Tichys Einblick
EU-Parteienfamilie „Patriots for Europe”

Schafft Orbán seinen größten Coup?

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán will eine neue, konservative Parteienfamilie im EU-Parlament aus dem Hut zaubern, mit bis zu 100 Abgeordneten. Gelingt es, wäre das sein größter Coup.

MAGO / photonews.at

Am Sonntag stellten sich Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, FPÖ-Chef Herbert Kickl und der Vorsitzende der tschechischen ANO-Partei, Ex-Ministerpräsident Andrej Babis in Wien vor die Presse und verkündeten die Bildung einer neuen europäischen Parteienfamilie. „Patriots for Europe” soll sie heißen, und was sie wollen, schrieben die Gründer in ein „Manifest”. Dessen Essenz: Die EU in jene Schranken zurückverweisen, die ihr der Vertrag von Lissabon eigentlich setzte. Eine Reconquista der EU durch die Nationalstaaten.

Es klang bombastisch: Die „größte” konservative Kraft wolle man werden, sagten die drei Parteichefs, und zwar sehr schnell, „in den nächsten Tagen”. Tatsächlich verkündete bereits am Montag die portugiesische „Chega”, dem Bündnis beitreten zu wollen.

Kann es gelingen? Die drei Gründerparteien und Chega haben zusammen nur 26 Abgeordnete. 23 MEPs aus sieben Ländern braucht es, um eine Fraktion zu gründen. Genug Abgeordnete sind also jetzt schon da, aber es müssen noch mindestens drei weitere Länder her. Woher sollen die kommen?

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Vornehmlich wohl aus der jetzigen Parteienfamilie ID, so scheinen die Gründer zu hoffen. Führende Kraft ist dort das französische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen mit 30 Abgeordneten. Das Bündnis selbst ist arg geschwächt, nachdem auf Betreiben des RN die AfD von dort ausgeschlossen wurde. Der Austritt der FPÖ und auch der portugiesischen Chega und deren Beitritt zum Bündnis der Patrioten schwächt die ID noch mehr.

Da in Frankreich derzeit Parlamentswahlen laufen, und das RN nach der ersten Runde in Führung liegt, könnte es sogar die Regierungsmacht übernehmen. Auf jeden Fall aber wird es die stärkste Partei des Landes. Vor diesem Hintergrund wäre es logisch, wenn das RN die schrumpfende, zunehmend irrelevante ID-Gruppe verlässt und sich den „Patrioten” anschließt. Eine weitere federführende ID-Partei, Matteo Salvinis „Lega” (8 Abgeordnete), hat signalisiert, gegebenenfalls beitreten zu wollen. Auch die mit Orbán eng verbündete holländische PVV von Geert Wilders ist in der ID-Gruppe, könnte aber zur neuen Parteienfamilie überlaufen. Am Ende könnten fast alle ID-Parteien dem neuen Bündnis beitreten.

Und das mag der wahre Grund für den Rausschmiss der AfD gewesen sein: Ohne sie ist ein solches Manöver leichter zu vollbringen. Dementsprechend ist auch eine Aufnahme der AfD in das neue Bündnis unwahrscheinlich: Fidesz will das nicht, weil es Ungarns Beziehungen zur deutschen Regierung schädigen würde. Und Le Pen hat auch klar gemacht, dass sie die Deutschen nicht will. Ohne die AfD und ihre diversen Skandale wirkt man seriöser.

Statt also einen Beitritt der ungarischen Regierungspartei Fidesz zur ID (das wa für manche Beobachter eine denkbare Option) würde de facto die ID (minus AfD) der Fidesz-Gruppe beitreten. Ein solches Manöver würde die „Patrioten” auf mehr als 70 Abgeordnete bringen.

Dann ist da die Parteienfamilie „Europäische Konservative und Reformer” mit derzeit 83 Mitgliedern. Dort spielt die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni die erste Geige, mit ihrer Partei Fratelli d’Italia. Prägend ist für diese Gruppe auch die frühere polnische Regierungspartei PiS. Diese Partei war bis zum Krieg in der Ukraine sehr eng mit Fidesz liiert, Parteichef Morawiecki und Orbán halten weiterhin engen Kontakt. Die Beziehungen der Polen mit den Italienern sind nicht ungetrübt. „Als Meloni den EKR-Vorsitz übernahm, wollte sie zuallererst die Finanzen überprüfen”, sagt ein PiS-Insider. „Als würden sie uns misstrauen. Die EKR war nie so stark, wie sie nach außen hin aussah”. Denkbar also, das die PiS (20 Abgeordnete) zu den „Patrioten” wechselt. Das gilt auch für die spanische EKR-Partei VOX (6 Abgeordnete), die mit Fidesz eng verbündet ist.

Die neue Gruppe könnte damit an die 100 Abgeordnete zählen, die ID würde de facto aufhören zu existieren, und die EKR empfindlich geschwächt. Es wäre die Strafe dafür, dass Meloni in den vergangenen Monaten nationalkonservative Positionen aufgab, um den Mainstreamparteien in der christdemokratischen EVP entgegen zu kommen. Der Lohn dafür war – nichts. Die großen Spieler übergingen sie einfach bei der Vergabe der Top-Posten in der EU. Laufen PiS und/oder VOX zu Orbán über, würde dies Melonis Gewicht in der EU verringen – dabei bewegte sie sich genau deswegen auf die Mitte zu, um ihren Spielraum und ihren Einfluss zu vergrößern.

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Sollte die Rechnung aufgehen, so hätte Orbán seinen bislang größten europapolitischen Coup gelandet. Seit vielen Jahren arbeiten Mainstreampolitiker und EU-Institutionen verbissen daran, ihn zu marginalisieren. Bislang mit Erfolg: Die einst in der EVP einflussreiche Fidesz-Partei schwebt seit ihrem Austritt aus der Parteienfamilie im politischen Niemandsland. Ein schlichter Beitritt zur viel kleineren EKR oder ID, wo Orbán persönlich wenig Rampenlicht fände (er stünde im Schatten von Meloni oder Le Pen) wäre kein vollwertiger Ausgleich für die verlorene EVP-Mitgliedschaft. Aber die Gründung einer neuen Parteienfamilie mit Orbán in erster Linie, das wäre ein echter Kraftakt – zumal wenn die neue Gruppe die beiden bisherigen konservativen Fraktionen EKR und ID in den Schatten stellt.

Wie aber soll das ideologisch gelingen, wenn doch Differenzen zur Russlandpolitik bislang einen Beitritt von Fidesz zu den EKR verhinderten? Dort ist eine Selbstverpflichtung auf einen harten Kurs gegen Russland Voraussetzung für eine Aufnahme.

Nun, Orbán und seine beiden Verbündeten wendeten das lange Jahre hindurch bewährte Erfolgsrezept der Visegrad-Gruppe an: Worüber man uneins ist, das spart man aus, darüber redet man nicht. Dieses Prinzip zerbrach 2022 an Russlands Agressionskrieg gegen die Ukraine, soll jetzt aber neu belebt werden. Das „Manifest” der neuen Parteiengruppe – Verteidigung des Nationalstaates, Einhegung der EU – enthält nichts, was eine nationalkonservative Partei nicht unterschreiben könnte. Die Haltung zu Russland kommt darin nicht vor.

Vorerst sind das alles aber nur Möglichkeiten, keine Realitäten. Bis 4. Juli müssen sich die EP-Fraktionen laut EU-Regeln registrieren. Da wird sich dann entscheiden, ob Orbáns Poker aufgeht, oder scheitert.

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