Tichys Einblick
Selbstermächtigung des Gerichtshofs der EU

Das Ende der Verfassungssouveränität

Ein Passus im Urteil des Gerichtshofs der EU gegen Ungarn hat weitreichende Folgen für alle Mitgliedsländer der EU

picture alliance/dpa | Horst Galuschka

Am 13. Juni verhängte der Gerichtshof der EU die schwerste jemals verfügte Geldstrafe gegen ein EU-Mitgliedsland, gemessen an dessen Wirtschaftskraft. Ungarn wurde verurteilt, 200 Millionen Euro als Pauschalsumme und zusätzlich eine Million Euro täglich zu zahlen, bis es ein Urteil des Gerichtshofs der EU aus dem Jahr 2020 voll implementiert. Der Kläger, die EU Kommission, hatte deutlich weniger verlangt: eine Million Euro und dazu täglich 16.400 Euro. Das Gericht verhängte also eine Strafe, die bezüglich der Pauschalsumme 200 mal höher liegt, und bei der zusätzlichen täglichen Summe 60 mal höher als von der Kommission vorgeschlagen.

„Voll implementiert” deswegen, weil Ungarn zwar das Urteil aus dem Jahr 2020 sofort und weitgehend umsetzte (die damals kritisierten Transitzonen wurden geschlossen, die dazu da waren, Asylsuchende gar nicht auf ungarisches Staatsgebiet zu lassen, bis ihre Asylverfahren abgeschlossen sind), aber Asylsuchende weiterhin nicht auf ungarisches Staatsgebiet einreisen ließ. Asylgesuche konnte – und kann – man nur an ungarischen Botschaften stellen. Das war übrigens bis zur großen Migrationskrise 2015 ein international ziemlich unumstrittener Standard. Ungarn unterschied sich darin nicht wesentlich von vielen anderen Ländern.

Warum ist die Strafe so hoch für ein verhältnismäßig so kleines Vergehen? Bei genauer Lektüre des Urteils geht es wahrscheinlich gar nicht um das ungarische Asylverfahren, sondern es ist ein drastischer Schachzug des Gerichtshofs der EU, um sein beanspruchtes Primat gegenüber den Verfassungsgerichten der Mitgliedsländer ein für allemal durchzusetzen.

Punkt 121 und 122 des Urteils werfen Ungarn ausdrücklich vor, in der Frage des Asylrechts überhaupt sein eigenes Verfassungsgericht um seine Meinung gefragt zu haben. Zitat: „(…) die ungarische Regierung es (…) für gerechtfertigt hielt, vor der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 den Abschluss des von ihr beim Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) eingeleiteten Verfahrens (…) abzuwarten. Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden dürfen, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Die Einhaltung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Grundsatz ergeben, ist (…) ist Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit.”

Nun ist zwar der Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht nie strittig gewesen. Der Vorrang EU-Rechts vor dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten ist aber sehr wohl immer umstritten gewesen.

Das Ungarische Verfassungsgericht, auf dessen Urteil sich der Gerichtshof der EU bezieht, hatte damals zwar nicht das Primat europäischen Rechts in Frage gestellt, aber dennoch festgestellt, dass Ungarn und die EU als Folge der ungarischen EU-Mitgliedschaft Ungarns Souveränität in Teilbereichen „gemeinsam” ausüben. Das Gericht befand aber zugleich dass, wenn der Gerichtshof der EU beziehungsweise die EU nicht fähig oder nicht gewillt seien, die Interessen der ungarischen EU-Bürger zu schützen, die ungarische Regierung die Souveränität des Landes für die Dauer solcher Zustande unilateral ausüben müsse. Das scheint dem Gerichtshof der EU nicht gefallen zu haben, aber schon der bloße Schritt der ungarischen Regierung, dass Verfassungsgericht überhaupt um seine Meinung zu fragen, wurde als anstößig empfunden.

Tatsache ist, dass der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht nie vereinbart wurde. Ein Versuch wurde unternommen, scheiterte aber. Der Entwurf einer „Europäischen Verfassung“ 2004 enthielt die Bestimmung, dass europäisches Recht Vorrang habe vor nationalen Verfassungen. Der Entwurf scheiterte aber an Volksbefragungen in Frankreich und den Niederlanden.
Im zweiten Anlauf wurde 2009 der inhaltlich sehr ähnliche Vertrag von Lissabon verabschiedet. Der wichtigste Punkt, in dem er von der gescheiterten „Europäischen Verfassung“ abwich, war der Verzicht auf eine förmliche Festschreibung des Vorrangs europäischen Rechts vor den nationalen Verfassungen.

Das dürfte ein Indiz dafür sein, wie politisch brisant dieses Thema immer schon war. Nie hat es darüber Einvernehmen gegeben. Insbesondere Großbritannien, aber auch das deutsche Verfassungsgericht haben Konfliktpotential darin gesehen. Im Mai 2020 befand das Bundesverfassungsgericht, dass Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank „kompetenzwidrig“ seien. Ein Urteil des Gerichtshofs der EU, die Käufe seien EU-konform, nannte das Gericht in Karlsruhe „nicht nachvollziehbar.“ Es stellte damit den Vorrang des Gerichtshofs der EU in dieser Sache in Frage.

Dass Entscheidungen des Gerichtshofs der EU Vorrang haben auch vor den Verfassungen der Mitgliedsstaaten, das haben die EU-Richter einfach selbst beschlossen. Die treibende Kraft war Robert Lecourt, ein konservativer französischer Politiker. Er schrieb viel darüber, dass europäisches Recht absoluten Vorrang genießen müsse. 1964 war er der Rapporteur am Vorgänger des in Deutschland Europäischer Gerichtshof genannten Gerichtshofs der EU in einem eigentlich unpolitischen Verfahren, die Causa Costa vs. ENEL. Er nutzte diesen Fall, in dem es um das private Anliegen eines italienischen Investors ging, um daraus den auch verfassungsrechtlichen Vorrang europäischen Rechts zu konstruieren. Die Richter folgten seiner Argumentation.

In der Folge gab es wenig Widerstand dagegen. Das lag vor allem daran, dass diese Maxime nie verwendet wurde, um die politischen Systeme von Mitgliedsstaaten durch europäischen Richterentscheid umzukrempeln. Es ging meistens um relativ unpolitische Entscheidungen. In den letzten Jahren hat sich das geändert, und der Widerstand wächst entsprechend. Der Gerichtshof der EU ist zu einem Faktor politischer Macht geworden.

Diese Macht versucht das Gericht nun einmal mehr im Alleingang und ohne politische Konsultationen der Mitgliedsstaaten zu dieser Schicksalsfrage in Beton zu gießen. Dafür pervertiert eine bisher gängige Interpretation von Art. 4 EUV und verwandelt sie in ihr Gegenteil.

Artikel 4 ist jener Passus des Vertrages über die Europäische Union, der eigentlich die Verfassungssouveränität der Mitgliedsländer garantieren soll. In Absatz 2 heisst es da: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen (…) zum Ausdruck kommt.”

Die Union achtet also die Verfassungsidentität der Mitgliedsstaaten als Ausdruck ihrer nationalen Identität. Man könnte argumentieren, dass gerade die Fragen von Asyl und Migration relevant sind für die nationale Identität eines Mitgliesdstaates: Wie soll unsere Gesellschaft aussehen?

Das Urteil nimmt nun aber Absatz 3 desselben Artikels, um Absatz 2 quasi außer Kraft zu setzen. In Absatz 3 steht: „Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.”

Daraus leitet der Gerichtshof der EU also ab, dass – im Gegensatz zur in Absatz 2 festgehaltenen Achtung der Verfassungsidentität der Mitgliedsstaaten – diese Verfassungsidentität aufgehoben wird, wann immer der Gerichtshof der EU es für rechtens empfindet.

Es bedeutet für alle EU-Mitglieder das Ende des Gedankens der Verfassungssouveränität. Ein Einspruch dagegen ist nicht möglich – dafür ist der Aufbau der EU-Justiz nicht rechtsstaatlich genug. Es gibt keine Berufungsinstanz. Wer für schuldig befunden wird, bleibt immer schuldig, auch wenn das Urteil juristisch fehlerhaft sein sollte.

Was ergibt sich daraus? Wenn demnächst das Konsensprinzip bei Entscheidungen des Europäischen Rates aufgehoben werden sollte, und per Mehrheitsabstimmung etwa entschieden wird, dass beispielsweise der Schutz der traditionellen Familie „europäischen Grundwerten widerspricht”, und ein Mitgliedsland sich unter Bezug auf seine Verfassung dem widersetzt – nun, das kann dann sehr teuer werden.

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