Fast alle Parteien treten für mehr Volksentscheide ein. Kaum gibt es einen – wie in Berlin über den Flughafen Tegel -, dann sind SPD, Grüne und Linke auf einmal dagegen und wollen das Ergebnis ignorieren.
Nach der Bundestagswahl forderte Mecklenburgs Ministerpräsidentin Manuela Schwesig von der SPD als erstes, man solle Volksentscheide auf Bundesebene einführen. „Die Bürgerinnen und Bürger sollten nicht nur zu Wahlen, sondern auch dazwischen befragt werden“, so fordert Schwesig. Ihr Parteifreund und Amtskollege, Berlins Regierungschef Müller, hat gerade eine Schlappe mit einem solchen Volksentscheid erlebt. 56 Prozent der Berliner haben sich am 24. September, entgegen der Empfehlung von SPD, Grünen und Linken, für die Offenhaltung des Flughafens Tegel ausgesprochen. Laut Müller war das allerdings keine Niederlage. Seine eigenartige Begründung: Vor ein paar Wochen seien bei Umfragen noch 75 Prozent für den Weiterbetrieb von Tegel gewesen, daher seien 56 Prozent gar nicht so übel. „Meine Position ist glasklar“, so Müller. Nämlich? Dass Tegel entgegen dem Volksentscheid geschlossen werden soll. Auch Grüne und Linke wollen den Volksentscheid ignorieren.
Volksentscheide nur dann, wenn es passt
In den Programmen von fast allen Parteien (außer der CDU) findet sich die Forderung nach mehr Volksentscheiden, nach mehr direkter Demokratie. Man findet das bei:
- Grünen
- Linken
- SPD
- CSU
- AfD
- FDP
Besonders laut wurde diese Forderung jedoch seit Jahren von der politischen Linken vertreten. Und nun, da die Bürger in Berlin gesprochen haben, will man das ignorieren. Begründung, kurz gesagt: „Beschlossen ist beschlossen“.
Konsequenz sieht anders aus
Ich finde diese Haltung heuchlerisch und inkonsequent. Entweder bin ich für Volksentscheide oder dagegen. Ich selbst bin dagegen und weiß, dass ich mir damit wieder jede Menge kritische Leserzuschriften einfangen werde, die diese Haltung undemokratisch finden, weil sie „das Volk“ und dessen angeblich unendliche Klugheit idealisieren. Aus meiner Sicht ist das Problem in Deutschland nicht, dass wir zu wenig Demokratie haben, sondern dass wir eine Regierung haben, die permanent Recht und Gesetz bricht. Der Rechtsstaat ist mindestens so wichtig wie die Demokratie, aber dafür gibt es leider kaum ein Bewusstsein.
Ich gebe zu: Auch mir wären Volksentscheide sehr sympathisch, wenn es zum Beispiel um die Einwanderungspolitik ginge oder um die Euro-Rettungspolitik. Denn ich bin sicher, dass das Volk in diesen Fällen so abstimmen würde, wie ich es mir wünsche. Andererseits wäre ich aber dagegen, das Volk zu Themen der Steuer-, Sozial-, Mieten- oder Rentenpolitik abstimmen zu lassen oder beispielsweise über die Begrenzung von Managergehältern oder über außen- und sicherheitspolitische Themen.
Wann Volksabstimmungen schaden
Und ich bin auch dagegen, die Bevölkerung darüber abstimmen zu lassen, ob neue Flughäfen, Shoppingcenter, Wohngebäude usw. gebaut werden. In Berlin hat eine solche Abstimmung vor einigen Jahren dazu geführt, dass das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof nicht bebaut werden kann, obwohl das angesichts des Wohnungsmangels in der Stadt dringend notwendig gewesen wäre. Überall in Deutschland sind durch Volksbegehren und Volksentscheide sinnvolle Projekte verhindert worden – meist, weil linke Aktivisten und Vertreter von Sonderinteressen intensiv dagegen mobilisiert haben. So werden regelmäßig von einer Koalition linker und grüner Aktivisten einerseits und um den Umsatz ihrer altbackenen Geschäfte besorgter Einzelhändler andererseits, sinnvolle Shoppingcenter in Deutschland verhindert. Und Anwohner sind (aus ihrer Sicht verständlicherweise) fast immer dagegen, dass in ihrer Nachbarschaft neue Wohnungen gebaut werden oder dass ein Flughafen gebaut oder auch nur erweitert wird.
Ich finde jedoch eine Haltung, wie sie jetzt überdeutlich bei Grünen, SPD und Linken zutage tritt, unehrlich: „Volksabstimmungen ja – aber nur zu den Themen, wo ich erwarte, eine Mehrheit zu bekommen.“ Als Argument für Volksabstimmungen werden immer die Schweizer angeführt, bei denen das zugegebenermaßen recht gut funktioniert. Aber die Schweizer sind weniger egalitär eingestellt als unsere deutsche Neidgesellschaft, bei der Volksabstimmungen vermutlich zu noch mehr Umverteilung und noch mehr Steuern führen würden. Wenn man mit unfähigen Regierungen unzufrieden ist, müssen diese unfähigen Regierungen abgewählt werden.
Aber: Wer A sagt, muss auch B sagen: Deshalb müssten SPD, Grüne und Linke in der Hauptstadt – seit Jahr und Tag die eifrigsten Kämpfer für mehr Plebiszite – den Volksentscheid zu Tegel jetzt in die Tat umsetzen. Wenn sie das nicht tun, werden sie noch weiter an Glaubwürdigkeit verlieren, was am besten in Neuwahlen gezeigt werden könnte.
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Netter Kommentar, nur leider vollständig am Thema vorbei. Bei der Volksabstimmung ging es nicht darum, was man mit dem Tempelhofer Feld so alles schönes machen könnte wenn man denn wollte, sondern darum, was der Senat ganz konkret vorhatte, damit zu machen. Und diese Pläne sind zu Recht abgelehnt worden. Teure Wohnungen für Spitzenverdiener gibt es jetzt schon in reicher Auswahl, noch mehr davon sind völlig unnötig. Und als Bauplatz für preiswerte Wohnungen – wenn man die denn wirklich bauen will – gibt es immer noch Tausende von Baulücken in Berlin, die der Krieg gerissen hat und die derzeit als Parkplätze,… Mehr
Wir bräuchten eigentlich nur wirkliche Demokratie und keine Lobbyherrschaft im demokratischen Gewand.
Die Schweiz ist einzige Demokratie auf der Welt
Plus: Bildung wird in Deutschland ebenfalls vom Staat kontrolliert. Man sieht ja was dabei herauskommt!
Toller Kommentar, danke!
Herr Zitelmann hat was die Schweiz betrifft aus meiner Sicht Recht. Der gleiche Volksentscheid x ginge in Deutschland fundamental anders aus als in der Schweiz. Auch die o.g. Beispiele von Herrn Zitelmann finde ich überzeugend. Der deutsche würde in fast jedem Fall für mehr Staat stimmen.
Ich muss zugeben, dass mich beim Schreiben dieser Gedanke auch ereilte. Aber man hat eben auch gute Tage. Dennoch glaube ich eher, dass ein Umschwenken schneller erfolgen könnte, da Negatives schnell spürbar wird und sich unmittelbar auf die eigene Entscheidung zurückführen lässt. Nichts ist schließlich mehr in Stein gemeißelt. Bleibt noch die Frage, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen und die verwaltungstechnischen Gegebenheiten schnelleres Reagieren auch möglich machen. Auch hier ist Skepsis angebracht.
Das ist eigentlich auch der Grund, weshalb man wählt: dass die Partei, die man für die bessere hält, die Regierung stellt. Der große Unterschied liegt darin, dass mit der Wahl für 4 Jahre ein Blankoscheck ausgestellt wird. Von dem wissen alle Beteiligten, dass ihn ausschließlich der Empfänger nach eigenem Gutdünken verwenden kann. Ein Volksentscheid würde da doch ein wenig regulierend eingreifen.
Wenn die Kunden sich beteiligen würden, wäre das richtig. Aber die Mobilisierungskraft der Gegner ist leider unendlich viel größer als der Befürworter. Ob das Shoppingcenter gebraucht wird oder nicht, entscheiden am Ende die Kunden, die dort kaufen. Und kein Projektentwickler investiert hunderte Millionen, ohne vorher akribisch zu prüfen, dass der Bedarf da ist. In den meisten Fällen hat er dann auch Recht, und wenn er Unrecht hatte, ist er der größte Leidtragende, weil er Millionen verloren hat.
„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn! Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen. Der Staat muß untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“
(Friedrich Schiller)
Demokratie ist ein Kompromiss, um den durch die natürlichen Eigenschaften des Menschen automatisch (ab einer bestimmten Gruppengröße) entstehenden Totalitarismus irgendwie zu bändigen. Menschen neigen zur Herdenbildung und zum Gruppendruck. In einer (echten) Demokratie bestimmen 51% Prozent des Volkes, wohin der Weg geht. In allen anderen Systemen bestimmen die, die das Geld und die Schießeisen haben, wohin der Weg geht. Und das sind meist weit weniger als 51%. Eine Welt ohne System (also echte Anarchie) ist nicht denkbar, da sich Menschen fortwährend organisieren, um ihre persönliche Situation (auch auf Kosten anderer) zu verbessern. Wenn Sie die Demokratie abschaffen wollen, ohne dabei… Mehr
Auch die Schweizer Zeitungen leisten einen Beitrag, in dem sie vor den Abstimmungen das für und wider in der Sache abklopfen. Die weitgehend regierungsfromme Presselandschaft in Deutschland ist davon meilenweit entfernt. Bei uns lohnt sich das zu Gemüte führen der „Qualitätspresse“ nur noch, wenn man Wert darauf legt, mit möglichst viel ideologisch motivierter Propaganda eingedeckt zu werden.