Tichys Einblick
Nichts ist in Stein gehauen

Abschied vom Gestern – Nachdenken über Europa

Ein kühler Blick auf den Zustand der EU muss zu dem Ergebnis führen, dass der Traum eines einigen und gemeinsam handelnden Europa längst zur tragischen Illusion geworden ist.

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„In der Außenpolitik geht es nicht um das Pflegen von Freundschaften, sondern um das meist temporäre Wahrnehmen gemeinsamer Interessen; die zudem immer wieder der Überprüfung und der Vergewisserung ihrer Belastbarkeit bedürfen.“
Diese Definition Henry Kissingers, eines der größten amerikanischen Diplomaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sollte über dem Portal jedes Außenministeriums der Welt in Stein gehauen sein.

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Jeder Diplomat oder Besucher würde damit gemahnt, sich immer wieder der Position und den Interessen des eigenen Landes bewusst zu sein. Ist man das nicht, könnte man auf dem glatten Parkett des Weltgeschehens schnell ins Straucheln kommen. All das setzt natürlich die Analyse aktueller Entwicklungen und Verschiebungen einzelner Machtfaktoren und Interessen mit Einfluss auf das eigene Schicksal voraus. Besonders in Zeiten geschichtlicher Umbrüche geraten für ewig gehaltene Gewissheiten ins Wanken. Nichts ist dann gefährlicher als das bequeme Festhalten am Status Quo von gestern, anstatt sich den neuen Realitäten zu stellen.

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zum Ausgang des 20. Jahrhunderts entfielen mit der kommunistischen Bedrohung zugleich auch die Notwendigkeit des Zusammenhaltes der Europäischen Union und auch der NATO. Das neue Russland stellt ungeachtet mancher völkerrechtlicher Flegeleien und seiner anhaltenden Fremdheit verglichen mit dem durch die Aufklärung geprägten Westen keine ideologisch-missionarische Gefahr mehr dar. Niemand kann ernsthaft glauben, dass Putin von glanzvollen Siegesparaden „Unter den Linden“ oder auf den „Champs-Elysées“ träumt. Allein der marode Zustand seines Landes verbietet jederlei Aktivitäten dieser Art. Das bedeutet aber nicht, dass Moskau keine Interessen hat. Nur müssen diese den europäischen Befindlichkeiten nicht grundlegend entgegenstehen. Ein kühler Blick auf den Zustand der EU muss zu dem Ergebnis führen, dass der Traum eines einigen und gemeinsam handelnden Europa längst zur tragischen Illusion geworden ist.

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Hinter dem Vorhang gegenseitiger Europa-Euphorie schwelt schon lange der alte Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, die beide eine dominierende Rolle in der Gemeinschaft anstreben. Die Folge sind gegenseitige Blockaden und Ränkespiele bei gleichzeitiger Instrumentalisierung wechselnder kleinerer Partner. Deutschland schreckte auch schon vor brüskierenden Alleingängen nicht zurück. Beispiele sind der plötzliche Ausstieg aus der gemeinsamen Energiepolitik durch den Ausstieg aus der Kernenergie, das ebenfalls nicht abgestimmte Öffnen der Grenzen für den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und damit in die EU, das ständige Herumdoktoren an einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die bis heute den Praxistest noch nicht bestanden hat. Ebenso weit entfernt ist die Union von einem notwendigen Reformschub in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Finanzpolitik, ohne den es ein Bestehen im internationalen Wettbewerb mit neuen Playern nicht geben kann. Kurzum: das Auseinanderfallen der EU in mehrere regionale Zentren könnte zur Gewissheit werden. Großbritannien hat dies erkannt und gehandelt. Auch die Schweiz wäre gut beraten, den verlockenden Avancen der EU auch weiterhin zu widerstehen.

Doch was bleibt vom transatlantischen Verhältnis? Die USA sind die einzig verbliebene Großmacht auf der Welt. Mit Chinas unverhohlenem Anspruch ihnen diesen Rang zumindest abzulaufen, ist Washington die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts erwachsen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Peking seine Rolle nicht nur als wirtschaftliche Führungsmacht, sondern auch als gesellschaftspolitisches und damit totalitäres Modell für alle ansieht und dabei schon jetzt vor territorialen Ansprüchen z.B. im Südchinesischen Meer nicht zurückschreckt. Angesichts schwindender natürlicher Ressourcen bei gleichzeitig ständig wachsender Weltbevölkerung geht es bei diesem Ringen für beide Kontrahenten tatsächlich um alles. Wenn die Welt nicht zu einem für beide akzeptablen Kompromiss findet, scheint ein gewaltsamer Konflikt fast unausweichlich.

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Nur allzu verständlich ist, dass die USA bei diesem globalen Kräftemessen auf die Unterstützung der NATO-Partner setzen. Doch die Interessen haben sich auseinander entwickelt. Deutschland beispielsweise ist nicht erst seit den Tagen Donald Trumps zum heftigsten Kritiker amerikanischer Politik geworden. Die Reaktion auf amerikanische Wünsche nach mehr Leistung im Bündnis oder gar der Teilnahme an militärischen Operationen stieß stets auf kühle Ablehnung. Ob in der Iran-Politik, dem Verhältnis zu Israel, der amerikanischen Kritik gegenüber China oder Russland – stets setzte Deutschland bis hin zu seinem Verhalten in der UNO auf Distanz zu Washington. Während Merkel sich zu den russischen Verletzungen der Verträge über atomare Mittelstreckenraketen nur verhalten oder gar nicht äußert, strebt sie konsequent der Agenda ihres Vorgängers und heutigen Gazprom-Managers Gerhard Schröder folgend eine Energieabhängigkeit von Russland an, ohne auf die Bedenken der USA und auch europäischer Partner Rücksicht zu nehmen.

Doch Vorsicht: gegen die deutschen Interessen muss eine solche Politik keineswegs sein. In einer Symbiose der Abhängigkeit Russlands von deutscher Technologie und Wirtschaftskraft bei gleichzeitiger Versorgung des riesigen russischen Marktes im Gegenzug zu garantierten Rohstofflieferungen könnte für Deutsche und Russen eine Win-win-Situation entstehen. Die USA könnten in diesem Fall sogar den Schulterschluss mit Russland suchen. Ihren Anspruch auf Präsenz in Europa aufgeben und dafür russische Neutralität im Konflikt mit China einfordern. Europa würde sich in diesem Fall zwar mit seiner eingeschränkten Souveränität abfinden müssen, könnte sich aber ungestört seinen Geschäften hingeben. Insbesondere für die Deutschen mit ihrer aus der Geschichte begründeten pazifistischen, ja fast femininen Mentalität sogar erstrebenswert. Ein Leben in Frieden und Passivität – nur eben zaghaft, still und leise aus dem Nebenzimmer der großen Bühne.

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