesa doch für das Modell Doppelspitze, ließ allerdings für die Zukunft die Möglichkeit einer Einzelführung offen. Im Ergebnis steht jetzt ein Vorsitzender an der Spitze, der sich nur knapp behaupten konnte – und eine Vorsitzende, die es eigentlich gar nicht sein wollte. Der Vorsitzenden-Kandidat der Parteimitte Norbert Kleinwächter scheiterte mit 36 Prozent. Wegen Unstimmigkeiten in der Listenaufstellung des Berliner AfD-Landesverbandes, in dem moderate Mitglieder dominieren, konnten dessen eigentlich vorgesehene 24 Delegierte in Riesa nicht abstimmen. Aber auch deren Voten hätten für einen Sieg Kleinwächters nicht gereicht.
Nach Riesa zeigen sich drei Lager in der Partei: zum einen die Moderat-Bürgerlichen um Kleinwächter, die zu Positionen neigen, die der frühere Parteichef Meuthen vertreten hatte. Zweitens das Lager Chrupalla–Weidel – wobei Chrupalla sehr stark für den Osten steht –, und schließlich die Kräfte um den thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke, der in Riesa zwar nicht selbst für die Führung antrat, aber seine Macht in zwei wichtigen Richtungsfragen vorführte.
Als es um die Frage ging, ob der weit rechtsaußen stehende Verein „Zentrum Automobil“ auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD bleiben oder davon gestrichen werden sollte, stimmte eine satte 60-Prozent-Mehrheit dafür, ihn von der Liste zu nehmen, also die Zusammenarbeit für legitim zu erklären. Der Antrag dazu stammte von dem Partei-Rechtsaußen und Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel – aber die größte Unterstützung aus Höckes Lager.
Höcke gewann diesen Streit für sich, weil er den Fall des an sich sehr kleinen Vereins zur Grundsatzfrage machte: Die AfD, argumentierte der Thüringer Landeschef, dürfe sich die Entscheidung, wo sie die Grenze zum Rechtsextremismus ziehe, nicht von außen aufdrängen lassen. Anhänger des moderaten Parteiflügels reagierten entsetzt auf die Entscheidung: „Zentrum Automobil“ wird vom Verfassungsschutz beobachtet, der Gründer gehörte früher einer Rechtsrock-Band an. Eine gewollte Nähe zu solchen Organisationen liefere dem Verfassungsschutz Argumente frei Haus und mache es noch schwerer, bürgerliche Wähler im Westen zu gewinnen, meinten die Moderaten. Auch Co-Chefin Alice Weidel hatte vehement versucht, die Streichung von „Zentrum Automobil“ von der Liste zu verhindern, war aber nicht durchgedrungen – was auch ihre Autorität ramponierte.
Eine zweite Richtungsfrage zerlegte den Parteitag am Ende fast: der erbitterte Richtungskampf um das EU-Positionspapier „Zukunft Europa“, das eine „einvernehmliche Auflösung der EU“ fordert. Damit würde sich die AfD selbst im Kreis der rechten Parteien Europas weitgehend isolieren: Marine Le Pens Rassemblement National und Matteo Salvinis Lega fordern zwar eine grundlegende Reform der EU – aber nicht deren Abriss. Chrupalla und Weidel stellten den Antrag, das Papier nicht zu verabschieden – und scheiterten abermals, wenn auch hauchdünn.
Auch den Antrag, den Parteitag zu unterbrechen und den früheren Vorsitzenden Alexander Gauland um Vermittlung zu bitten, stimmte eine Mehrheit nieder. Bei beiden Entscheidungen sorgten nach Ansicht der Beobachter Höckes Anhänger für die Mehrheiten. Jetzt soll der Bundesvorstand die Resolution sprachlich überarbeiten. Zweieinhalb Stunden stritten die Delegierten mit Geschäftsordnungsdebatten und in einem rüden Ton, der Konvent stand kurz vor dem Abbruch. Und endete dann tatsächlich vorzeitig, weil wegen des völlig aus dem Ruder gelaufenen Streits etliche andere Punkte nicht mehr behandelt werden konnten, die noch auf der Tagesordnung standen.
Nur in einem Punkt setzte sich Parteichef Chrupalla weitgehend durch: Bei der Besetzung des 14-köpfigen Parteivorstandes triumphierten weitgehend die Kandidaten seiner „Liste Zukunft“. In dem neuen Führungsgremium sitzen keine Vertreter des moderaten Parteiflügels, etwa die hessische AfD-Politikerin Joana Cotar, eine Anhängerin des unterlegenen Norbert Kleinwächter.
Auch nicht Nicolaus Fest, Leiter der AfD-Delegation in der Fraktion „Identität und Demokratie“ im Europa-Parlament. Dafür rückte neben den von Chrupalla empfohlenen Leuten auch die Rechtsaußen-Vertreterin Johanna Baum in das Führungsgremium auf.
Auf dem Höhepunkt des Machtkampfs zwischen Meuthen und den Vertretern des mittlerweile offiziell aufgelösten national-konservativen Flügels präsentierte sich der Bundesvorstand zerrissen, Abstimmungen erfolgten mit knappesten Mehrheiten, und der Richtungsstreit riss die Partei insgesamt fast auseinander. Die neue AfD-Führung gibt ein vergleichsweise homogenes Bild ab – aber um den Preis, einen Teil der Partei überhaupt nicht mehr zu repräsentieren. Außerdem dürfte es auch die neue Parteiführung kaum schaffen, den Riss zu kaschieren, der wegen des Ukraine-Kriegs quer durch die Partei geht.
Wie tief, das zeigte sich kürzlich im Abstimmungsverhalten der AfD-Bundestagsfraktion zu dem 100-Milliarden-Sondervermögen, mit dem die Bundeswehr verteidigungsfähig gemacht werden soll. Eigentlich hätten die AfD-Parlamentarier mit großer Mehrheit zustimmen müssen: Schließlich fordert die Partei seit Jahren eine bessere Ausstattung der Bundeswehr und mehr Respekt für die Truppe. Andererseits wenden sich viele AfD-Mitglieder und Wähler gegen eine deutsche Unterstützung der überfallenen Ukraine – und das 100-Milliarden-Paket gehört nun einmal zu der von Kanzler Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“.
Aber wie auch immer – die Fraktionsführung schaffte es nicht, eine einheitliche Position zu formulieren. Also stimmte eine knappe Mehrheit für das Sondervermögen, fast ebenso viele dagegen – und sechs Abgeordnete enthielten sich, darunter auch die beiden Fraktionschefs Weidel und Chrupalla. „Welcher Wähler soll das verstehen?“, schimpft ein prominenter AfD-Mann: „Wer soll das wählen?“ Den Vorwurf, in wichtigen Fragen nicht zu führen, sondern zu lavieren, erheben etliche Mitglieder gegen das alte und neue Parteiführungs-Duo.
„Der Anspruch der neuen Führung, für eine geeinte AfD zu sorgen, hat keine 24 Stunden gehalten“, meint der EU-Abgeordnete Nicolaus Fest im Gespräch mit TE. Er glaubt: „Wenn das ‚Team Zukunft‘ eine Zukunft haben will, muss es aus zwei Optionen wählen: entweder macht es sich völlig vom Höcke-Lager abhängig und erfüllt dessen Wünsche – oder es sucht sich Mehrheiten mit den Anhängern von Kleinwächter.“ Tatsächlich zeigte sich in Riesa: Aus eigener Kraft können sich Weidel und Chrupalla mit ihren Anhängern in entscheidenden Fragen nicht durchsetzen.
Der EU-Abgeordnete Maximilian Krah, der in dem neuen Vorstand sitzt, sieht das Parteitagsergebnis naturgemäß anders als Fest. Die „aus dem Ruder gelaufene Debatte um die EU-Resolution“, so Krah im Gespräch mit TE, habe zwar ein schlechtes Bild abgegeben. Aber es sei ein Vorstand gewählt worden, „der absehbar harmoniert und zeigt, was eine demokratische Rechtspartei in Deutschland bewirken kann“. Krah gehörte zu denjenigen, die in Riesa die EU-Resolution auch gegen den Widerstand der beiden Parteichefs verabschieden wollte. „Es wäre besser gewesen, den Nagel einzuschlagen“, meint der Dresdner Politiker. Er findet zwar auch, dass das Papier Formulierungen enthält, „die uns schaden können“, meint allerdings: „Der Schaden wäre geringer gewesen als der Schaden, der durch den Streit entstanden ist, und durch die Entscheidung, es dem Bundesvorstand zur Überarbeitung zu überweisen.“
Dass die AfD es in Zukunft schwerer haben könnte, ehemalige CDU-Wähler im Westen anzusprechen, hält der Bundesvorständler Krah für kein großes Problem der Partei: „Es ist ein Fehler, nur auf ein Wählermilieu zu schielen, das entweder gar nicht existiert – oder unerreichbar ist.“ Die bürgerlichen Wähler im Westen seien „noch nicht einmal die Taube auf dem Dach, sondern die Fata Morgana einer Taube auf dem Dach“. Diejenigen, die AfD wählten, egal ob in Ost oder West, glaubt der EU-Abgeordnete, wollten eben nicht die alte CDU zurück – sondern etwas grundsätzlich anderes.
Die Frage ist, ob das auf Dauer die Existenz der AfD sichert. Dass die AfD derzeit nicht besonders erfolgreich darin ist, Wähler zu überzeugen, bestreitet Krah nicht. Er meint, die Partei brauche jetzt „Ästhetik, Esprit, Identität“. Dass es ihr sowohl an zugkräftigen Kandidaten als auch an Kampagnen fehlt, demonstrierte sie gerade in Sachsen, wo sie auch in ihren Hochburgen keinen Oberbürgermeister- und keinen Landratskandidaten durchsetzen konnte. Auch einen Rollenwechsel zu einer deutschen Lega Ost würde ihr also noch nicht einmal eine regionale Existenz garantieren.
Dass eine Partei von rechts auch erfolgreich in die Mitte vorstoßen kann, zeigte am Sonntag Le Pens RN in Frankreich: Sie holte bei der Parlamentswahl 17,3 Prozent, verzehnfachte damit die Zahl ihrer Mandate und rückte zur drittstärksten Kraft im Parlament auf. Im französischen Mehrheitswahlsystem zählt dieses Ergebnis noch viel mehr als ein gleich großer Stimmenanteil in Deutschland. Damit erntet Marine Le Pen die Früchte ihres Kurses der „Entdiabolisierung“, zu dem es auch gehörte, ihren Vater aus der Partei zu werfen, die Rhetorik zu mäßigen und in zentralen Fragen, etwa der EU-Mitgliedschaft, keinen extremen Konfrontationskurs mehr zu verfolgen.
Vor allem besitzt die RN, was der AfD erkennbar fehlt: eine Figur an der Spitze mit Kampagnenfähigkeit.