Am 4. April 1949 haben die Staats- und Regierungschefs aus zwölf westlichen Ländern in Washington den Nordatlantikvertrag unterzeichnet. Die Organisation zum Nordatlantikvertrag (North Atlantic Treaty Organisation), die NATO, sollte die Sicherheit auch der westeuropäischen Staaten garantieren, bis die noch kriegs-geschwächten europäischen Alliierten selbst für ihre Verteidigung sorgen könnten. Heute am 4. April 2019 treffen sich die Außenminister von inzwischen 29 Mitgliedsstaaten wieder in Washington, um das 70jährige Jubiläum der transatlantischen Verteidigungs- und Wertegemeinschaft zu feiern.
In den 70 Jahren seit 1949 erlebt die NATO eine wechselhafte Geschichte. Ausgangspunkt sind die 1948 zunehmenden Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Moskau dehnt seinen Einfluss in Europa zunehmend aus und schneidet Westberlin von der Versorgung ab. Auch dadurch entsteht ein Systemkonflikt zwischen dem kommunistischen Osteuropa unter Führung der Sowjetunion und der liberalen westlichen Welt mit den USA als Führungsmacht.
Kernstück des NATO-Vertrags ist der Artikel 5, der vorsieht, dass ein Angriff auf ein Bündnismitglied ein Angriff auf alle NATO-Mitglieder bedeutet. Das erforderte eine hinreichende Verteidigungsfähigkeit, die eine glaubhafte Abschreckung erzeugt. In dem Zusammenhang dachte man zunächst auch an eine Verteidigungsunion mit einer europäischen Armee, zu der auch deutsche Truppen beitragen sollten. Die französische Nationalversammlung lehnte solche Pläne 1954 ab und so bleibt die NATO längerfristig als ursprünglich geplant für die Sicherheit Westeuropas zuständig.
1955 wird dann Westdeutschland auch NATO-Mitglied. Daraufhin gründet Moskau mit seinen Satellitenstaaten den Warschauer Pakt – und der Kalte Krieg ist Realität.
Der beiderseitige Besitz nuklearer Interkontinentalraketen sorgt für ein stabiles „Gleichgewicht des Schreckens“, denn sowohl die NATO als auch der Warschauer Pakt müssen jeweils bei einer Angriffshandlung mit der eigenen Vernichtung rechnen. Trotz der grundsätzlichen „Stabilität“ hat die NATO in der Zeit des Kalten Krieges aber immer wieder Krisen zu überstehen. 1966 zieht sich Frankreich aus der NATO zurück. Als Antwort auf die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen, die auf London, Paris und Bonn gerichtet waren, kommt es 1983 zum NATO-Doppelbeschluss mit der folgenden Aufstellung von Pershing II-Raketen und damit zu einer sehr großen Konzentration in Europa stationierter nuklearer – aber friedenserhaltender – Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite bis kurz vor Moskau. Erst mit dem INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion 1987 wird diese nukleare Bedrohung eingehegt. Die NATO hat sehr großen Anteil daran, dass die westliche Welt den Kalten Krieg gewinnen konnte.
Nach der Vereinigung Deutschlands 1989, einschließlich seiner anhaltenden Mitgliedschaft in der NATO, und nach der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 kommt es zum Prozess der NATO-Osterweiterung, zunächst durch den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns sowie später auch der Baltischen Staaten. In der Folgezeit engagiert sich die NATO in Friedensmissionen aber auch in Kriegen. 1996 greift die NATO zum Schutz von UN-Zonen serbische Ziele an. Das führt zum Abkommen von Dayton und die NATO stationiert 60 000 Soldaten in Bosnien. Zum ersten Mal erzwingt und sichert die NATO als regionale Ordnungsmacht Frieden in einem Teil Europas.
Die Terroranschläge vom 11.September 2001 in den USA lösen dann erstmals in der Geschichte der NATO den Bündnisfall aus; der Anschlag gilt gemäß Artikel 5 des Vertrages als Angriff auf alle NATO-Mitglieder. Und der daraufhin initiierte sehr langfristige aber auch sehr wenig erfolgreiche Einsatz der NATO in Afghanistan hält die transatlantische Allianz trotz der Verweigerung einer Beteiligung am IRAK-Krieg der USA zusammen. Die Annexion der Krim durch das zunehmend aggressive Russland und die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa läutet dann 2014 eine neue Phase der Konfrontation mit Russland ein.
Nach der langen Konzentration des Bündnisses auf Krisenbewältigung und friedenserhaltende Einsätze und der stetigen Reduzierung der europäischen Verteidigungsanstrengungen durch Budget-Kürzungen verlagert die NATO den Schwerpunkt jetzt wieder auf das „Kerngeschäft des Kalten Krieges“, die Landes- und Bündnisverteidigung. Beim NATO-Gipfel im Herbst 2014 in Wales haben die NATO-Mitglieder gemeinsam vereinbart, bis 2024 die Verteidigungsinvestitionen auf einen Anteil von jeweils 2 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes zu steigern, eine Schnelle Eingreiftruppe aufzubauen und in den Baltischen Staaten und Polen eine Enhanced Forward Presence einzurichten. Das kostet alle NATO-Mitglieder zwangsläufig viel Geld. Außerdem sollen neue Hauptquartiere in den USA und Deutschland aufgebaut werden, um die schnelle Verlegung größerer Truppenkontingente zu gewährleisten, und so wird auch die militärische Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg verstärkt. Darüber hinaus wird die Verteidigungsfähigkeit der NATO gegen Cyberangriffe ausgebaut.
Die NATO-Mitgliedstaaten erkennen also durchaus die Notwendigkeit und Berechtigung des von den USA schon seit langer Zeit geforderten „burden sharings“, nur nicht alle – allen voran Deutschland – erfüllen ihre zugesagten Verpflichtungen. Dabei sollte allen europäischen NATO-Mitgliedstaaten bewusst sein, dass sie zur Sicherung des zukünftigen Friedens jeweils einen größeren Beitrag für die Einsatzfähigkeit der NATO und damit für eine glaubwürdige sowie friedenserhaltende Abschreckung leisten müssen.
Und so feiern die Außenminister der NATO-Mitgliedstaaten heute in Washington 70 Jahre wechselhafter Geschichte des weltgrößten Verteidigungsbündnisses mit Höhen und Tiefen, aber sie feiern insgesamt eine friedenserhaltende Erfolgsgeschichte, die in eine Zeit des sicherheitspolitischen Umbruchs mündet.Deswegen ist es auch gut, dass die Amtszeit des NATO-Generalsekretärs verlängert wurde, um dem Bündnis in Umbruchzeiten Halt zu geben, Gewicht zu bewahren und weit weniger befähigte NachfolgerInnen zu verhindern. Und dieser Umbruch betrifft hauptsächlich Europa und die Europäische Union.
Der alte Kontinent Europa ist leider keine politische Einheit mit gemeinsamen Interessen und Zielen. Die Europäische Union ist eine unzureichend politisch strukturierte und deswegen nur eingeschränkt handlungsfähige Wirtschafts- und Währungsunion ohne gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Außen- und sicherheitspolitisch ist die EU in der Geopolitik von sehr nachrangiger Bedeutung und sicherheitspolitisch von den USA und von der NATO in hohem Maße abhängig. Alle Ankündigungen der EU im Zusammenhang mit der Übernahme von mehr globaler Verantwortung, zu einer Europäischen Verteidigungsunion und zu einer Armee der Europäer sind illusionsbehaftet und realitätsfern. Und angesichts der globalen Bedrohungen sowie der aggressiven Politik des neuen „Gegners“ Russland sind europäische Staaten immer weniger in der Lage, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Hier muss die EU zukünftig in Ergänzung zur NATO und in sehr enger Zusammenarbeit mit dem Bündnis viel mehr und viel Gutes leisten.
Eine eigene, hinreichende Verteidigungs-Fähigkeit wird die EU in den nächsten zwei/drei Jahrzehnten aber nicht aufbauen können, denn die einzige Nuklearmacht in der EU ist nach einem Brexit Frankreich mit deutlich marginalen Fähigkeiten im Vergleich zu Russland und den USA. Die EU braucht die USA deswegen mindestens mittelfristig als Partner und die NATO bleibt längerfristig der einzige glaubwürdige und handlungsfähige Garant der äußeren Sicherheit und Verteidigung Europas. Sehr wichtig ist auch, dass die sicherheitspolitisch für Europa sehr wichtige nukleare Mittelmacht Großbritannien auch nach einem Brexit über ihre NATO-Mitgliedschaft den europäischen NATO-Mitgliedern eng verbunden bleibt.
Die NATO ist daher keinesfalls „obsolet“, sie ist weiterhin wichtig für die Sicherheit Europas, sie schreckt das aggressive Russland auch zukünftig ab, bietet ein Gegengewicht zu den Machtansprüchen der aufstrebenden Weltmacht China und dient der europäischen und globalen Friedenserhaltung, wenn denn alle europäischen NATO-Mitgliedstaaten ihren fairen Beitrag zur gemeinsam zu leistenden Einsatzfähigkeit der NATO erbringen und gemeinsam getroffene Vereinbarungen verlässlich erfüllen. Gerade die Mittelmacht Deutschland muss sich wieder als verlässlich erweisen und Vertrauen zurückgewinnen.
Bevor „Greta“ den inzwischen ziemlich abgewerteten Friedens-Nobelpreis bekommt, sollte man die NATO in Betracht ziehen!
Hans-Heinrich Dieter, Generalleutnant a.D., war Befehlshaber und Kommandeur des 1. Deutschen Einsatzkontingents United Nations Peace Force (GECONUNPF) in Trogir/Kroatien, ab 1998 Kommandeur des Elite-Einheit der Bundeswehr „Kommando Spezialkräfte“ KSK in Calw und ab 2004 Stellvertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr und Inspekteur der Streitkräftebasis.
Generalleutnant a.D. Hans-Heinrich Dieter ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und diverser Einsatz- und Verdienstmedaillen.
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