Nachdem seit den Europawahlen vom vergangenen Sonntag nach den beiden Unionsparteien (30 Prozent) mit knapp 16 Prozent die AfD bundesweit zur zweitstärksten Partei aufgestiegen ist, müssten sich nicht nur die Funktionäre, Mitglieder und Anhänger aller etablierten Parteien, allen voran der SPD und der Grünen, sondern auch deren Mitstreiter aus Medien, Kirchen, Verbänden, NGO’s bis hin zu einigen Unternehmensführern fragen, was ihr von überheblicher Selbstgerechtigkeit triefender „Kampf gegen rechts“ bei den Wählern bewirkt hat. Die nackten Zahlen zeigen jedenfalls, daß das Gegenteil von dem eingetreten ist, was sich die selbsternannten Verteidiger der Demokratie von ihren Aufrufen, Kundgebungen, Wahlaufrufen und Wahlplakaten versprochen haben, mit denen sie nicht erst seit den Europawahlen versuchen, die Wähler dazu zu bringen, nicht (mehr) die AfD zu wählen.
Gleichwohl ist es trotz eines alle bisherigen Maße sprengenden, polit-medialen Trommelfeuers aller selbsternannten Verteidiger der Demokratie keiner der anderen im Bundestag vertretenen Parteien gelungen, wenigstens einen kleinen Teil ihrer seit 2013 an die AfD verloren gegangenen Wähler zurückzugewinnen. Besonders blamabel ist dies für die beiden Unionsparteien, deren erklärtes Ziel es ist, durch ein schärferes konservatives Profil die unter Angela Merkel geschaffene Repräsentationlücke für rechts-konservative Wähler wieder zu schließen. Während des Wahlkampfes wurde den Wählern von der Spitzenkandidatin der Union, Ursula von der Leyen (CDU), deswegen sogar signalisiert, die von Manfred Weber (CSU) geführte EVP-Fraktion könne sich unter bestimmten Bedingungen eine stärkere Zusammenarbeit mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) vorstellen, in der unter anderem die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni eine zentrale Rolle spielen.
Wider Erwarten hat dieser Rechtsruck der Union somit nicht, wie in der Vergangenheit, dazu geführt, daß sie Wähler an die SPD und die Grünen verliert, die sich als progressiv verstehen und deswegen in den letzten Jahren den Linksruck der Union immer mitgetragen haben. Ganz im Gegenteil hat sie mit ihrer konservativeren Programmatik sogar Wähler aus dem progressiven Lager hinzugewonnen und so erreicht, dass sie in den alten Bundesländern in fast allen Landkreisen und kreisfreien Städten zur stärksten Partei wurde, während in den neuen Bundesländern dasselbe der AfD gelungen ist. Die politische Landschaft in Deutschland hat sich so seit dem 09. Juni gravierend verändert und ist inzwischen durchweg schwarz-blau gefärbt.
Sowohl die Ampelparteien wie auch die beiden Unionsparteien zeigen indes keinerlei Neigung, dem bei der Europawahl zum Ausdruck gebrachten Wählerwillen Folge zu leisten. Die einen halten an ihrer Regierungskoalition und die anderen an ihrem Ziel fest, nach Neuwahlen erneut eine Mitte-Links-Regierung mit der SPD und/oder den Grünen zu bilden, mit denen weder in der Asyl- und Migrationspolitik noch in der Energie- und Wirtschaftspolitik, ganz zu schweigen von der Gesellschaftspolitik die politische Wende zu bewerkstelligen ist, die sich die Mehrheit des Wahlvolkes wünscht. Auch auf der europäischen Ebene setzt die deutsche Spitzenkandidatin der EVP für ihre Wiederwahl als Kommissionspräsidentin nicht mehr auf ein Mitte-Rechts-Bündnis im Europaparlament mit der EKR-Fraktion, sondern auf eine Neuauflage ihres bisherigen Mitte-Links-Bündnisses mit den Fraktionen der Sozialisten, der Liberalen und der Grünen.
Die Auswahl eines Kommissionspräsidenten gegen den ausdrücklichen Willen von Frankreich und Italien wäre ein Novum auf europäischer Ebene, das die Spaltung der EU noch weiter vertiefen würde, als es ohnehin schon der Fall ist. Von daher darf man gespannt sein, ob die EVP-Fraktion an ihrer Mitte-Links-Strategie tatsächlich festhält oder ein Mitte-Rechts-Bündnis im Europaparlament anstrebt, das sie im Wahlkampf ins Spiel gebracht hat. An ihrer Kandidatin für den Posten des Kommissionspräsidenten könnte sie in beiden Fällen festhalten, verfügt sie mit Ursula von der Leyen doch über eine überaus wendige Karriere-Politikerin, die nur eines wirklich will: Kommissionspräsidentin bleiben.
Vom Ausgang des beginnenden Machtspiels in der EU wird es auch mit abhängen, ob es auf Bundesebene in Deutschland erneut zu einer Mitte-Links-Regierung oder einer politischen Wende nach Mitte-Rechts kommt, die dem demokratischen Mehrheitswillen des Wahlvolkes Folge leistet. Auf den Straßen mag der Ruf unserer vermeintlichen Demokratieverteidiger „Wir sind mehr“ noch etwas Eindruck machen; an den Wahlurnen werden sie von den Wählern inzwischen eines Besseren belehrt.