Tichys Einblick
Nigel Farage 13 Sitze, Schottische SNP 10

Tory-Einbruch bringt Labour große Mehrheit – Keir Starmer neuer Premier

Nachwahlbefragungen britischer TV-Sender zufolge bekommt Labour 410 der 650 Unterhaus-Sitze (absolute Mehrheit 326 Sitze). 131 Sitze wären die schlimmste Niederlage für die Konservativen seit 1906. Das Ergebnis sei nicht die Wahl von Labour, sondern die Abwahl der seit 14 Jahren regierenden Tories.

Keir Starmer, London, 4. Juli 2024

picture alliance / NurPhoto | Jakub Porzycki

In Großbritannien kam es bei den gestrigen Parlamentswahlen zu einem Erdrutsch der Tories und einem klaren Sieg der Labour-Partei. Nachwahlbefragungen britischer TV-Sender zufolge bekommt Labour 410 der 650 Unterhaus-Sitze (absolute Mehrheit 326 Sitze). 131 Sitze wären die schlimmste Niederlage für die Konservativen seit 1906. Dem bisherigen Premierminister Rishi Sunak gelang das Kunststück, 214 Sitze zu versenken. Eine Talfahrt hat auch die Schottische Nationalpartei SNP hingelegt, die 38 Sitze verlor und jetzt auf 10 Sitze kommt.

Die Liberalen erhalten 61 Sitze, ein Plus von 53. Nigel Farage soll mit seiner Reform-Partei auf 13 Mandate kommen. Er hatte einst wesentlich für den Austritt Großbritanniens aus der EU gekämpft. Nigel Farage erklärte, dass »die Revolte gegen das Establishment im Gange ist«. Die Grünen sollen einen Sitz mehr erreichen und dann mit zwei Sitzen im Unterhaus vertreten sein.

Es ist angerichtet
Die Briten wählen sich eine Regierung, und niemand kann sie aufhalten
Als im ersten Wahlkreis des Abends, in Sunderland South, die Wahlergebnisse bekannt gegeben wurden, zeichnete sich ein enormer Zuwachs für Farage ab; die Tories stöhnten entsetzt auf. Nicht zuletzt, um Farage in die Schranken zu verweisen, hatten sie vorzeitige Neuwahlen ausgerufen. Es sind wohl viele ehemalige Tory-Wähler zur Reform-Partei gewechselt, die sich von der Partei unter Rishi Sunak abgewandt hatten.

Der neue Premierminister heißt also Keir Starmer. Heute wird König Charles ihn mit der Regierungsbildung beauftragen, nachdem Rishi Sunak, der erste Premierminister mit asiatischer Herkunft zurückgetreten ist. Keine zwei Jahre war er im Amt. Das Wahlergebnis sei nicht die Wahl von Labour, heißt es allgemein, sondern die Abwahl der seit 14 Jahren regierenden Tories – zuletzt eben unter Premier Rishi Sunak.

Keir Starmer will die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda beenden, mit denen Sunak das massive Migrationsproblem lösen wollte, die Wartelisten im Gesundheitswesen abbauen. Viele Gemeinden stehen vor dem Bankrott, die Infrastruktur ist veraltet, viele Straßen sind ein einziges Schlagloch. Geld für Investitionen ist nicht da, obwohl die Steuern nur eine Richtung kennen: aufwärts. Starmer hofft, die erheblichen Probleme Großbritanniens durch mehr Wirtschaftswachstum zu lösen.

Er habe Rishi Sunak gewarnt, dass eine Katastrophe bevorstehe, kommentierte David Frost im Telegraph am Abend den Ausgang der Wahl. Lord Frost war Chefunterhändler für den Austritt aus der Europäischen Union und anschließend von 2019 bis 2021 Kabinettsminister in der Regierung Boris Johnson.

Er stellte in einer harschen Kritik am Tory-Politpersonal ein völliges Ignorieren der Realität bei der Führung der Tories fest. Er verweist auf Suella Braverman, die im vergangenen Herbst zurückgetreten ist, bereits mit einer lauten Warnung vor einer Katastrophe. Doch sämtliche Warnungen wurden in den Wind geschlagen: »Die Clique um den Premierminister wusste es besser. Während eine Umfrage nach der anderen eine Katastrophe vorhersagte, wurde uns gesagt, dass Downing Street es am besten wisse.«

Großbritannien müsse über die Grenzen von Multikulti diskutieren, so Frost früher während des Wahlkampfes: »Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Wenn Sie etwas Falsches sagen, stürzt sich die Linke auf Sie und fordert, dass Sie abgesetzt werden. Es ist einfacher, zu schweigen.«
Er sieht die Ursache in der Bewegung der Konservativen weg vom tatsächlichen Konservatismus, dann natürlich die absolute Unfähigkeit, die illegale Einwanderung in den Griff zu bekommen. Stattdessen habe man unbequeme Tatsachen verdrängt, sich um Themen wie Rauchverbot gekümmert und völlig verkannt, dass das Vertrauen in die Führung bereits zerbrochen war. – Erinnert stark an Deutschlands Ampel.

Politiker aber müssten oberflächlichen Verallgemeinerungen – wie »es läuft doch alles gut« – widerstehen und die wirklichen Themen adressieren. Über Nebensächlichkeiten hätten sich die großen Parteien gestritten, hält Wirtschaftsjournalist Matthew Lynn im Telegraph Tories und Labour vor und wirft einen Blick auf die düstere Realität: »Großbritannien ist dem Bankrott viel näher, als unsere politischen Eliten zugeben wollen. Schlimmer noch, niemand will überhaupt darüber reden.« – Erinnert stark an Deutschlands Ampel und Union.

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Jetzt nach dem Wahlkampf lohne es, einen Blick auf die wirklich wichtigen Statistiken zu werfen: »Leider sind sie ernüchternd. Die Steuern sind bereits so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr, und dennoch sind wir weit davon entfernt, die Bücher auszugleichen. Nach Angaben des Office for Budget Responsibility (OBR) wird im Laufe dieses Jahres die Staatsverschuldung um weitere 87 Milliarden Pfund bzw. rund 3 Prozent des BIP steigen. Und das zu einer Zeit, in der sich die Wirtschaft erholt und die Regierung eine Reihe von drastischen Steuererhöhungen durchgesetzt hat.«

Es werden weiter riesige Schuldenberge angehäuft, 28 Prozent der Leute im erwerbsfähigen Alter würden bereits Sozialleistungen beziehen und seien auf staatliche Unterstützung angewiesen. »Großbritannien steuert auf finanzpolitisches Neuland zu. Angesichts der alternden Bevölkerung stehen wir vor zusätzlichen Ausgaben für das Gesundheits- und Sozialwesen. Die Zahl der Nichterwerbstätigen ist rekordverdächtig, und die Menschen, die weder Arbeit haben noch eine suchen, müssen irgendwie unterstützt werden.« – Erinnert stark an Deutschland.

Kommentator Matthew Lynn weist auf neuralgische globale Punkte hin: So würden die USA auf einer Welle noch nie dagewesener staatlicher Kreditaufnahme reiten, die Eurozone könne kein Wachstum erzielen und die chinesische Wirtschaft expandiere nicht mehr so wie vor zehn Jahren. »Es braucht nur einen leichten globalen Abschwung, um uns in den Abgrund zu reißen. Und niemand wagt es, dies zu erwähnen. Von den vielen Täuschungen im Laufe dieser Wahl war dies die größte von allen.«

Erinnert stark an Deutschland – oder?

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