Der deutsche Regierungschef Olaf Scholz und Polens Ministerpräsident Donald Tusk haben bei der heutigen Pressekonferenz einen gemeinsamen Aktionsplan angekündigt. Dieser habe eine „Weiterentwicklung und Intensivierung“ der deutsch-polnischen Beziehungen zum Ziel. Mit der Teilnahme an den „ersten Regierungskonsultationen seit sechs Jahren“ sendet der Bundeskanzler ein unmissverständliches Signal an Warschau: Berlin unterstützt Tusks linksliberale Regierung, obgleich sie in den letzten sechs Monaten einige rechtlich umstrittene Entscheidungen getroffen und eine ideologisch geprägte Spielart der legislativen Machtausübung an den Tag gelegt hat.
„Die globalen Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam bewältigen, die Sicherheit Europas nur gemeinsam verteidigen“, sagte Scholz zum Abschluss des Treffens in Warschau. Deutschland und Polen seien zwar inzwischen längst „verlässliche Freunde“ geworden, doch man müsse durch die Vertiefung der Kooperation auf vielen Ebenen noch einmal „eine neue Dynamik“ einbringen. Das 40-seitige Papier sieht insbesondere eine engere militärische Zusammenarbeit vor. Russland sei derzeit die „unmittelbarste“ und „größte“ Bedrohung für den Frieden in Europa, heißt es. Vor allem solle demnächst die Nato-Ostflanke gestärkt sowie die Sanktionsliste gegen Russland und Belarus ausgeweitet werden. Der Bundeskanzler hat noch einmal betont, dass das an die Ukraine, Belarus und Kaliningrad grenzende Polen eine neue Bedeutung als „Frontstaat“ erhalten habe.
„Wir werden die Interoperabilität und Standardisierung unserer Verteidigungskapazitäten verstärken, Produktionskapazitäten erhöhen und Investitionen unserer Verteidigungsindustrie fördern“, heißt es in dem Dokument. Im Bereich Munition sollen gemeinsame Initiativen entwickelt und künftig eine effektivere Zulieferung von Leopard-Ersatzteilen gewährleistet werden, die Polen und Deutschland der Ukraine zur Verfügung stellen. Warschau erwägt dem Papier zufolge ebenso eine Mitwirkung an der European Sky Shield Initiative (ESSI), einem in Berlin erdachten Projekt zum Aufbau eines verbesserten europäischen Luftverteidigungssystems.
In einem plötzlichen Anflug von Ehrlichkeit räumte der polnische Premier ein, dass der Aktionsplan eigentlich „nicht viel Konkretes“ böte, vor allem im Hinblick auf die Rüstungszusammenarbeit. Beide Kabinettchefs kamen noch einmal auf die Hilfe für polnische Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Die konservative Vorgängerregierung in Polen hatte Reparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro für die von Deutschland verursachten Schäden gefordert. Obschon Tusk von dieser Forderung absieht, hatte in der Vergangenheit auch er von einer „Notwendigkeit der moralischen, finanziellen und materiellen Wiedergutmachung“ Berlins gesprochen, die seines Erachtens nach wie vor ausstünde. Zu diesem Zeitpunkt ging der PO-Vorsitzende vermutlich gerade auf Stimmenfang. „Beide Regierungen führen einen vertieften Dialog über Maßnahmen zur Unterstützung für die noch lebenden Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung zwischen 1939 und 1945, des Gedenkens sowie der Sicherheit“, lesen wir in dem Papier. Konkrete Zahlen oder Zusagen konnte der mit zwölf Ministern angereiste Bundeskanzler allerdings nicht aus dem Hemdsärmel schütteln.
Jedoch scheint ein anderes Projekt deutlichere Konturen anzunehmen: Das Bundeskabinett hat vor genau einer Woche den von Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorgelegten Realisierungsvorschlag für das „Deutsch-Polnische Haus“ in Berlin beschlossen. Es sei ein zentrales „erinnerungspolitisches“ Vorhaben, mit dem ein Gedenkort für die Opfer der Besatzungsherrschaft des Dritten Reichs in Polen geschaffen sowie die jahrhundertlange Beziehungsgeschichte zwischen beiden Ländern ausgeleuchtet werden solle. Aber genau in diesem Zusammenhang gab es mit der Vorgängerregierung immer wieder Meinungsverschiedenheiten. Einige Minister der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatten zuvor Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, dass das Endresultat von den einstigen Plänen der Ideengeber abweichen könnte. Außerdem sei der Vorschlag zur Errichtung eines Denkmals für die polnischen Kriegsopfer verworfen worden. Stattdessen will die Ampelregierung, dass in der deutschen Hauptstadt ein Erinnerungsort entstehe, an dem nicht nur die Geschichte der Besatzungszeit und des deutschen Überfalls auf Polen, sondern die mehr als tausendjährige Verflechtungsgeschichte beider Nationen erzählt werde.
Die Bedenken in Warschau waren offenbar nicht ganz unbegründet, wenn sogar der frühere Bundestagsvorsitzende Wolfgang Thierse, einer der Initiatoren eines Denkmals für polnische NS-Opfer, vor einem Jahr in einem Interview mit dem Polnischen Rundfunk der eigenen Regierung vorgeworfen hatte, das im Jahr 2021 dafür ausgearbeitete Konzept „verändern“ und „verwässern“ zu wollen. „Ich bin 80 Jahre alt. Ich würde die Einweihung dieses Denkmals gern noch erleben. Aber ob dies auch wirklich geschieht“ – sagte der SPD-Politiker damals. Donald Tusk wiederum wird vermutlich an dem aktuellen deutschen Vorschlag nichts auszusetzen haben.
Während seines Warschau-Besuchs unterstrich Olaf Scholz mehrmals, dass er um „die Schwere der deutschen Schuld und Verantwortung“ sowie den daraus erwachsenden „Auftrag“ wisse. „Die Situation älterer Opfer ist eine, die uns sehr bewegt und da werden wir auch Aktivitäten unternehmen“, so der Kanzler. Von welchen Aktivitäten spricht er? Womöglich erfahren wir dies bei den nächsten Regierungskonsultationen. Vorher war jedenfalls erwartet worden, dass die Bundesregierung ein Finanzpaket für Polen vorlegen würde, das nach Informationen in den deutschen Medien eine dreistellige Millionenhöhe umfassen sollte. Dieses sollte sowohl Mittel für die Stärkung der Nato-Ostflanke als auch Entschädigungszahlungen für die 40.000 noch lebenden Opfer der deutschen Nazis enthalten.
Ebenso in energiepolitischen Fragen habe man sich in Warschau abgestimmt. Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen bekennen sich dazu, die Arbeit der ostdeutschen Raffinerie PCK in Schwedt und damit auch die Kraftstoffversorgung für den östlichen Nachbarn gemeinsam zu garantieren. Man werde die deutsch-polnische Kooperation von Konzernen in den Bereichen Rohölinfrastruktur in beiden Ländern fördern, so die Regierungschefs.
Darüber hinaus vereinbarten sie eine engere Abstimmung bei Grenzkontrollen und der Migration. „Wir werden darauf hinwirken, dass der Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen an den Binnengrenzen reibungslos funktioniert, indem wir die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit verbessern“, hieß es. Diese ließ bekanntlich zuletzt zu wünschen übrig, kam es doch gerade an der deutsch-polnischen Grenze zu diversen Dammbrüchen bei illegalen Einreisen. Die jüngst eingerichtete gemeinsame Taskforce gegen Schleusungskriminalität und zeitweilige deutsche Patrouillen auf polnischem Hoheitsgebiet sollen nun fortgesetzt werden. Beide Regierungen fordern überdies eine „solidarische“ Lastenverteilung in der Europäischen Union bei der Aufnahme und Finanzierung ukrainischer Kriegsflüchtlinge.
Was lediglich am Rande erwähnt wurde, ist die Tatsache, dass Polen zusätzlich noch mit drastischen Problemen an der Grenze zu Belarus zu kämpfen hat. Als im Mai ein polnischer Soldat entlang des dortigen Grenzstreifens patrouillierte, stach ein Migrant mit einem Messer über den Zaun auf ihn ein und verletzte ihn schwer. Neun Tage nach der Messerattacke ist der 21-jährige Mateusz Sitek im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen. Vieles deutet darauf hin, dass die seit vielen Monaten aus Moskau und Minsk gesteuerten illegalen Migrationsbewegungen bedauerlicherweise immer professioneller ablaufen. Polnische Medien berichten, dass auf belarussischem Gebiet regelrechte „Schulungen“ für Migranten abliefen. Siteks Mörder wusste jedenfalls ganz genau, wo er zustechen sollte. Nach dieser Tragödie kündigte Donald Tusk weitere Maßnahmen zur Sicherung der Grenze zu Belarus an. Nun soll ein 200 Meter breiter Sperrstreifen errichtet werden, damit der Vorfall einmalig bliebe. Interessant: Im Jahr 2021 hat sich der damalige Oppositionsführer Tusk noch darüber aufgeregt, dass die zu diesem Zeitpunkt regierende PiS einen „menschenunwürdigen Zaun“ errichten wolle. Jetzt behauptet der PO-Politiker, „Kaczyńskis Leute“ hätte damals allzu viele Migranten hereingelassen.
Olaf Scholz werden diese grotesken innenpolitischen Fehden im Nachbarland wahrscheinlich wenig interessieren. Ohnehin gewinnt man nach den jüngsten Konsultationen den Eindruck, als seien die deutsch-polnischen Beziehungen nie besser gewesen. Eine Verbesserung ist immer wünschenswert, nur: Weshalb tun ideologisch verwandte Regierungschefs stets so, als seien derlei gemeinsame Treffen erlöserisch-gute Taten – etwa so, wie der alljährliche Besuch eines Freundschaftsspiels? Ein solches verschafft warme Gefühle, liefert jedoch wenig Konkretes.