Widersprüchliche und übereinstimmende Putin-Interpretationen von Medien und Personen, die dem Leser die eigene Bewertung abverlangen.
Autor Walther Seinsch und nennt sich selbst Russland-Liebhaber und Putin-Versteher. Seinsch beginnt sein Buch mit einer kurzen Passage aus Dostojewskis Raskolnikow und schließt an: „Immer wieder wurde ich mit der Zartheit, dem Einfühlungsvermögen, der Menschlichkeit des russischen Lebens befasst, so wie ich die Verkommenheit und die Brutalität des russischen Feudalismus kennenlernte. Die fürchterlichen Verbrechen, die der Kommunismus an seinem Volk verübte, vertieften meine Zuneigung und mein Mitgefühl.“
Seinsch verfolgt die „seit fünfzehn Jahren zunehmende und seit dem Ukraine-Konflikt eskalierende Putin-Kritik zahlreicher, auch seriöser Personen und Medien“ und hat eine Menge an Fundstellen zusammengetragen. Vieles davon stuft er als Propaganda ein und „versucht abzuwägen, zu bewerten und zu einem objektiven Urteil zu kommen.“ Mit seiner Perspektive, dass Russland seinen eigenen Weg in eine moderne Gesellschaft nur selbst gehen kann, wird er auf viel Zustimmung stoßen, seine Meinung, dass Putin besser auf diesen Weg führen kann als andere, werden deutlich weniger teilen. Dass USA und NATO dem großen Land zu nahe gerückt sind, ist eine Bewertung, für die der Autor von einem politisch sehr heterogenen Publikum Zustimmung erfahren wird.
Mit eigenen Meinungs-werbenden Argumenten arbeitet Seinsch so gut wie gar nicht. Das macht die Lektüre ungewohnt. Das ist keine flottes Lesen, sondern verlangt Disziplin, den Autor bei seiner Reise die Quellen entlang mit eigenen Abwägungen zu folgen – nicht durch die Brille, aha, hat ein Putin-Versteher geschrieben. Die Zitate zusammengestellt hat er und dieses und jenes mit Fragen versehen. Er sagt selbst, das Buch besteht „zu einem großen Teil aus Zitaten – vor allem aus Zeitungen und anderen Medien.“ Das Meinung bilden nimmt er uns nicht ab: interessanter Ansatz.
Natürlich bleibt es nicht ohne Wirkung, etwa im Kapitel „Der Ukraine-Konflikt“, Henry Kissinger, Michail Gorbatschow und Helmut Schmidt mit übereinstimmenden Aussagen zu präsentieren. Der Autor hat Social Media in seine Beobachtungen nicht eingeschlossen. Dort fände er etliche, die in den Jahren nach dem Mauerfall nahe genug für ein kundiges Urteil dabei waren und sich bei den dreien eingliedern würden. Nachzulesen, was Seinsch im Kapitel „800 Jahre Leid“ knapp und kusorisch zusammengestellt hat, kann die vielen, die zu Putin pro und contra eine feste Meinung haben, vielleicht einladen, mehr wissen zu wollen. Denn es gilt auch hier: keine Zukunft ohne Herkunft.
Der Autor lässt kaum ein umstrittenes Thema aus: die Jelzin-Ära, die Chodorkowski-Story, Schröders „lupenreinen Demokraten Putin“, den Fall Nemzow, Pussy Riot, Krim, Ukraine und mehr. Das Buch schließt mit Auszügen des Spiegel-Gesprächs mit Alexander Solschenizyn 2007:
„Der Westen freute sich über das Ende des lästigen Kalten Krieges und beobachtete über die Jahre Herrschaft der Gorbatschow- und Jelzin-Herrchaft hinweg eine Anarchie im Innern Russlands und die Aufgabe aller Positionen nach außen hin. Er gewöhnte sich schnell an den Gedanken, dass Russland nun fast ein Land der Dritten Welt sei und dass es für immer so bleiben werde. Als Russland wieder zu erstarken begann, reagierte der Westen panisch – vielleicht unter dem Einfluss nicht ganz überwundener Ängste.“
„Aber schon früher hatte sich der Westen der Illusion hingegeben – oder so getan, als würde er das tatsächlich glauben – , dass Russland bereits eine junge Demokratie sei, obwohl davon noch keine Spur zu sehen war. Es sit doch klar, dass Russland noch keine Demokratie ist, es beginnt erst, eine demokratische Ordnung aufzubauen. Es ist nur allzu leicht, unserm Land einen langen Katalog von Irrtümern, Versäumnissen und Normverstößen zu präsentieren. Aber in jenem Kampf, der nach dem 11. September 2001 begann und der noch immer läuft, hat Russland dem Westen seine Unterstützung angeboten – deutlich und unmissverständlich. Diese Unterstützung wurde abgewiesen – aus einer bestimmten psychologischen Grundhaltung heraus oder aus krankhafter Kurzsichtigkeit.“
Walther Seinsch, Lehre im steuerberatenden Beruf; Bauarbeiter; Fabrikarbeiter; Substitut; Abteilungsleiter und Geschäftsführer im Kaufhof-Konzern; Geschäftsführer und Minderheitsgesellschafter der Firma KiK und Takko bis 1997; Gründer der Stiftung Erinnerung in Lindau; von 2000 bis 2014 Präsident des Bundesligisten FC Augsburg.
Walther Seinsch: Wladimir Putin – Der Dämon? Über die Putin-Phobie des Westens. Gerhard Hess Verlag.
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