Wer zu «Die vier Arten der Liebe» greift, sei doppelt vorgewarnt: Selten hat ein Buch über die Liebe so wenig romantisch geklungen. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Aussagen des Textes, dass die Liebe etwas bedeutend Geheimnisvolleres und Ernsteres ist als das, was wir heute darunter verstehen
Das Wort «Liebe» ist das am meisten missbrauchte und missverstandene Wort der Gegenwart. Was ein Mensch darunter versteht, offenbart nach welchen Werten er oder sie lebt. «Schibbolet» nennt man nach einer biblischen Erzählung (Richter 12,5–6) ein Wort, an dessen Aussprache man erkennt, mit wem man es zu tun hat. Jede Generation hat mehrere solcher Wörter. Das Problem an der Sprache ist, dass wir sie gebrauchen, bevor wir über sie nachdenken können. Wie sich der Fisch im Wasser nicht nass fühlt, nehmen wir die Begriffswelt kaum wahr, in der wir schwimmen.
Doch Worte, und was sie bedeuten, prägen unsere Weltsicht zutiefst. Wäre es uns auf wundersame Weise möglich, in die Zeit des Ersten Weltkriegs zu reisen, klänge die Art und Weise in unseren Ohren sicher höchst befremdlich, wie über «Ehre» und «Stolz» des Heimatlandes gesprochen wurde. Dass die Ehre eines Staates oder der Stolz auf eine bestimmte Herkunft der Anlass sein sollte, andere Menschen mit Maschinengewehren zu erschießen, kommt uns mit gutem Recht heute in schockierendem Maße falsch vor. Doch jeder Epoche erscheint das plausibel, was gerade tagesaktuell üblich ist. In diesem Buch («Die vier Arten der Liebe» von C. S. Lewis – Anm. d. Red.) haben wir es mit einem bedeutend positiveren Wort zu tun, doch einem, das wie kaum ein anderes prägt, wie wir heute denken und empfinden.
Als C. S. Lewis seinen Text über die vier Arten der Liebe schrieb, lebte J. F. Kennedy noch, hießen die Beatles noch nicht «Beatles» und war Ehescheidung in den USA bis auf wenige Ausnahmen verboten. Wenige Jahre später sangen die Beatles «All You Need is Love», Kennedy war ermordet (er starb am selben Tag wie C. S. Lewis – am 22. November 1962 – Anm. d. Red.) und der «Summer of Love» spülte die sexuelle Revolution über alle westlichen Länder. Die Art und Weise, wie wir über die Liebe denken, hat sich seither fundamental verändert.
Weshalb also einen Text lesen, der nicht nur über sechzig Jahre alt ist, sondern auch aus der Feder eines Mannes stammt, der schon zu seinen Lebzeiten aus der Zeit gefallen schien?
Wer zu «Die vier Arten der Liebe» greift, sei doppelt vorgewarnt: Selten hat ein Buch über die Liebe so wenig romantisch geklungen. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Aussagen des Textes, dass die Liebe etwas bedeutend Geheimnisvolleres und Ernsteres ist als das, was wir heute darunter verstehen. Ein besonderer Liebhaber der Romantik ist Lewis ohnehin nicht. Zwar fehlte ihm der Sinn für das Poetische keineswegs. Im Gegenteil: Viel berühmter als seine philosophischen und geistlichen Werke sind seine zeitlosen «Narnia-Chroniken» mit ihrer Bildgewalt und mitreißenden Handlung.
Gegen die Romantik als Epoche aber hegte Lewis Vorbehalte. Als Literaturwissenschaftler bestand die These seiner Antrittsvorlesung in Cambridge in dem Nachweis, dass die Romantik einen Abschied von einer Weltordnung darstellt, die die Menschheit vorher seit Jahrtausenden gehalten habe. Nun aber werden das Individuum und seine Empfindungen zum Maß aller Dinge. Was nach Lewis in der Romantik beginnt, ist heute zur alles dominierenden Sichtweise geworden: Freiheit bedeutet eben, sich entsprechend seiner eigenen Gefühle zu verhalten, sich auszuleben. Es ist genau dieser Grundgedanke, dem Lewis wieder und wieder das Messer auf die Brust setzt. Nein, in der erotischen Liebe sucht ein Mensch eben gerade nicht nur seine Lust, sondern er sucht die Person, die er liebt. Liebe hört erst auf, dämonisch zu sein, wenn sie nicht das Höchste und Göttlichste wird, sondern der Mensch etwas Höchstes und Göttliches anerkennt: Dies ist die vielleicht markanteste Kernthese des Buches.
Was macht einen Klassiker aus? Mir scheint: seine Zeitlosigkeit. Wer die «Bekenntnisse» des Augustinus oder «Die Leiden des jungen Werthers» liest, könnte vergessen, dass über 1300 Jahre zwischen den beiden Texten liegen. Sie vermögen uns heute noch immer zu berühren, weil eine zutiefst menschliche Stimme darin spricht.
Wer Lewis liest, findet nie Banales. Seine Gedanken sind nicht selten spitz, doch immer ausgewogen, durchdacht und voller Lebensweisheit. Es sind Sätze wie diese, die Lewis zum Klassiker machen und zum Lieblingsschriftsteller unzähliger Menschen: «Lieben heißt verletzlich sein. Liebe irgendetwas, und es wird dir bestimmt zu Herzen gehen oder gar das Herz brechen.» Oder: «Der menschliche Geist ist im Allgemeinen viel schneller bereit, Lob und Tadel auszuteilen, als zu beobachten und zu beschreiben. Er will aus jeder Unterscheidung ein Werturteil machen.» Es sind in Worte gegossene Erkenntnisse, die vor tausend Jahren nicht weniger Gültigkeit hatten als heute. Und deshalb kann man Lewis nicht nur verzeihen, wenn er wie aus der Zeit gefallen klingt, sondern man kann gerade das an ihm schätzen.
«Lebe mit dem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf», soll Schiller gesagt haben. Vielleicht ist gerade das der Grund, warum man Lewis lesen sollte, obwohl und gerade weil er oft so anders klingt als das, woran wir uns gewöhnt haben. Denn was er über Liebe schreibt, klingt nicht nach dem 21. Jahrhundert, nicht einmal nach dem 20. Jahrhundert. Es klingt nach uralter Menschenweisheit, die von Freundschaft und Verrat, von Treue und Hingabe, von Lüge und Anpassung zur Zeit Homers schon genauso wusste wie wir heute, vielleicht sogar besser.
Alles von Lewis ist lesenswert. Wenige seiner Texte sind heute so provokativ und zugleich so nützlich wie der mit diesem Werk vorliegende. Für mehr Liebe – und weniger von ihren billigen Kopien!
Vorwort von Johannes Hartl zu:
C.S. Lewis, Die vier Arten der Liebe. Zuneigung. Freundschaft. Eros. Agape. fontis Verlag, Klappenbroschur, 176 Seiten, 15,00 €.
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