Tichys Einblick
Setzt Starmer Blairs wokes Projekt fort?

Die britischen Unterhauswahlen und der Untergang der Tories

Viele Beobachter meinen, dass Starmer das von Blair begonnene Projekt einer Transformation der englischen Gesellschaft fortsetzt, sodass es immer schwieriger für die Tories wird, überhaupt noch alternative politische Optionen zu artikulieren.

Tony Blair (links) spricht mit Labour-Chef Sir Keir Starmer während der Konferenz „Future of Britain“ des Tony Blair Institute for Global Change im Zentrum von London (Archiv). Ausgabedatum: 5. Juli 2024

picture alliance / empics | Stefan Rousseau

In der Geschichte großer politischer Niederlagen wird der 4. Juli 2024, jedenfalls wenn man auf Großbritannien blickt, einen besonders prominenten Platz einnehmen, Noch nie seit 1906 (damals verloren sie 246 Sitze) haben die Tories eine so vernichtende Niederlage erlitten wie bei dieser Wahl. Mit etwa 24 Prozent der Stimmen und – das ist das Entscheidende – nur rund 120 Sitzen im Unterhaus, stehen sie vor einem Scherbenhaufen.

Mehr als 40 Minister und Staatssekretäre haben ihren eigenen Sitz im Unterhaus verloren. Der Tories-Erdrutsch bescherte Labour mit knapp 35 Prozent der abgegebenen Stimmen weniger als vorhergesagt, was für fast zwei Drittel der Sitze im Parlament reicht – deutlich weniger, als der eigentlich wenig beliebte Jeremy Corbyn bei der Wahl von 2017 für Labour gewinnen konnte und nur mit einem Zugewinn von etwa zwei Prozentpunkten gegenüber 2019. Und diese zwei Prozentpunkte gewann Labour vor allem in Schottland, wo die SNP (die schottischen Nationalisten) vernichtend geschlagen wurde, nicht in England und Wales.

Die Spaltung des konservativen Lagers

Entscheidend war am Ende, das kann man nicht stark genug betonen, nicht die Begeisterung der Wähler für Labour, sondern die Spaltung des konservativen Lagers, denn viele konservative Wähler, namentlich in den bisher von den Konservativen gehaltenen Wahlkreisen, stimmten für die rechtsgerichtete Protestpartei Reform und ihren prominenten Sprecher Nigel Farage, der bis zum Brexit-Referendum die ähnlich ausgerichtete Partei Ukip geführt hatte. Reform kam auf ca. 14 Prozent der Stimmen, wenn auch nur auf sehr wenige – nur vier – Sitze; das ist nun einmal die seltsame Logik des englischen Wahlrechts.

Festzuhalten bleibt aber, dass Labour trotz seines Sieges weniger Stimmen erhielt als Tories und Reform zusammen, das ist dann doch recht bemerkenswert. Von einem deutlichen Linksrutsch kann bei dieser Wahl also am Ende nur mit großen Vorbehalten die Rede sein, auch wenn man die Stimmen für die Liberaldemokraten (knapp 12 Prozent) und für die recht radikalen britischen Grünen (7 Prozent) ebenfalls dem linken Lager zurechnen muss, das somit insgesamt die klare Mehrheit der Wähler hinter sich weiß.

Das relativ gute Ergebnis für die Grünen, in Großbritannien eher Außenseiter, dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass viele muslimische Wähler, die sonst Labour gewählt hätten, diesmal der Partei die Stimme verweigerten, weil sie eine stark gegen Israel gerichtete Politik wollen, zu der Starmer, der Führer von Labour, nicht bereit ist. Jedenfalls hat Labour in Wahlkreisen mit einer großen muslimischen Bevölkerung deutlich an Rückhalt verloren. Davon haben zum Teil auch unabhängige Kandidaten profitiert, die faktisch rein muslimische Anliegen vertreten, ein Zeichen für die zunehmende Tribalisierung der englischen Gesellschaft.

Katastrophe mit Ansage

Per saldo ist und bleibt das Ergebnis für die Tories eine Katastrophe. Aber es war eine Katastrophe mit Ansage. Schon vor etwa zwei Jahren zeichnete es sich ab, dass es den britischen Konservativen schwerfallen würde, noch einmal eine Unterhauswahl zu gewinnen. Zwar hatten sie 2019 unter den Vorzeichen des Brexit einen klaren Sieg errungen mit einem Stimmenanteil von knapp 44 Prozent, der ihnen auch deshalb eine so deutliche Mehrheit im Unterhaus einbrachte, weil Labour von 40 Prozent (2017) auf 32 Prozent abrutschte. Aber die Wahl stellte eine Ausnahmesituation dar. Corbyn, der damalige Führer der Labour Party, galt weithin als fanatischer linker Ideologe und als verschroben, und überdies konnte Boris Johnson an der Spitze der Tories viele alte Labour-Wähler im Norden Englands für seine Partei gewinnen. Diese Wähler hatten im Referendum von 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt und waren über die Versuche, diesen Austritt zu vereiteln oder durch Sondervereinbarungen mit der EU bedeutungslos werden zu lassen, wütend.

Es war aber von Anfang an klar, dass es schwer sein würde, diese Wähler auf Dauer im konservativen Lager zu halten. Das Problem war, dass weder der unstete und frivole Boris Johnson noch sein Nachfolger Rishi Sunak einen ernsthaften Versuch unternahmen, den Wünschen dieser Wähler entgegenzukommen. Dazu hätte man zum einen wirtschaftspolitisch die abgehängten, deindustrialisierten Regionen Großbritanniens im Norden massiv fördern müssen und zum anderen hätte man die Zuwandererzahlen senken müssen, denn genau das erwarteten sich weiße Wähler aus der unteren Mittelschicht und Arbeiterschaft, die 2019 für die Tories gestimmt hatten, nach dem Brexit. Für regionale Wirtschaftsförderung fehlte den Regierungen der letzten Jahre schlechterdings das Geld. Die Zuwanderung erreichte hingegen seit 2020 Dimensionen wie noch nie zuvor in den letzten Jahrzehnten. 2023 wanderten 1.218.000 Personen nach Großbritannien ein, 85 Prozent davon aus Nicht-EU-Ländern. Das gab es so vorher noch nie.

Einwanderer oft angelernte oder ungelernte Arbeitskräfte

Ganz überwiegend handelt es sich in Großbritannien bei den Einwanderern allerdings keineswegs wie in Deutschland um Flüchtlinge (oder Personen, die den Flüchtlingsstatus beanspruchen), sondern um legale Arbeitsmigranten, oder um Personen, die im Rahmen des Familiennachzugs oder mit einem Studentenvisum ihren Wohnsitz nach Großbritannien verlegen. Die illegalen Zuwanderer, die seit einigen Jahren mit kleinen Booten von Frankreich aus über den Kanal nach Großbritannien kommen, fallen hingegen zahlenmäßig kaum ins Gewicht, so groß auch die öffentliche Aufregung ist, die dieses Phänomen auslöst.

Faktisch setzten sowohl Johnson als auch Sunak – Liz Truss, die kurzfristig auch Regierungschefin war, aber bekanntlich schneller in diesem Amt verwelkte als ein Kopf Salat im Regal eines Supermarktes, spielte hier keine Rolle – bewusst auf mehr nicht-europäische Immigration, um die negativen wirtschaftlichen Effekte des EU-Austritts aufzufangen. Bis zu einem gewissen Grade ging diese Rechnung, wenn man auf die Zahlen für das BIP blickt, auch auf; die von vielen vorhergesagte wirtschaftliche Katastrophe als Folge des Brexit blieb weitgehend aus, auch wenn der EU-Austritt sicherlich die wirtschaftliche Gesamtlage nicht gerade verbesserte, sondern seinen eigenen Beitrag zur relativen Stagnation der letzten Jahre leistete. Nur, da es sich bei den Immigranten oft um bestenfalls angelernte oder ungelernte Arbeitskräfte handelt, stagniert seit etlichen Jahren in Großbritannien die Produktivität pro Arbeitsstunde weitgehend. Der Wendepunkt hin zur Stagnation war hier freilich schon die Finanzkrise von 2007/08, von der sich die Banken und Finanzdienstleister, die im Grunde den eigentlichen Kern der britischen Wirtschaft bilden, nie wieder ganz erholten.

Staatsquote 44 Prozent (Deutschland 48)

Weil das Wirtschaftswachstum nachließ und die Corona-Krise den Staatshaushalt zusätzlich stark belastete, fehlt auch an vielen Ecken das Geld. Die unendlich vielen Schlaglöcher, die zumindest auf Nebenstraßen in Großbritannien das Autofahren zu einem gefährlichen Hindernislauf machen, sind ebenso eine Folge dieser Finanzkrise wie die nachlassenden Leistungen des NHS, des staatlichen Gesundheitssystems, bei dem man auf wichtige medizinische Eingriffe oft monatelang oder noch länger warten muss. Auch besteht kein Zweifel, dass die Inflation der letzten drei Jahre und besonders die gestiegenen Energiekosten viele ärmere Briten in Bedrängnis gebracht haben. Für alle diese Missstände machen die Wähler jetzt die Tories verantwortlich, und dies erklärt die Wahlniederlage, die die Konservativen erlitten haben, zu großen Teilen, wenn auch nicht ausschließlich.

Man muss auch einräumen, dass seit den Thatcher-Jahren, also seit den 1980er Jahren, die Tories nicht gerade als eine Partei bekannt sind, die sich primär um sozial Schwächere kümmert. Aber man muss auch sehen, dass die Staatsquote seit der Finanzkrise in Großbritannien stark angestiegen ist, von unter 40 Prozent auf jetzt etwa 44 Prozent (zum Vergleich: in Deutschland liegt sie mittlerweile bei etwa 48 Prozent); ein Land wirklich niedriger Staatsausgaben ist Großbritannien also nicht mehr trotz der Tory-Regierungen der letzten 14 Jahre. Die Vorwürfe, die man der bisherigen Regierungspartei macht, sie habe ohne Not eine Austerity-Politik auf Kosten der Ärmeren betrieben, sind daher mit Skepsis zu betrachten; zumindest zum Teil waren die Einsparungen alternativlos.

Die Tories haben wie viele traditionelle Mitte-Rechts-Parteien ein Glaubwürdigkeitsproblem bei konservativen Wählern

Nach der jetzigen Wahlniederlage werden natürlich viele Analysten besonders beim deutschen Staatsfernsehen – man denke an die großartige Frau Dittert mit ihrem brennenden Hass auf die Tories, die bösen Brexiteers und die angeblich immer noch übermächtige alte adlige Oberschicht – und bei anderen Medien darauf beharren, diese Katastrophe sei vor allem eine Quittung für den Teufelspakt, den die Konservativen 2016 mit den bösen Rechtspopulisten eingingen, indem sie die Bürger über ein Referendum abstimmen ließen, das die Mitgliedschaft in der heiligen EU zum Gegenstand hatte, und dann – welch Grauen – das Ergebnis des Referendums auch noch respektierten. Man habe damals versucht, mit dieser Finte die rechte Protestpartei UKIP, die den Konservativen viele Stimmen wegzunehmen drohte, lahmzulegen, jetzt aber bei der diesjährigen Wahl sei UKIP wieder auferstanden in Gestalt von Reform und habe die Tories nun erst recht zerstört. Niemals, niemals dürfe man sich auf einen Dialog mit den bösen Populisten einlassen. Vielmehr müsse man konsequent alle sogenannten Probleme, die diese „Volksverführer“ ansprächen, einfach für nicht-existent erklären, das habe schon immer funktioniert.

Aber stimmt das? Ein Blick auf Frankreich könnte hier hilfreich sein. Frankreich ist jedenfalls nicht aus der EU ausgetreten und der Politik des französischen Präsidenten kann man auch kaum vorwerfen, dass sie besonders rechtslastig ist, auch wenn er gelegentlich in der Tat die besonderen Probleme einer Gesellschaft mit weitgehend offenen Grenzen oder die Gefahren, die von einem radikalen Islam ausgehen, angesprochen hat. Das Rassemblement National hat dennoch bei den jüngsten Parlamentswahlen im ersten Wahlgang 33 Prozent der Stimmen erhalten, mehr als je zuvor.

Dass Reform mit seinen zum Teil recht exzentrischen und schrägen Kandidaten jetzt bei den britischen Wahlen genug Stimmen einsammeln konnte, um den Konservativen – die vermutlich ohnehin verloren hätten – den Gnadenstoß zu versetzen, liegt eben auch daran, dass es den Tories wie vielen Mitte-Rechts-Parteien in Europa an Glaubwürdigkeit fehlt. Ob es nun um den Umgang mit einer von den Zahlen her kaum noch zu bewältigenden Zuwanderung geht, oder um den Versuch, im Sinne einer umfassenden Identitätspolitik ethnische und sexuelle Minderheiten vor jedem Anpassungsdruck zu schützen und sogar noch im Sinne des Evangeliums der Vielfalt und Inklusion zusätzlich zu privilegieren und in ihrer Andersartigkeit zu schützen; die Tories haben dagegen gelegentlich rhetorisch protestiert, aber an den entsprechenden Gesetzen, die Labour unter Blair verabschiedet hatte, haben sie natürlich nichts geändert.

Nur deshalb war es in Großbritannien in den letzten Jahren möglich, Kritik an Entwicklungen, die viele Briten als kulturelle Überfremdung oder als Bevormundung durch woke Eliten empfanden, als „hate speech“ zu denunzieren und gegebenenfalls sogar strafrechtlich zu verfolgen. Dass das enttäuschte konservative Wähler zu Reform hat abdriften lassen, obwohl diese neue Partei mit ihrem improvisierten Programm nur sehr begrenzt als seriös gelten kann, überrascht nicht.

Was bringt die Zukunft?

Nun, nachdem Farage die Tories endgültig ins Aus manövriert hat, hat Labour jetzt freies Feld. Keir Starmer, der neue Premierminister, wird vermutlich in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik zunächst einen eher vorsichtigen Kurs steuern. Viele Beobachter geben aber davon aus, dass er versuchen wird, das von Blair begonnene Projekt einer Transformation der englischen Gesellschaft fortzusetzen, sodass es immer schwieriger für die Konservativen sein wird, überhaupt noch alternative politische Optionen zu artikulieren. Man wird vermutlich die positive Diskriminierung von „benachteiligten Gruppen“ jeder Art ausbauen, was auf Kosten meritokratischer Prinzipien gehen wird, und Labour wird wohl auch das Feld dessen, was überhaupt noch an politischen Meinungen öffentlich artikuliert werden kann – etwa, wenn es um die Kritik am Islam oder an Lobbygruppen, die aggressiv für sexuelle Minderheiten eintreten, geht – weiter einschränken.

Generell wird die Macht, die die Gerichte über das gesellschaftliche Leben ausüben, größer werden – Starmer ist nicht umsonst von Haus aus Jurist. Es wird, wenn man einer „geschützten“ Minderheit angehört, noch einfacher werden, einen Arbeitgeber wegen angeblicher Diskriminierung zu verklagen oder einen Kollegen wegen vermeintlicher „Mikroaggressionen“ rechtlich zu belangen. Dies alles wieder zurückzudrehen, sollten die Konservativen in absehbarer Zeit überhaupt wieder die Regierung stellen, etwa in 10 oder 15 Jahren, wird so gut wie unmöglich sein. Gute Aussichten für die Konservativen sind das nicht.

Überdies müssen sie sich entscheiden, wen sie zum neuen Parteiführer wählen wollen. Kemi Badenoch, die nach dem Rücktritt Johnsons törichterweise übergangen wurde, und die bereit ist, für genuin konservative Positionen offensiv zu streiten, wäre eine mögliche Kandidatin (ihren Wahlkreis in Essex konnte sie halten), gilt aber vielleicht für viele Abgeordnete als nicht zentristisch genug und zu konfliktfreudig. Das würde für die oft schrill auftretende Suella Braverman, die ebenfalls dem rechten Parteiflügel angehört, allerdings noch mehr gelten. Das bleibt abzuwarten. Jetzt wird erst einmal ein massiver Katzenjammer bei den Tories einsetzen, ein langes, wenn nicht gar endloses Heulen und Zähneknirschen.

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