Einer der wesentlichen Gründe für den raschen Erfolg der Laufmaschine von Karl Drais lag in einer Klimakatastrophe begründet. Als die Folgen der Tambora-Kälte vorbei waren, wurde Hafer wieder erschwinglich und die Leute stiegen wieder auf Pferde um.
Die erste öffentliche Fahrt vor genau 200 Jahren erregte ziemliches Aufsehen. Da »raste« ein Mensch mit für damalige Verhältnisse beachtlicher Geschwindigkeit von Mannheim ins benachbarte Schwetzingen. Mit 15 Kilometer pro Stunde erreichte er ein sensationelles Tempo; schneller konnte sich vorher noch nie ein Mensch bewegen – angetrieben nur von seinen eigenen Kräften. Er überholte damit sogar eine Postkutsche.
Sein Fahrzeug war ein Laufrad, der Urtyp des Fahrrades. Zwei hölzerne Räder verbunden mit einem Holzrahmen, darauf eine Sitzbank – Pedale gab es noch nicht, der Radler stieß sich mit den Füßen ab und rollte ein kurzes Stück, ehe er mit dem nächsten Tritt einen weiteren Schub nach vorn erzeugte.
Das war am 12. Juni 1817, der kühne Mensch hieß Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr von Drais, ursprünglich ein badischer Forstbeamter. Er kam auf die scheinbar einfache, aber geniale Idee, zwei Räder miteinander zu verbinden und den Fahrer mit einer Lenkung balancieren zu lassen.
Die erste Laufmaschine hatte eine bewegliche Lenkstange, die das Vorderrad nach rechts und oder links drehen und somit der Laufmaschine eine bestimmte Richtung geben konnte. Nur mit einem beweglichen Vorderrad und mit ständigen Gegenbewegungen gegen das Umkippen ist das Fahrrad balancierbar. Später kam dann eine Bremse hinzu, die auf die Lauffläche wirkte und das Gefährt abbremste.
Keine Frage: Drais hatte damit Hightechnologie nach Baden gebracht – ebenso wie ein knappes Jahrhundert später Karl Benz und Gottlieb Daimler mit dem Automobil. »Das Laufrad war zugleich der Urknall der Mobilität«, sagt der Technikhistoriker Prof. Hans-Erhard Lessing, der wohl kompetenteste Drais-Forscher, der alle Details rund um Drais in beeindruckender Weise zusammengetragen und die bisherige Geschichtsschreibung über Drais korrigiert hat. »Denn erstmal setzten sich tausendfach Leute auf Maschinen statt auf Pferde und fuhren individuell in die Umwelt hinaus«.
»Die amerikanischen Technikhistoriker sagen ganz klar: Automobil und Aeroplane stammen vom Fahrrad direkt ab. Insofern war diese Basisinnovation des Zweiradprinzips zugleich der Urknall für den mechanisierten und heute motorisierten Individualverkehr weltweit.«
Einer der wesentlichen Gründe für den raschen Erfolg der Laufmaschine lag in einer Klimakatastrophe begründet: Auf der anderen Seite des Erdballes brach am 10./11. April 1815 der Vulkan Tambora aus. Der stärkste Ausbruch eines Vulkans in den vergangenen 10.000 Jahren brachte nicht nur 50.000 Menschen auf Bali und den Nachbarsüdseeinseln den Tod, sondern schleuderte solch ungeheure Mengen an Asche und Staub in die Atmosphäre, dass sich die Erde verdunkelte.
Die Winde in der Atmosphäre verteilten die Asche in alle Himmelsrichtungen über den Erdball. Sonnenstrahlen drangen kaum noch durch Wolken und Staubschichten. Eine folgende mehrjährige Abkühlung um drei bis vier Grad wird auch als Tambora-Kälte bezeichnet. Das legendäre »Jahr ohne Sommer« begann. Missernten in Europa und den USA sowie Seuchen in Indien waren die Folgen. Die Cholera verbreitete sich in Europa.
Eine Folge der schlechten Ernten: Der Haferpreis stieg. Das erhöhte die Kosten für das übliche Transportmittel, Pferde. Gute Voraussetzungen wiederum für eine neue Verkehrsmaschine, die billiger als Pferd und Postkutsche waren, eben jene Laufmaschine des Karl Freiherr von Drais.
Hans-Erhard Lessing: »Diese Laufmaschine war damals den Zeitgenossen höchst willkommen, denn 1816 gab es eine Missernte. Es hatte im Sommer geschneit. Danach wurden die Pferde notgeschlachtet. Der Verkehr brach völlig zusammen. Der Haferpreis war so wie der Ölpreis heute verkehrsbestimmend. Da erschien es den Leuten wie ein ›Ei des Kolumbus‹ plötzlich ohne Pferd vorwärtszukommen.«
Drais hatte bereits klar erkannt: Wenn der Mensch geht, muss er einen Teil seiner Energie dafür verwenden, um seinen Körper aufrecht zu halten und bei jedem Schritt ein wenig anzuheben. Wenn er diese Energie nur für die Vorwärtsbewegung benötigte, müsste er deutlich schneller als zu Fuß sein.
Der badische Forstmeister hatte früher bereits einen vierrädrigen Wagen konstruiert, der nur mit Muskelkraft angetrieben wurde und das Gefährt sogar 1814 den hohen Herrschaften vor dem Wiener Kongress vorgestellt. Allerdings machten die schlechten Straßenverhältnisse dem Konzept sehr schnell einen Strich durch die Rechnung.
Drais vereinfachte sein Gefährt radikal: Er ließ zwei Räder weg. Ein einspuriges Fahrzeug reicht zur Fortbewegung, wenn der Fahrer lenken und balancieren kann. Zwei Räder weniger vermindern den Energieaufwand beim Rollen beträchtlich gegenüber vier Rädern. Zudem kann der Fahrer besser Löchern, Schlamm und Matsch auf den Wegen ausweichen. Eine Revolution im Verkehrswesen.
Der badische Großherzog Carl verlieh ihm ein »Großherzogliches Privileg«, eine Art Patent, für seine Laufmaschine; der badische Beamte Drais durfte seine Maschine allerdings nicht selbst vermarkten, sondern wurde zum Professor für Mechanik ernannt. Er hatte früher immerhin bereits mathematische Abhandlungen verfasst, eine Näherungslösung für numerische Gleichungen entwickelt, einen Vorläufer der Schreibmaschine konstruiert und eine Binärkodierung entwickelt, ähnlich wie sie heute Grundlage für Rechner ist.
Wagner bauten weltweit die Laufmaschinen des Karl Drais in allen möglichen Formen nach.
Das Jahr 1817 wird wieder ein erfreuliches Jahr, die warme Witterung lässt das Getreide wieder wachsen, die Ernten fallen gut aus. Der Haferpreis sinkt, man kann sich wieder Pferde leisten. Und schon bald wird der Siegeszug des Fahrrades durch Verbote gestoppt; denn die frühen Radler mühen sich nicht über die zerfurchten Straßen, sondern rollen über die gepflasterten glatten Gehwege und geraten mit Fußgängern in Konflikt. Ein Thema, das uns bekannt vorkommt. Weltweit untersagen Städte alsbald das Radfahren und blockieren damit für rund 50 Jahre dessen Entwicklung.
Für Karl von Drais brechen schwierige Zeiten an. Mannheim wird Schauplatz des ersten politischen Mordes in Deutschland. Es ist die Zeit der Urburschenschafter, sehr unterschiedliche Gruppierungen, Freiheit, Demokratie, Einheit Deutschlands auf den Fahnen.
Ein Teil radikalisiert sich. Aus heftigen Stammtischdisputen (»Es ist am Ende bloße Feigheit oder doch Gefühlsverweichlichung, wenn wir von rechtmäßigen Mitteln zur Erlangung der Volksfreiheit reden wollen, weil ja Niemand ein Recht haben kann, sie vorzuenthalten; wir müssen sie erlangen durch jedes Mittel, welches immer sich uns bietet. Aufruhr, Tyrannenmord und Alles, was man im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet und mit Recht straft, muß man einfach zu den Mitteln zählen, durch welche, wenn andere Mittel fehlen, die Volksfreiheit zu erringen ist, zu den Waffen, welche gegen die Tyrannen allein uns übrig bleiben.« (Grundsatz der Unbedingten)) werden gefährliche Justifikationen für Mord.
Der etwas minder bemittelte radikale Burschenschafter Karl Ludwig Sand (ein Freund: »Die wissenschaftliche Arbeit wurde ihm sehr schwer, seine Auffassungsgabe war beschränkt, das Gedächtnis nahm nur mit Mühe an, schwer oder garnicht war mit Gründen dem beizukommen, was er erfaßt zu haben meinte, und er konnte dabei sehr erregt und bitter werden; aber seine Gesinnung war höchst edel«) ersticht in dessen Wohnung in der Mannheimer Innenstadt August von Kotzebue, damals ein populärer Schriftsteller und russischer Generalkonsul.
Der Mörder Sand wird vom Oberhofgericht Mannheim zum Tode verurteilt. Vorsitzender Richter ist der Vater des Fahrraderfinders Drais. Gegen Karl Drais selbst beginnt jetzt eine Hetzjagd der Anhänger des Burschenschafters Sand. Er flieht nach Brasilien, kehrt einige Jahre später wieder zurück. Der Anwalt Sands entfacht daraufhin einen privaten Fehdefeldzug gegen Drais und lässt eine Schlägerei in einer Kneipe vom Zaun treten. Daraufhin verliert Drais seinen Status als »Kammerherr« mit der Folge, dass er nicht mehr bei Hofe vorgelassen wird. In bisherigen Geschichten über Drais wird diese Kneipenschlägerei als Beleg angeführt, um Drais lächerlich zu machen.
Zudem bekennt sich Karl Drais als Demokrat und Anhänger der badischen Revolution, gibt seinen Adelstitel zurück und will nur noch als »Bürger Drais« angeredet werden. 1838 entgeht er in Mannheim knapp einem Mordanschlag und zieht sich daraufhin in ein kleines Dorf im Odenwald zurück. Die preußische Besatzungsmacht verfolgt ihn, den es wieder in seine Geburtsstadt Karlsruhe zieht. Die Staatsmacht versucht, ihn zu entmündigen, seine Geschwister können das gerade noch verhindern. Doch seine Pension wird beschlagnahmt. Karl Drais stirbt völlig verarmt am 10. Dezember 1851.
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Eine ziemlich traurige Geschichte. Eine sehr deutsche dazu.
Sehr spannend geschrieben, Herr Douglas. Manche Analogie zur Gegenwar drängt sich auch ohne Holzhammer auf.
Subtiler Hinweis, Herr Douglas. Allerdings haben wir keine Zensur der Presse, sondern nur „staatstragende Selbstbeschränkung“…
Und die Erfindung des Laufrads ist in seiner Bedeutung mit jener des Grenzzauns (durch die AfD) auch nicht zu vergleichen.
Not macht erfinderisch. Genauer hingeschaut: die ganze Welt war von der Not erfasst und wohl nur aus einer Ecke dieses heimgesuchten Planeten kommen Lösungsvorschläge. Es kann wohl kein Zufall sein, sieht man sich die Zahl der dann später in diesem Land errungenen „MINT“-Nobelpreise an und vergleicht sie mit den damals fortschrittlichen Ländern. Auch würde eine vergleichende Untersuchung Licht ins Dunkel bringen, eine Untersuchung, die zusammenzählt, wer damals Willens und in der Lage war aus der allgemeinen Not nach der Tambora-Katastrophe eine Tugend zu machen. Mithin die Frage: was schufen „die anderen“? Und: haben wir denn nicht gelernt, dass der „gesellschaftliche… Mehr