Tichys Einblick
Startschwierigkeiten

Das 49-Euro-Ticket – eine sehr deutsche Revolution

Das 49-Euro-Ticket droht zum Flop zu werden. Für den Kunden, weil die Antragstellung kompliziert ist. Für das System öffentlicher Verkehr, weil nun zu wenig Geld für Service und Reparaturen da ist.

IMAGO / Emmanuele Contini

Der Berliner Bahnhof Friedrichstraße ist eine Legende der DDR-Zeit. Hier, im „Tränenpalast“, verabschiedeten sich die Westler von ihrer Ost-Verwandtschaft, bevor sie wieder zurück in die Freie Welt fuhren. In diesen Tagen herrscht dort wieder DDR-Feeling und Tränen-Stimmung – im „Service“-Zentrum der Deutschen Bahn.

An drei Schaltern bedienen dort Mitarbeiter die Kunden. Keine zehn Personen stehen in der Schlange. Trotzdem kommt das Ganze nicht voran. Noch nicht einmal, weil eine Mitarbeiterin ihren Schalter schließt, sondern weil die meisten Wartenden gekommen sind, um sich das 49-Euro-Ticket zu kaufen. Das ist laut Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) „die größte Tarifrevolution im Öffentlichen Personen Nahverkehr und ein echter Fortschritt für unser Land“. Es zu kaufen, dauert aber zehn Minuten.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Die Kunden müssen ihren Ausweis und ihre Bankkarte vorzeigen, sowie ihren gesamten Datensatz angeben. „Datt müssen wir ja noch alles ennjeben“, mahnt ein uniformierter Schaltermann zur Geduld. Die dritte Schalterfrau sucht derweil nach ihrem Telefon. Wenn sie schon nicht hilft, kann sie doch wenigstens den anderen im Weg sein. Das deutsche Bürokratie-Monster trifft auf die Tranigkeit von Bahn-Mitarbeitern.

Das „Deutschlandticket“ unterscheidet sich nicht nur um 40 Euro im Preis vom Neun-Euro-Ticket. Letzteres konnte am Automaten gezogen werden und schon konnten die Kunden losfahren. Das 49-Euro-Ticket müssen die Bittsteller mindestens zehn Tage vor Monatsende beantragen, unter Angabe ihres kompletten Datensatzes sowie dem Nachweis ihrer Solvenz. So verlaufen „Tarifrevolutionen“ in Deutschland.

Das geht doch aber alles auch online? Durchaus richtig. Doch wie sich derzeit nicht nur am Schalter in der Friedrichstraße zeigt, sind es vor allem Personen mit mangelhaften Sprachkenntnissen, die nach der Hilfe eines Bahn-Mitarbeiters drängen. Außerdem motivieren die Verkehrsbetriebe die Kunden, das 49-Euro-Ticket bei ihnen zu lösen – etwa mit Gutscheinen wie die BVG in Berlin.

Zwar hat der Bund den Ländern 1,5 Milliarden Euro zugesagt, um Einnahmeverluste durch das 49-Euro-Ticket auszugleichen. Auch soll kein Verkehrsbetrieb weniger einnehmen als vorher. Doch die Erfahrungen der Corona-Hilfen scheinen nachzuwirken. Die waren als schnell, unbürokratisch und umfassend versprochen worden – und haben sich allzu oft als langsam, bürokratisch und unzureichend herausgestellt. Entsprechend scheinen sich die Verkehrsbetriebe zu sagen, die Einnahmen, die sie durchs „Deutschlandticket“ haben, haben sie. Deswegen haben sie ein Interesse daran, dass die Kunden bei ihnen das Ticket bestellen und nicht online, statt auf die Umverteilung des Geldes zu warten.

49-Euro-Ticket:
Sozialticket? Schufa-Auskunft bitte!
Finanziell könnte das Ticket für das öffentliche Verkehrssystem zu einer Belastungsprobe werden. Der Verkehrsverbund VDV geht von fünf bis sechs Millionen zusätzlicher Abonnenten aus, die das 49-Euro-Ticket erreicht. Drei Wochen nach dem Verkaufsstart waren es nach Angaben des VDV 750.000 neu abgeschlossene Abos. Doch die anvisierten fünf Millionen zusätzlichen Abos würden schon noch erreicht, schließt der Verband aus dem vorhandenen Interesse.

Bis jetzt ist das 49-Euro-Ticket vor allem für die elf Millionen Kunden ein Gewinn, die bereits ein Abo für den öffentlichen Nahverkehr abgeschlossen hatten. Sie sparen jetzt 20 bis 40 Euro im Monat. Nur: Im System fehlt dieses Geld und das war bereits vor dem 49-Euro-Ticket kaum ausreichend finanziert. Deswegen mahnt der Sprecher des Fahrgastverbands Pro Bahn, Karl-Peter Naumann: „Es ist fraglich, ob die drei Milliarden für das 49-Euro-Ticket ausreichen werden“, wie er dem RND sagte.

Diese drei Milliarden Euro stellen Bund und Länder für das 49-Euro-Ticket. Sie finanzieren den ohnehin defizitären öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Statt wie erhofft diesen ausbauen zu können, fürchtet Naumann, könne es dann passieren, dass Bahn- und Busstrecken ausgedünnt oder gar gekappt werden: Von Investitionen ist der Nahverkehr erst recht weit entfernt. „Dann geht für den Fahrgast der Schuss nach hinten los.“ Der VDV hat tatsächlich bereits mehr Geld gefordert und der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Bareiß meint: „Das 49-Euro-Ticket wird die Attraktivität und Qualität des öffentlichen Nahverkehrs kaum steigern.“

Immerhin feiert Minister Wissing die Einfachheit des Tickets: „Schluss mit Rätselraten vor einem Ticketautomaten, Schluss mit Fragen nach Waben, Stufen und Kreisen.“ Stimmt. Der Kunde muss nur noch die Abgabefrist einhalten, das Ticket beantragen, seine Daten angeben, das Geld überweisen und schon kann es losgehen. Einfach einsteigen, ohne Fragen zu stellen. Außer: Ist das ein ICE oder ein IC und kann ich ihn nutzen? Darf ich ein Fahrrad mitnehmen? Ist dieser Verkehrsbetrieb beim 49-Euro-Ticket dabei? Muss ich für meinen Hund ein eigenes Ticket lösen? Ist das Deutschlandticket auf mein Angebotsticket übertragbar. Kurzum: eine sehr deutsche „Tarifrevolution“.

Anzeige
Die mobile Version verlassen