Der mörderische Tanz um den Olivenbaum oder Rettung durch Liberalismus

Freihandel und Liberalisierung sind Schimpfwörter geworden. Dabei sind sie die eigentliche Voraussetzung für Wohlstand und Frieden - nicht staatliche Zwangsgebilde. Ein kurzer Blick in die Wirtschaftsgeschichte.

Schon lange nichts mehr von Doha gehört? Nein, ich meine nicht die Hauptstadt von Quatar, sondern die danach benannten Welthandelsgespräche. Sie haben jahrelang die Wirtschaftsnachrichten bestimmt, nach einem optimistischen Auftakt folgte erst ein Stottern und schrittweises Scheitern und dann  im September 2015 das endgültige Aus; ein jämmerliches Verwinseln großer Ambitionen, was in der Diplomatensprache als auf „unbestimmte Zeit ausgesetzt“ verklausuliert wurde. Blättern Sie trotzdem mit mir zurück in große Kapitel, die allerdings unser Leben bestimmen.

Freier Handel ist nicht mehr beliebt

Bilaterale Verhandlungen zum Abbau von Handelshemmnissen sollten Doha-Runde und die Welthandelsgespräche ersetzen. Etwa die Transatlantischen Freihandelsgespräche (TTIP), die nun ihrerseits scheitern werden: Weder in Europa noch in den USA ist dafür eine Mehrheit erkennbar; Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks von Donald Trump bis zum französischen Präsidenten Francoise Hollande sind Verfechter von „Buy American“. Oder „Buy French“.

Brexit hin oder her – die Frage in Europa ist eher: Nexit. Welches Land ist das Nächste, das aus dem Staatenverbund ausscheidet, der als Freihandelsunion begann. Und der Brexit wird interpretiert wie eine Kriegserklärung. Dabei wäre es so einfach: Großbritannien wird wieder Teil der europäischen Freihandelszone, ohne sich über die Frage von Glühbirnen und Staubsaugermotoren zerstreiten zu müssen und seine Bürger damit zu schikanieren. Stattdessen sieht es so aus, als würde Europa eine neue Kontinentalsperre verhängen – wie weiland Napoleon.

Aber Freihandels-Verhandlungen, das ist heute etwas für Technokraten und Experten der Bürokratien – Politiker mit dem Finger am Puls der Wähler wenden sich ab. Freihandel als Wohlstandsversprechen, Globalisierung als Befreiung aus den engen Grenzen des Nationalstaates – dieses Narrativ hat offensichtlich die „kulturelle Hegemonie“ verloren. Der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci verstand darunter nicht Zwang, sondern die vermittelte Überzeugung der Menschen, dass sie in der „besten aller möglichen Welten“ lebten.

Diese beste aller Welten begann 1947 mit dem Welthandelsabkommen Gatt, in dessen Rahmen die Zölle um fast ein Viertel gesenkt wurde. Damit begann die Phase der weltwirtschaftlichen Erholung nach dem Zweiten Weltkrieg und rund 60 goldene Jahre kontinuierlicher Fortschritte in der Globalisierung, einer Ausweitung des Welthandels und des Zusammenwachsens der Nationen. Es war keine geradlinige Entwicklung; es gab Rückschläge, Entkolonialisierungskrisen,  den Eintritt Chinas und zuletzt des sowjetisch beherrschten Ostblocks in die Globalisierung.

Die Verbesserung der Welt

Auf lange Frist betrachtet war es eine ständige Verbesserung des Zustands Welt, gemessen an Rückgängen in den Zahlen der Menschen, die in absoluter Armut leben, der Säuglingssterblichkeit oder dem  Zugang zu elementaren zivilisatorischen Leistungen wie Bildung. Vielleicht wird irgendwann nicht das Scheitern der Doha-Runde als der Tag der Wende von zukünftigen Historikern benannt werden, die aus ihrem Abstand und zeitlicher Distanz die globale kulturelle Kontinentaldrift besser verstehen werden; vielleicht war es der 11. September 2002 mit seiner dramatischen Zuspitzung archaischer Konfliktpotentiale, die an diesem Tag die World Trade Tower und damit die Symbole des Welthandels konkret pulverisierten. Gramsci ist seit 1937 tot; und philosophische Fragestellungen nicht an den Tag des Kalenders gebunden. Die historischen Triebkräfte der Nachkriegsentwicklung, freie Märkte, Liberalismus, Welthandel und Abbau von Handelsbegrenzungen werden seither schrittweise suspendiert. Europa leidet unter dem gegen Russland verhängten Embargo und einer kulturellen Hegemonie der Bürokratie: Regulierungen werden leicht, geradezu selbstredend begründet; Deregulierung findet keine Anhänger mehr. VW stellt für die Folgen seines Dieselskandals 16 Mrd. zur Verfügung – fast 15 Mrd. für US-Konsumenten. Trotzdem gilt TTIP als Anschlag auf europäische Konsumentenrechte. Erleben wir das Ende der goldenen Jahre des globalen Liberalismus?

Das Ende des goldenen Liberalismus

Blättern Sie mit mir noch ein paar Seiten weiter zurück. Den globalen Liberalismus erlebte die Welt bereits. Die Jahrzehnte vor 1914 waren geprägt durch Freihandel – „die deutschen Rinder weiden am Rio Plata“, soll der damaliger Berliner Reichskanzler von Bethmann-Hollweg gesagt haben. Es wäre ein Satz, der französische und deutsche Bauern heute noch zu Straßenblockaden veranlassen würde. Der Goldstandard wirkte als globale Einheits-Währung; weil jede nationale, ebenfalls goldgebundene Währung im Dreisatz darüber ausgedrückt werden konnte und Auf- bzw. Abwertungen den realen Wertverlust kompensierten – Welthandel leicht gemacht. Der Transatlantikverkehr war so dicht, die Passagierdampfer fuhren hintereinander wie rauchende Elemente einer schwimmenden Perlenkette, dass man auf der Titanic glaubte, auf eine ausreichende Anzahl von Rettungsbooten  verzichten zu können: Der nächste, rettende Dampfer schien ganz bestimmt in unmittelbarer Nähe zu sein. Die Intensität des globalen Handels hatte ein Ausmaß angenommen, das erst wieder in den 1990er Jahren erreicht wurde, behaupten die Wirtschaftshistoriker.

Denn dazwischen waren die düsteren Jahre des Großen Krieges und die kaum weniger schwarzen Jahre der Zwischenkriegszeit. Aus der Perspektive des Freihändlers betrachtet waren die Folgen des 1. Weltkriegs: Grenzen. Die großen Imperien waren zerfallen: Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zersplitterten in osteuropäische Kleinstaaten mit unübersichtlichen Grenzkonflikten; das Osmanische Reich zerfiel entlang mit dem Lineal gezogener Grenzen im Mittleren Osten und damit in religiöse und territoriale Konflikte, die heute mit äußerster Brutalität aufbrechen. Am schnellsten erholten sich das British Empire mit seinen weltumspannenden Märkten von Europa, über Afrika nach Indien und Australen sowie der nordamerikanische Wirtschaftskontinent – beide Imperien groß genug, um einen Binnen-Welthandel innerhalb ihrer Imperien abzuwickeln. Verklemmt in Kleinstaaterei, Autarkiebestrebungen und Abgekoppelt von den Weltmärkten versuchten Italien und Deutschland den Befreiungsschlag durch gewalttätige Expansion.

Von der Scheibe wieder zur Kugel

Es ist bekanntlich nicht gut ausgegangen. Die oben zitierten Gatt-Verhandlungen von 1947 waren die Rückkehr der Vernunft und der Einsicht in globale Notwendigkeiten. „Die Erde ist eine Scheibe“, hat Thomas Friedman die neue Globalisierung der jüngsten Jahrzehnte als faktischen Zustand beschrieben. Es sieht so aus, als ob die globale Pizza Berge, Täler und unüberwindliche Klüfte erhält. In „Lexus and the Olive Tree“ hat er versucht zu beschreiben, dass die globalen Technologien die Versuche der Menschen, sich um die traditionellen, regionale Stämme zu scharen, verunmöglichen würde, die Globalisierung unausweichlich sei. Allerdings war die gleichzeitige Durchdringung der Welt mit Telegraph, Fotografie, Dampfmaschine, Stahlherstellung und Chemie zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht weniger spektakulär, allumfassend – und vielfach verängstigend.

Die Ordnung der Welt ist nicht bestimmt durch das Können der Techniker, sondern das Wollen der Menschen und ihrer Politiker. Freihandel und Liberalismus entstehen nicht zwangsläufig, sind keine Folge technischer Revolutionen. Techniken werden von archaischen Revolutionären des Gestern sogar am entschiedensten benutzt, wie die Geschichte von Hitler bis zum islamischen Staat beweist, der seine Mörderbanden mit Mobilfunknetzen und den Techniken der Crowd-Organisation steuert.

Freihandel und Liberalismus sind kulturelle Werte. Ohne ihre kulturelle Hegemonie droht der Rückfall in die Isolation und die nachfolgende Grausamkeit.

Zuerst in der Jewish Voice of Germany erschienen

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