Mit so einer scharfen Attacke auf den radikalen Flügel der AfD hatte niemand gerechnet – und die Folge waren eine regelrechte Schlammschlacht und wüste Beschimpfungen des Höcke-Flügels. Der Parteivorsitzende Jörg Meuthen hat eine Wut-Rede auf dem Parteitag in Kalkar gehalten. Von Krawallmachern und Provokateuren in den eigenen Reihen solle sich die AfD distanzieren. Sieben Jahre nach ihrer Gründung sei die AfD „gefährdet wie noch nie“. Die Partei sei an einem Punkt, „an dem alles kaputtgehen kann“, sagte er am Samstag.
Am Sonntag kam es dann zu einer tobenden Abrechnung auf dem Parteitag im „Wunderland“ – so heißt die Messe mit Freizeitpark in Kalkar auf dem Gelände eines stillgelegten Kernkraftwerks. Einzelne Auftritte auf dem AfD-Parteitreffen (komplett übertragen auf Phoenix) am Sonntag glichen dem Ton einer brüllenden Affenhorde. Das Höcke-Lager machte akustisch viel Rabbatz. Auf Twitter äußerten linke Nutzer, es sei „ein Genuss zuzuschauen, wie sich die AfD selbst zerfleischt“. Am Ende aber entschieden 54 Prozent der Delegierten, einen Antrag über „spalterisches Gebaren“ nicht zuzulassen. Mit dem Antrag des Freiburger Rechtsaußen Mandic wollten sich die Delegierten nicht befassen. Ein phoenix-Kommentator sprach davon, dass dieses „reinigende Gewitter“ auf dem Parteitag der AfD längerfristig nützen könne, wenn es der Klärung der Richtung diene. Meuthen hat damit wahr gemacht, was er im April 2020 in einem Interview mit TE angedeutet hat: Die Teilung der Partei in einen konservativ und einen deutliche rechteren Flügel. Was damals Vision schien könnte jetzt Realität werden.
Auch den Begriff „Corona-Diktatur“ lehnte er ab. Man könne und müsse Maßnahmen der Regierung in der Corona-Krise scharf kritisieren, sagte er vor den etwa 550 AfD-Delegierten. Die Politik von Bundeskanzlerin Merkel und CSU-Parteichef Söder sei nicht angemessen und nicht mehr verhältnismäßig. Das müsse man kritisieren. Aber dennoch lebe man in keiner Diktatur, „sonst könnten wir diesen Parteitag auch heute wohl kaum so abhalten“. Auch das Gerede über ein „Ermächtigungsgesetz“ sei eine Verharmlosung des echten Ermächtigungsgesetzes von Hitlers Barbarei.
Meuthen warb in seiner Rede am Samstag für einen vorwärtsgerichteten freiheitlichen Konservatismus, der nicht ins Gestern zurückwolle. Nur Bismarck-Schwärmerei helfe nicht weiter. Es gehe um die Gestaltung der Zukunft, des „Morgen für unsere Kinder und Enkel“. Der moderne Konservative sei „niemals reaktionär“. Er müsse vielmehr sein „Wertesystem, wichtige und elementare gesellschaftliche Tugenden wie Fleiß, Eigenverantwortung, Ehrlichkeit, Anstand, Respekt und auch Demut“ auf das Neue übertragen. An die Adresse des rechtsradikalen Flügels und von einzelnen Provokateuren gerichtet sprach er von einer „pseudomoralischen Erpressung“. Wer sich daneben benehme, dann aber die Solidarität der ganzen Partei einfordere, wolle Parteimitglieder in eine Kollektivhaftung für das eigene Fehlverhalten nehmen. Für Meuthens Rede gab es anschließend von knapp der Hälfte der Delegierten Applaus, vereinzelt aber auch Buh-Rufe. Höcke-Getreue wie der Abgeordnete Pohl riefen „Rücktritt“.
Am Sonntag geriet eine Aussprache zur Schlammschlacht. Geschrei, Pfiffe, Buhrufe waren zu hören. Höcke-Anhänger griffen Meuthen offen als „Spalter“ an. „Herr Dr. Meuthen, Ihre Zeit ist abgelaufen“, ruft ein Abgeordneter. Der betont rechte Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider bezeichnete Meuthen als „Führer ins Nichts“. Andere Parteimitglieder riefen dazu auf, sich vom extremen Rand und von der NPD abzugrenzen. Der NRW-Vorsitzende Rüdiger Lucassen stärkte Meuthen den Rücken. Der Parteichef habe das Fehlverhalten einzelner Abgeordneter angesprochen, er rufe zurecht zur Ordnung auf. „Das erwarten wir von einem Parteisprecher“, sagte Lucassen unter Beifall. Meuthen wich von seiner Kritik nicht zurück. „Ich habe eine neue Einheit in Disziplin angemahnt, wir brauchen diese Disziplin“, sagte er.
Klar ist, dass die Partei weiterhin gespalten ist. In Umfragen hält sie sich knapp zweistellig trotz interner Querelen und Angriffe von außen. Im ARD-Deutschlandtrend stieg sie von 10 auf 11 Prozent, meldete der Rundfunk vor drei Tagen. Auch INSA sieht die AfD bei 11 Prozent. Das Forsa-Institut hat am Wochenende jedoch behauptet, die Zustimmung sei von 9 auf 7 Prozent abgestürzt.
Gauland muss ins Krankenhaus
Mit seinen Worten von der „Corona-Diktatur“ zielte Meuthen indirekt auch auf den Fraktionschef Gauland, der von einer solchen gesprochen hatte. Gauland beschwerte sich nachher prompt in einem phoenix-Interview. Meuthens Rede sei zu undifferenziert und „zu spalterisch“ gewesen. Er brauche nicht „irgendwelche Zensuren von Jörg Meuthen für die Fraktionsführung“. Auch Alice Weidel, Meuthens Gegenspielerin, zeigte sich sichtlich verstimmt; ein Interview bei phoenix, in der Weidel nach einer „sozial-nationalistischen“ Richtung in der Partei gefragt wurde, brach sie in schnippischer Weise ab. Am Sonntag musste der 79-jährige Gauland nach einem Sturz den Parteitag in einem Krankenwagen verlassen. Es sei aber nichts ernstes, sagten Parteikollegen.
Inhaltlich hat der Parteitag den sozial- und rentenpolitischen Leitantrag gebilligt, der einen Kompromiss zwischen dem Rentenkonzept des rechten Flügels und den eher liberalen Vorstellungen Meuthens vorsieht. Der Wirtschaftsprofessor hatte bei der Rente auf mehr private Vorsorge, eine stärker kapitalgedeckte Rente und einer steuerfinanzierte Grundrente bei einer Abkehr vom umlagefinanzierten Rentensystem gesetzt; dagegen gab es aber viel Widerstand.
Bei den Wahlen dreimal Erfolg für Meuthen-Kandidaten
Bei den Nachwahlen für den Bundesvorstand hat sich das Meuthen-Lager dreimal durchsetzen können. Der bisherige stellvertretende Schatzmeister Carsten Hütter steigt auf zum Bundesschatzmeister. Hütter kommt aus Sachsen, ist beim „Flügel“ aber inzwischen verhasst und wird zu den Unterstützern von Meuthen gezählt. Neu im Bundesvorstand als Vize-Schatzmeister ist Christian Waldheim aus Schleswig-Holstein. Der Betriebswirt konnte sich gegen den Bundestagsabgeordneten Harald Weyel durchsetzen, der Meuthen in seiner Bewerbungsrede mit giftigen Formulierungen angriff. Weyel fiel durch.
Die wichtigste, signalträchtige Personalentscheidung war aber die Wahl von Joana Cotar. Die hessische digitalpolitische Sprecherin, eine erklärte, scharfe Gegnerin des Flügels, setzte sich im zweiten Wahlgang gegen den Sachsen Maximilian Krah durch. Krah hatte eine nach Einschätzung vieler Delegierter eher schwache Rede gehalten. Dem Rechtsanwalt und Europaabgeordneten aus Dresden schadete auch, dass kurz vor dem Parteitag ein TV-Bericht offengelegt hatte, dass er sich zu einer China-Reise von einer KP-nahen Vereinigung hatte einladen lassen. Cotar stellt klar, dass sie keine Beteiligung von Huawei beim 5G-Ausbau wünscht. Sie stellte auch klar, dass sie eine Internet- und Mobilfunk-Überwachung fürchtet. Mit einer Rede, gewürzt mit patriotischen Bekenntnissen, überzeugte sie die Delegierten.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wie sich die Gewichte im Bundesvorstand nun zugunsten von Jörg Meuthen verschoben haben. Im März und April wirkte Meuthen noch wie ein Parteivorsitzender auf Abruf, mit unglücklichen Interviewäußerungen schadete er sich. Den Rauswurf des Rechtsaußen Andreas Kalbitz, der seine frühere Mitgliedschaft im Neonazi-Verein „Heimattreue Deutsche Jugend“ verschwiegen hatte, konnte Meuthen nur mit einer knappen Vorstandsmehrheit von 7 zu 5 Stimmen bei einer Enthaltung durchsetzen. Jetzt aber steht es nach den Neuwahlen 10 zu 4 für Meuthen. Er hat damit eine klare Zwei-Drittel-Mehrheit und könnte schärfere Ordnungsmaßnahmen in der Partei durchsetzen.
Alles in allem hat der Parteichef Meuthen seine Position festigen und konsolidieren können. Sein Co-Sprecher Tino Chrupalla wirkt blass. Von echter Einheit ist die AfD weit entfernt. Der rechte Flügel sinnt jetzt wohl noch stärker auf Rache.
Beobachtung durch den Verfassungsschutz droht
In Kürze könnte als nächster Schlag die Beobachtung durch den Bundesverfassungsschutz drohen. Laut einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seien schon die ersten V-Leute von Landesämtern aktiv. Im Januar oder Februar könnte die Innenministerkonferenz darauf dringen, dass der Bundesverfassungsschutz die Partei zum „Verdachtsfall“ für Rechtsextremismus erkläre.
Meuthen will die flächendeckende Beobachtung und Stigmatisierung durch einen VS-Stempel „rechtsextrem“ vermeiden. Daher versucht er eine Brandmauer aufzuziehen, daher hat er Flügelleute wie Kalbitz und Pasemann ausschließen lassen. Das Höcke-Lager indes scheint die Beobachtung nicht zu fürchten. „Politische Bettnässer“ hatte Höcke jene genannt, die sich vor dem Eingreifen des Verfassungsschutzes sorgen.
In einem Kommentar der FAZ zeigt sich nun, dass Meuthens Strategie erfolgreich sein könnte: Der Flügel habe „dem Verfassungsschutz viel Futter für eine genauere Prüfung, vielleicht sogar Beobachtung der gesamten AfD gegeben“. „Wenn sich die Parteispitze in Form von Meuthen nun so deutlich von dem Extremen distanziert, wird der Verfassungsschutz sich mit einer rechtssicheren Grundlage schwer tun.“ Sollte Meuthen mit seinem Appell an die parteiinterne Disziplin erfolgreich sein, könnte er, ob er das beabsichtigt oder nicht, „die AfD so bedrohlich machen wie noch nie“ , so die FAZ-Kommentatorin. Radikales Gedankengut mit bürgerlichem Antlitz – das sei die große Gefahr.
Meuthen reagiert damit auch auf ein weiteres Problem: Die AfD soll koalititionsfähig sein, fordern die Wähler, wie eine INSA-Umfrage für TE ergeben hat. Im derzeitigen Zustand ist sie das nicht. 43 Prozent der AfD-Wähler wünschen sich, dass ihre Wahlpartei den Kanzler stellt, 41 Prozent möchten eine Regierungsbeteiligung. Für sie ist die AfD keine Protest- sondern eine Regierungspartei. Doch wie lange werden die Wähler einer Partei die Treue halten, für die es keine realistischen Machtoptionen gibt?
Vielleicht schrumpft sie durch Abspaltung, aber gewinnt dadurch Spielraum in die bürgerliche Mitte, die von der CDU und CSU immer weiter geräumt wird. Erst dann wird sie richtig gefährlich für die etablierten Parteien.