Es ist ein typisch amerikanischer Deal: Nach fünf Jahren Haft – und nur wenige Tage vor seinem 53. Geburtstag – entlässt die britische Justiz Julian Assange aus seinem Londoner Gefängnis. Auf Bitten der USA.
Der Australier wird direkt zum Flughafen Stansted gefahren. Dort besteigt er einen bereitgestellten Privatjet, der ihn auf die Nördlichen Marianen bringt. Das ist eine Inselgruppe im Pazifik, südlich von Japan – und ein sogenanntes Außengebiet der USA. Dort wird sich Assange vor einem Gericht bezüglich der von der US-Regierung gegen ihn erhobenen Vorwürfe für teils schuldig bekennen. Im Gegenzug bleibt ihm eine weitere Haft erspart.
Der Deal kommt einerseits überraschend – und andererseits auch wieder nicht. Das versteht man, wenn man sich einen kurzen Blick auf die Chronik des Falls gönnt.
2006 gründet Julian Assange die Enthüllungsplattform Wikileaks. Der damals 35-jährige Australier hatte sich zuvor in Fachkreisen einen Namen als Hacker gemacht. Die Plattform veröffentlich seitdem geheime Dokumente, beispielsweise über Korruption in Kenia, über Scientology und über Banken in der Schweiz oder auf Island.
2010 veröffentlicht Wikileaks rund 470.000 amtlich als geheim klassifizierte Dokumente – einerseits über die diplomatischen Aktivitäten der USA, andererseits über die Kriege in Afghanistan und im Irak. Dann folgen 250.000 weitere Dokumente über die US-Einsätze in diesen Ländern. Sie belegen unter anderem die Tötung von Zivilisten und die Misshandlung von Gefangenen durch die US-Streitkräfte.
Der damalige US-Präsident Barack Obama bezeichnet die Veröffentlichung selbst eher harmlos als „bedauerliche Taten“. Seinen Justizminister Eric Holder lässt er aber unermüdlich wiederholen, dass Wikileaks die nationale Sicherheit der USA gefährde.
Obama führt fort, was er seine gesamte Amtszeit hindurch praktiziert hat: die unerbittliche Bekämpfung von sogenannten „Whistleblowern“. In den zwei Amtszeiten des ersten farbigen US-Staatsoberhaupts sind mehr Journalisten wegen des angeblichen Verrats von Staatsgeheimnissen verfolgt worden als bei allen anderen amerikanischen Präsidenten vorher zusammen.
Auch Assange wird verfolgt, befindet sich aber in Großbritannien. Das Land kann ihn nicht an die USA ausliefern: Das geht nur für Taten, die auch auf der Insel strafbar wären – und die Veröffentlichung von Dokumenten, die US-Kriegsverbrechen beweisen, wäre im Vereinigten Königreich nicht strafbar.
Jetzt kommt Schweden ins Spiel. Washington spielt mit Stockholm sozusagen über Bande: Die schwedische Staatsanwaltschaft lässt einen internationalen Haftbefehl gegen Assange ausstellen, weil er während eines Schweden-Urlaubs zwei Frauen sexuell belästigt haben soll. Assange weist die Anschuldigungen vehement zurück – aber jetzt wird ihm eben etwas vorgeworfen, was auch in Großbritannien strafbar wäre.
Der Australier stellt sich in London der Polizei. Schweden stellt einen Auslieferungsantrag – mit guten juristischen Aussichten, so konstruiert die Sex-Vorwürfe auch anmuten. Bis zur Entscheidung über die Auslieferung kommt Assange gegen Kaution frei.
2011 gibt ein britisches Gericht dem schwedischen Auslieferungsantrag statt. Assange erklärt (nach Ansicht der meisten Beobachter absolut nachvollziehbar), Schweden werde ihn sicher gleich an die USA weiterreichen. Dort drohen ihm wegen Hochverrats 150 Jahre Gefängnis.
2012 tarnt sich Assange als Bote und flieht in London in die Vertretung von Ecuador. Dort beantragt er politisches Asyl, das ihm auch gewährt wird. Aber die britische Regierung untersagt seine Ausreise in Ecuadors Hauptstadt Quito. Er sitzt also fest. Ab und zu zeigt er sich der Öffentlichkeit auf dem Balkon des Botschaftsgebäudes. Hätte Assange russische Geheimnisse verraten, dann wäre er wohl recht bald bei einem unglücklichen Unfall von ebendiesem Balkon gefallen.
Man muss keine allzu schwarze Seele haben, um zu vermuten, dass auch die US-Geheimdienste eine solche Lösung in Betracht gezogen haben. Das hätte zwar einen internationalen Aufschrei gegeben, aber der wäre Washington sicher egal gewesen. Das hätte man kalt lächelnd in Kauf genommen, und solcherart Empörung ebbt ja meist auch schnell wieder ab.
Gegen ein Vorgehen à la Putin sprach allerdings, dass Assange es mit der unermüdlichen Unterstützung seiner Freunde und Mitstreiter tatsächlich geschafft hatte, auch in den USA zu einem allseits bekannten Symbol für Pressefreiheit aufzusteigen. Stress mit dem Rest der Welt: geschenkt. Wäre der Australier ums Leben gekommen, hätte die US-Regierung aber absehbar in Amerika selbst massiven innenpolitischen Ärger bekommen. Fensterstürze fielen also aus.
Deshalb setzt Washington weiter auf juristische Zermürbung und diplomatischen Druck auf alle Beteiligten. Das klappt teils gut, teils weniger gut.
2017 stellt die Staatsanwaltschaft in Schweden die Ermittlungen gegen Assange ein. Die minderschweren Vorwürfe wegen sexueller Belästigung und Nötigung waren bereits 2015 verjährt. Die britische Polizei will Assange trotzdem festnehmen, weil er angeblich seine Kautionsauflagen verletzt hat.
2019 entzieht Ecuador Assange das zuvor gewährte Asyl. Nach sieben Jahren De-facto-Hausarrest muss er die Botschaft verlassen. Draußen wartet schon die britische Polizei und nimmt ihn fest. Seitdem sitzt der Australier in Auslieferungshaft und kämpft vom Gefängnis aus gegen seine Auslieferung an die USA.
Jetzt haben wir bekanntlich 2024, es ist Präsidentschaftswahlkampf in den USA, und der greise und unbeliebte Amtsinhaber Joe Biden braucht jede Stimme. Doch vor allem im eigenen Lager – bei der extremen Linken, die in der Demokratischen Partei quasi täglich einflussreicher wird – wird die Ansicht geteilt, Assange sei ein mutiger Held der freien Rede.
Also tut Biden das, was man eben so tut in Amerika: Man macht einen Deal.
Neben den offiziell verkündeten Einzelheiten der Vereinbarung von Assange mit der US-Regierung – verkürzt: Freiheit gegen Schuldbekenntnis – dürfte zu der Absprache mit ziemlicher Sicherheit auch noch ein inoffizieller Du-darfst-weiter-leben-aber-du-hältst-künftig-die-Klappe-Passus gehören.
Jedenfalls wäre es verwunderlich, wenn der Australier noch einmal bei Wikileaks oder sonstwo als Enthüllungsjournalist auftauchte. Seine Ehefrau hat ja schon auf seine angegriffene Gesundheit verwiesen. Wenn man sich aktuelle Fotos ansieht, glaubt man das sofort. Zusätzlich lässt sich damit absolut nachvollziehbar begründen, weshalb Julian Assange künftig nur noch Privatmann sein wird.
Ganz unabhängig davon, ob man den Australier nun mag oder nicht und wie man zu seinem Konzept von Journalismus und Öffentlichkeit steht: Der Fall wirft mehrere interessante Schlaglichter auf unsere Zeit.
Zum einen hat er bestätigt, was man vorher schon wusste: Auch die USA begehen Kriegsverbrechen. Das kann man jetzt werten und diskutieren, wie man will. Das ist nicht Thema dieses Textes. Aber die Tatsache als solche steht fest.
Weiterhin hat er vorgeführt, dass Whistleblower und Enthüllungsjournalisten es nicht nur in sogenannten autoritären Staaten schwer haben. Auch in der vermeintlich freien Welt muss man aufpassen, was man sagt und veröffentlicht.
Drittens hat sich wieder einmal gezeigt, dass Politik im Zweifel wenig zimperlich ist und auf Einzelschicksale nun mal gar keine Rücksicht nimmt. Schweden und Ecuador (und Großbritannien sowieso) haben Assange natürlich lieber fallen lassen, als es sich seinetwegen ernsthaft mit den USA zu verscherzen.
Der Australier verbrachte nun insgesamt sieben Jahre seines Lebens faktisch unter Hausarrest – und danach noch weitere fünf Jahre im Gefängnis. Zwölf Jahre, einfach weg. In Deutschland kommt so mancher Mörder nach kürzerer Zeit wieder frei.
Die Wahrheit ist den Menschen sicher zumutbar. Aber sie ist eben auch gefährlich.