Keine Messerstechereien, keine Gruppenvergewaltigungen, keine anti-israelischen Demos von Judenhassern und Hamas-Anhängern, keine islamistischen Anschläge: Ungarn ist in der EU so etwas wie eine Insel der Seligen.
Ministerpräsident Viktor Orbán führt das maßgeblich auf seine Flüchtlingspolitik zurück. Budapest verweigert sich seit Jahren dem Ansinnen der Brüsseler Bürokratie, Migranten im Zuge eines EU-weiten Verteilverfahrens aufzunehmen. Auch sonst ist das Land bei Asylanträgen sehr zurückhaltend.
Zu zurückhaltend für die bekannt zuwanderungsfreundliche EU-Kommission. Mehrfach haben von der Leyen & Co. deshalb Ungarn gerügt oder auch vor dem EuGH in Luxemburg verklagt. Wenig überraschend haben die Richter dann meist im Sinne der Brüsseler Eurokraten entschieden. 2020 zum Beispiel urteilten sie erst, die von Ungarn durchgeführten Verfahren in den mittlerweile geschlossenen Transitlagern an der Grenze zu Serbien seien rechtswidrig.
Dann führte Budapest neue Regeln ein. Die sahen vor, dass Asylbewerber unter Umständen ein Vorverfahren in ungarischen Botschaften durchlaufen sollten, bevor sie nach Ungarn einreisen durften. Doch auch diese neuen Regeln kippte der EuGH im vergangenen Jahr.
Jetzt stellt das Luxemburger Gericht fest, dass Budapest trotz des Urteils aus dem Jahr 2020 noch immer keinen effektiven Zugang zum Asylverfahren hergestellt habe. Budapest verstoße gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Bereich des internationalen Schutzes und gegen die Vorschriften über die Rückführung illegal eingereister Migranten.
Damit umgehe Ungarn bewusst die Anwendung einer gemeinsamen Politik der EU. Das stelle eine ganz neue und außergewöhnlich schwere Verletzung des EU-Rechts dar. Dieses Verhalten bedrohe erheblich die Einheit des EU-Rechts.
Deshalb soll das Land jetzt sofort ein Zwangsgeld in Höhe von 200 Millionen Euro zahlen – und zusätzlich eine Million Euro für jeden weiteren Tag: Solange, bis Budapest den von den Richtern festgestellten Missstand behoben hat.
Etwas Ähnliches gab es schon 2021. Da verurteilte der EuGH Polen ebenfalls zur Zahlung von einer Million Euro täglich, weil Warschau EuGH-Entscheidungen zu seiner Justizreform nicht umgesetzt hatte. Der Betrag wurde später halbiert.
Ob das auch diesmal passiert, ist ungewiss. Sicher ist dagegen, dass Ungarn am 1. Juli turnusmäßig für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Das verschafft Viktor Orbán für sechs Monate erheblich vergrößerte Einflussmöglichkeiten auf die EU-Politik. Der auch von seinen Feinden als gewiefter Taktiker anerkannte Regierungschef dürfte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
So oder so halten Kenner der ungarischen Politik es für ausgeschlossen, dass sich Budapest ausgerechnet in der Asylpolitik dem Druck des EU-Apparats beugt. Denn obwohl die Opposition im Land sich zu festigen scheint:
Für seine restriktive Haltung vor allem gegenüber muslimischen Einwanderern hat Orbán im Volk unverändert großen Rückhalt.