Heute, am 1. August 2023, jährt sich zum 25sten Mal die offizielle Einführung der sogenannten Rechtschreibreform, besser: der »Schlechtschreibung« bzw. der „Rechtschreib-Deform.“ Wird jetzt mehr richtig geschrieben? Nein! Beispiele: Addresse, Orginal, Vorraussetzung, Wiederspruch, sesonal, konjungturell, struckturell, klasisch, Jugentliche, Vortschritt, Reperatur, Wettbewerbsverzährung, Roöl, proffesionel, anderst, außländisch, akresiv, expliziet, ziehmlich, imäns, Erhohlung, Gewinnzohne. Und das sind noch harmlosere Beispiele – in diesem Fall von Leuten mit Abitur oder gar Studium.
All diese Probleme sollte die Rechtschreibreform lösen. Den »Achtundsechzigern« galt Rechtschreibung überhaupt als Herrschafts- und Selektionsinstrument, dem der Garaus zu machen sei. Das Ergebnis war ein Furor, ja ein Chaos an Reformen und Reförmchen. Konrad Duden, der Begründer des „Urduden“ (1880) wälzt sich immer noch in seinem Grab in Bad Hersfeld.
Eine wenig Murks-Chronologie
Lassen wir die auf Geheiß Hitlers (1944) nicht weiter verfolgten Reformpläne der NS-Zeit rasch beiseite. Eine Reform mit gemäßigter Kleinschreibung war 1941 angesagt.
Im Westen, in der Bundesrepublik, gab es im Jahr 1954 die sogenannten Stuttgarter »Empfehlungen zur Erneuerung der deutschen Rechtschreibung«, die sich – ohne darauf Bezug zu nehmen – weitgehend an die von NS-Reichsminister Rust empfohlenen Reformen anlehnten, die allerdings aufgrund heftigen Widerspruchs von Schriftstellern wie Thomas Mann, Dürrenmatt und Hesse scheiterten.
Ab 1980 nahmen Bestrebungen zur Reform wieder Fahrt auf. 1982 folgte die Gründung einer Kommission mit Vertretern aus der BRD und DDR, der Schweiz und Österreich. Man wollte eine gemäßigte Kleinschreibung. Am 19. Dezember 1987 beauftragten die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium des Innern das Institut für Deutsche Sprache mit einer Reform. Die Mehrheit der Mitglieder dieser Gruppe wollte die Kleinschreibung der Substantive einführen.
Dann wurde es erst einmal still um die Rechtschreibreform. Zwar kam im Zuge der Vereinigung Deutschlands der »Einheitsduden« heraus, aber zugleich beauftragte die KMK im November 1991 das Institut für Deutsche Sprache mit der Ausarbeitung eines Reformvorschlags. Auf dem Tisch lag immer noch die Forderung nach gemäßigter Kleinschreibung (mit Großschreibung nur bei Eigennamen und am Satzanfang). Dann folgte viel Geheimniskrämerei.
Erst mit den kultusministeriellen Bekanntmachungen ab Mai 1996 bzw. den Wörterbüchern (Juli 1996) erfuhren Fachöffentlichkeit und Öffentlichkeit alle Wort-Details aus dem geplanten Wörter-Corpus. Am 30. November 1995 beschloß die KMK trotzdem die Einführung der neuen Rechtschreibung zum 1. August 1998. Dann gab es im Jahr 1997 mehrere, im Ergebnis sehr unterschiedliche Urteile von Verwaltungsgerichten zur Reform. Es folgten Volksentscheide gegen die Reform. Die KMK lehnte freilich Änderungen am Reformwerk ab. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gab schließlich mit einem Wischi-Waschi-Urteil grünes Licht.
Kein Burgfriede
Zum 1. August 1999 stellten die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen und auch die meisten Zeitungen auf die neue Schreibung um. Am 1. August 2000, kehrte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zur klassischen Schreibung zurück. Es folgten noch zwei Paukenschläge: Mit dem August 2004 kündigten der Axel-Springer-Verlag, der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung an, zur bewährten Rechtschreibung zurückzukehren. Spiegel und Süddeutsche vollzogen ihren Plan allerdings nie. Die KMK bot eine Beruhigungspille: Am 17. Dezember 2004 konstituiert sich unter Vorsitz des vormaligen bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair (CSU, + 2022) der 40-köpfige Rat für deutsche Rechtschreibung. Zehetmair stand dem Rat bis Ende 2016 vor. Der »Rat« sollte die Entwicklung der Rechtschreibung in der Praxis beobachten und Empfehlungen zu strittigen Punkten erarbeiten. Ende September 2016 erklärte Zehetmair – zitierfähig – in einem Gespräch gegenüber dem Rechtschreibrebellen Friedrich Denk und dem Autor dieses Textes: »Im Grunde war die klassische Rechtschreibung nach meinem Empfinden die bessere.«
Gleichwohl modifizierte der Rat die neuen Regeln mehrfach, wodurch allerdings zusätzliche Verwirrung entstand. Zum Beispiel am 8. April 2005: Es sollten wieder mehr Verben zusammengeschrieben werden, es sollten keine Abtrennung von Einzelbuchstaben (also nicht mehr E-sel, A-bend) und auch keine sinnentstellenden Trennungen mehr stattfinden (also nicht mehr Urin-stinkt, Anal-phabet); das ck jedoch sollte als Ganzes erhalten bleiben und nicht in k-k getrennt werden. Die in weiten Kreisen der Bevölkerung als unhöflich empfundene Schreibung »du/dein …« statt »Du/Dein …« wollte man zunächst nicht zurücknehmen, um sie später immerhin wieder zu »erlauben«.
Am 2. März 2006 entschieden die Kultusminister im Sinne dieser Vorschläge. Es schien Burgfriede einzukehren. Ab 1. August 2006 praktizierten die Springer-Zeitungen wieder die Reformschreibung (mit Hausorthographie). Am 1. Januar 2007 schloß sich die FAZ an – alle Redaktionen übrigens mit eigener Hausorthographie. Der Rechtschreibrat blieb weiter tätig. Im Jahr 2010 erklärte er, daß sich die sog. Volksetymologien belämmert, einbläuen, Tollpatsch, Quäntchen usw. sowie die Variantenschreibungen Butike, Fassette, Kabrio, Katarr, Kupee, Maffia, Maläse, Sketsch nicht durchgesetzt hätten und deshalb gestrichen werden sollten. Was nun wirklich gilt, weiß keiner mehr.
Rechtschreibfrieden ist nicht eingekehrt. Die öffentlichen Urteile zur Rechtschreibreform gelten fort: »Reformruine«, »Trümmerhaufen«, »Wirrwarr«, »Pfusch«, »Murks«, »Rohrkrepierer, »Chaos-Orthographie«, »dadaistische Schreibung«, »Rechtschreibanarchie«, »Orthographieelend«, »Scherbenhaufen«. Und mit Blick auf die KMK sah man nicht zu Unrecht deren »Totalblamage«.
Die Schwindeleien und Tricks der Reformer
Von Anbeginn an wurde geflunkert. Hochtrabende Schätzungen von Prozentanteilen vermiedener Fehler, die noch 1997 referiert wurden, stellten sich als völlig unsinnig heraus. Diesen Prognosen zufolge sollten nach der Reform zwischen 40 und 70 Prozent der Fehler weniger gemacht werden. Faktum ist: Falls es überhaupt zu einer Verringerung der Fehler kam, dann hat das mit den Prinzipien »Beliebigkeit« und »Zufallstreffer« zu tun.
Beliebigkeit heißt: Wenn ich ein Komma setzen kann, aber nicht muß, dann passieren hier eben weniger Fehler. Die Rechtschreibreform war also ein viel versprechendes Monster, aber keine vielversprechende Reform. Keineswegs verbessert hat sich bei Schülern die s-Schreibung, denn die Probleme beim Wechsel zwischen langem und kurzem Stammvokal blieben erhalten (ließ – lässt, fließt – floss, weiß – wusste). Überhaupt nicht erleichtert hat sich die Schreibung des vermutlich häufigsten Schreibproblems, nämlich die Schreibung von das/daß bzw. das/dass. Darüber hinaus machen Schüler neue Fehler: Sie schreiben fälschlicherweise aussen, heissen, grössere, Preussen, geniessen, Strasse, Massnahme usw. Generalisierungsfehler nennt man dergleichen.
Der wohl größte Konstruktionsfehler der Rechtschreibreform war, daß man sie nicht an linguistischer Logik, sondern am Horizont von Grundschülern ausrichtete. (In der Mathematik tun wir das hoffentlich nicht! Aber wer weiß?) Denn Sprache ist zu komplex, als daß sie sich in erster Linie einer schulpädagogischen Betrachtung beugte. Mit einer Instrumentalisierung der Kinder für eine unausgegorene Sprachreform aber verarmt die deutsche Sprache. Es gibt schließlich eine Sprache außerhalb der Schule, und die ist komplexer, als es Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik annehmen möchten.
Kollateralschäden der Reform
Gelitten hat die Ernsthaftigkeit, mit der Schüler an die Rechtschreibung herangehen sollen. Schuld daran ist vor allem die Beliebigkeit von Schreibungen (sogenannte Variantenschreibungen). Schüler entwickelten nämlich bald das diffuse Gefühl, daß man etwas »so oder so oder auch anders« schreiben kann bzw. darf. Und sie tun dies umso mehr, je unterschiedlicher bei vielen Wörtern die verschiedenen Wörterbücher (Duden, Wahrig, Bertelsmann) dies mit ihren Hunderten von Abweichungen voneinander taten und tun.
Gelitten haben die Ausdrucksvielfalt und die Möglichkeiten der semantischen Differenzierung. So sollte es laut Reform viele Unterscheidungsmöglichkeiten nicht mehr geben, weil dann etwa folgende Schreibungen bevorzugt werden sollen: wohl bekannt statt bisher wohlbekannt, wohl verdient statt wohlverdient, schwer fallen statt bisher schwerfallen, fertig bringen statt bisher fertigbringen, schlecht machen statt bisher schlechtmachen, bewusst machen statt bewusstmachen, hohes Haus statt bisher Hohes Haus. Man stelle sich einmal vor: Da will einer sagen oder schreiben, man müsse die Diskriminierung von Fremden bewusst machen (also willentlich machen), wo er doch bewusstmachen (darüber aufklären) meint.
Was wäre zu tun gewesen?
Es gäbe eine wirksame Möglichkeit, die Rechtschreibung der jungen Leute zu verbessern: nämlich sie in den Schulen konsequenter zu üben und zu bewerten, anstatt sie zu diskreditieren und das Schreiben auf das Ausfüllen von Lückentexten zu reduzieren. Kinder und Jugendliche müssen in Elternhaus und Schule wieder intensiver zum Lesen erzogen werden. Denn das Lesen schult implizit immer zugleich das Schreibvermögen.
Ansonsten ist die real existierende amtliche Rechtschreibung kaum reformierbar, sie hat schließlich schon so manche Reform der Reform der Reform hinter sich, und es mangelt ihr immer noch an Transparenz und Systematik. Also kann die Lösung nur lauten: Zurück zur Schreibung vor 1996 oder sie zumindest wieder in der Schule zulassen und nicht als Fehler werten! Milliarden von Büchern in dieser Schreibung befinden sich nach wie vor in öffentlichen und privaten Buchbeständen. Und nicht wenige Verlage bringen nach wie vor Neuauflagen in bewährter Rechtschreibung auf den Markt. Insofern ist die Schreibung der Jahre vor 1996 nach wie vor sehr lebendig.
Der Irrweg der Grundschul-Pädagogisierung der Sprache
Allerdings ist Rechtschreibung in der Schule, vor allem deren konsequentes Einüben, aus pseudopädagogischen, ja ideologischen Gründen aus der Mode gekommen. Nicht richtig zu schreiben wurde als Widerstand gegen bürgerlichen Habitus geadelt. Es dauerte nicht lange, und rot-grüne Schulminister schafften Rechtschreibnoten und Diktate ab. In der Hansestadt Hamburg verfügte Christa Goetsch (GAL/Grüne), Schulsenatorin in einer von Ole von Beust (CDU) geführten Landesregierung, im März 2011, daß Diktate als Klassenarbeiten »zur Überprüfung der Rechtschreibleistung nicht zulässig sind«. Erst ihr Nachfolger, Schulsenator Ties Rabe (SPD), vormals selbst Deutschlehrer, hob dieses Diktatverbot 2014 wieder auf.
Gleichwohl scheinen die Schreibreformer (besser: Deformer) immer noch nicht wahrgenommen zu haben, daß sie zwar eine bürgerliche Bastion schleifen wollten, mit ihren Methoden aber gerade das Gegenteil erreichten. Sie benachteiligen nämlich mit ihren Methoden gerade Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, Kinder mit starker Dialektprägung und Kinder mit Migrationshintergrund. Bei denen nämlich verfestigt sich dann ihr »restringierter Code« (unter anderem ihr eingeschränkter Sprachstil), während Kinder aus »besseren« Elternhäusern von zu Hause auf den Pfad der Rechtschreibtugend gebracht werden.
Flächendeckenden Flurschaden freilich zeitigten neue Methoden der schulischen Vermittlung der Rechtschreibung. Ein »Schreiben nach Gehör«, eine »phonetische Schreibung« und ein »Lesen durch Schreiben« waren angesagt – gottlob nicht in allen deutschen Ländern. Das soll die Kinder von Zwängen befreien und deren Lust am Schreiben und sprachliche Kreativität fördern. Kreativ? Beispiele Internet gefällig? »Wia gen in den tso.« »Dort Gips keine Fögel.« »Schraip widu schprichsd.« »Wi schraibst dueden?« »Die Schulä fenkt an.«
Noch eine persönliche Anekdote: Der Verfasser dieses Textes, damals noch aktiver Gymnasialdirektor, sagte damals in einem Interview: „Die Rechtschreibreform ist ein Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft.“ Auf diesen Satz hin gab es eine dienstliche Rüge und einen Protestbrief des Legasthenikerverbandes. Und demnächst? Wird der Rechtschreibrat das Gender-Sternchen erlauben? Im Moment ziert er sich noch. Aber: ‚Wenn daß … Armes Volk, das so mit seiner Sprache umgehen läßt!