Tichys Einblick
Ad-hoc-Thesenpapier einer Expertengruppe

„Schwellenwerte … verfehlen die Grundlage rechtsstaatlichen Steuerungshandelns“

Eine Gruppe von zehn Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten um Matthias Schrappe sieht das geplante neue Bevölkerungsschutzgesetz der Bundesregierung als "zentralisierte Willkür". Zentralisierung sei aber "als politische Intervention weder durch Evidenz noch durch Überzeugung begründet".

IMAGO / Future Image

Eine Expertengruppe um Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, den ehemaligen Stellvertretenden Vorsitzenden des Sachverständigenrats Gesundheit, hat in einem Ad-hoc-Thesenpapier schwere Kritik an dem geplanten neuen Bevölkerungsschutzgesetz der Bundesregierung geübt. Die Überschrift lautet „Zentralisierte Willkür“.

Die Langfassung des Papiers ist hier einsehbar.
Das Resümee lautet:

„Das Gesetz verschreibt sich in dem dortigen § 28b Infektionsschutzgesetz (IfSG) einem Konzept nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPI) und favorisiert schwerpunktmäßig Kontaktbeschränkungen. Es basiert auf einem willkürlich gesetzten „Schwellenwert“ und knüpft daran einen Automatismus und eine die Länderkompetenzen begrenzende Rechtsverordnungsermächtigung. Die Schwellenwerte sind eine politische Entscheidung auf der Basis einer unsicheren und willkürlichen Setzung. Sie verfehlen die Grundlage rechtsstaatlichen Steuerungshandelns.

Die Verknüpfung der Automatik unterschiedlicher Interventionen (Eingriffe in Grundrechte) in § 28b Abs. 1 IfSG-E mit dem einheitlichen Schwellenwert verletzt das Verhältnismäßigkeitsgebot, das eine differenzierte Begründung für jeden einzelnen Eingriff erfordert. Das Gebot der spezifischen Begründung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen ist während der Pandemiezeit durch die Rechtsprechung des BVerfG und mehrerer anderer Verfassungs- und Oberverwaltungsgerichte bestätigt worden. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat maßnahmenspezifisch zu erfolgen; grundrechtsspezifische Angemessenheitsanforderungen sind zu beachten. Die Voraussetzungen der gesetzlichen automatisierten Interventionen sind durch die Steuerung der Testung beeinflussbar; ebenso die Rechtsverordnungsermächtigungen.

Das Gesetz schließt Differenzierung als Konzept der Pandemiebekämpfung aus.
Der Automatismus der Anordnung von „Maßnahmen“ durch Gesetz erschwert eine justizielle Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen und ermöglicht allein ein Normenkontrollverfahren oder (begrenzt) Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG. Die unverzichtbare verwaltungsgerichtliche Kontrolle allein ermöglicht die differenzierende Abwägung zwischen Grundrechten des Schutzes und des Eingriffs im Einzelfall.

Das Gesetz desavouiert politisch den Föderalismus ohne Not durch krisenhaft begründete Zentralisierung. Zentralisierung ist als politische Intervention weder durch Evidenz noch durch Überzeugung begründet.

Die Pandemie sollte nicht der Ausgangspunkt für staatsorganisatorische Interventionen/Veränderungen sein. Der Gedanke an eine neue Notstandsverfassung im Gesundheitsbereich drängt sich auf.“

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