Nach Krah steht die AfD am Scheideweg: gäriger Haufen – oder Befreiungsschlag zur Partei mit Führung? Das, was einige den ehemaligen Verbündeten vorwerfen, könnten sie nun selbst tun: Fortuna am Schopf packen. Die Krise könnte den Vorwand bilden, um Hierarchie und Realpolitik durchzusetzen. Denn in den letzten Jahren hat sich vermehrt gezeigt, dass die AfD nicht etwa das deutsche Pendant zur Lega oder den Fratelli d’Italia ist, sondern zum Movimento 5 Stelle: ein zerstrittenes Konglomerat, in dem mal das eine, mal das andere Grüppchen die Oberhand hat, so es nur genügend Verbündete bei der obskursten Idee findet.
Das stärkste Schwert einer AfD-Sektion haben derzeit diejenigen in der Hand, die vor jedem Kompromiss warnen. Während sie geopolitisch glauben, mit Bären und Drachen tanzen zu können, weil dies die Realpolitik so befehle, zeigen sie innenpolitisch keinerlei Flexibilität. Nicht das „Für“, sondern das „Gegen“ bestimmt. Es herrscht der Extremismus vor, dass nur ein kleines Abweichen von der Originalposition einen Dammbruch bedeutet, der die AfD zur CDU 2.0 umwandeln könnte. Dabei ist sie sich ihrer eigenen Fundamente häufig unsicher: Aus welchen Gründen etwa ist man gegen Abtreibung oder für zwei Geschlechter? Auf dieser Frage ist Tino Chrupalla bereits ausgerutscht, da nicht ein theoretischer Unterbau, sondern eine Melange aus diffusen Gefühlen das Treiben der Alternative bestimmt.
Weil die Form des Gefäßes nicht stimmt, kann jeder Inhalt eingefüllt werden. Die mangelnde Führung befördert Gestalten, die möglichst überzeugend auftreten, obwohl sie zweifelhafte Ideen vertreten. Ähnlich wie in den „Altparteien“ haben sich parteiliche Netzwerke und Strukturen ergeben, die Kader und Karrieristen befördern. Das Problem ist nur: Die Zahl der dysfunktionalen Charaktere nimmt zu, indes potenzielle Neubewerber, die der Partei Professionalität und Sachverstand geben könnten, immer weniger werden.
Paradoxerweise legt man nur noch dort Führung an den Tag, wenn es um die Beförderung der eigenen Kaderleute geht, nicht aber um die Einhegung von abwegigen Entwicklungen: Das Phänomen Krah wurde auch von der Spitze gefördert, aber eine Revision desselben Phänomens ist nicht möglich. Am Ende steht der Überbietungswettbewerb, wer der vermeintlich „Rechtere“ sei, was a priori absonderlich ist, weil Rechte sich nicht vergleichen, sondern schlicht rechts sind. Es ist eine Synthese aus dem Schlechtesten beider Welten.
Dabei haben die deutschen Rechten und ihr parteipolitisches Aushängeschild selbst ihre geistigen Fundamente verraten: Denn wer die Machtpolitik nach Machiavelli als Option ausschließt (heißt: den Willen zu regieren), der muss sich fragen lassen, ob er überhaupt einer rechten Partei angehört. Und wer in Totalopposition verharrt, der will nicht ordnen und dem Allgemeinwohl dienen, sondern träumt heimlich von der Revolution. Geistig steht man damit dem Jakobinismus näher als Thomas von Aquin. Es herrschen nicht mehr Praxis und Leben als Leitprinzipien des rechten Denkens, sondern Analyse und Theorie, obwohl diese eigentlich Leitprinzipien der Linken sind.
Freilich wird in völliger Verkennung der eigenen geistigen und ideologischen Herkunft mittlerweile auch in einem Teil der AfD jeder mögliche politische Kompromiss als Vorbote der Verweichlichung gehandelt. In seiner eigenen Ideologie zu baden und sich als moralisch höherwertig zu fühlen, macht einen aber nicht zum „Alpha“ oder „Chad“, wie es aus den Krah-Kreisen heißt, sondern zum machtpolitischen Incel. Mit einer solchen Haltung degradiert man sich zum Steigbügelhalter anderer Kräfte. Die Geschichte ist allerdings gescheiterten Poeten deutlich milder gegenüber gestimmt als gescheiterten Politstrategen.
Die Liebe zur Theorie und Idee ist bei einigen Vordenkern der AfD so weit gediehen, dass ihnen entgeht, wie die Linken ihre Machtposition in Deutschland gefestigt haben: kurzfristig durch Ideen, aber langfristig durch Menschen. Dass heute ein grünes Netzwerk Deutschland in Atem hält, hängt damit zusammen, dass die Grünen nicht allein durch Verbreitung ihrer Ideen gewonnen hätten, sondern durch Positionierung ihrer Gefolgsleute an den Schaltstellen der Macht. Die Grünen treten im Wahlkampf nie so radikal auf, wie sie wirklich sind. Sie sind eine Partei freundlichen Gesichts mit beinharten Maoisten als Strippenziehern. Wichtig ist, dass, sobald sie in der Exekutive sitzen, sie ihre stärksten Ideologen an die Schaltstellen befördern.
Einen Marsch durch die Institutionen kann man aber erst durchsetzen, wenn man die Institutionen auch erobert. Und fähiges Personal kann man für eine solche Eroberung auch nur anwerben, wenn es Ämter als Belohnung gibt. Wenn das nicht der Fall ist, hat man Utopisten und Gescheiterte als Gefolgsleute, aber niemanden, der bereit ist, sein Leben in die Waagschale zu werfen, mit der Aussicht darauf, die mögliche Selbstverbrennung mit Macht zurückbezahlt zu bekommen. Das ist alles dreckig, schmutzig und opportunistisch – aber so funktioniert Politik. Sich diesen Regeln anzugleichen, um über Jahrzehnte die Machtbasis auszubauen, ist eine – machiavellistisch gesprochen – „Innere Staatsraison“: Man redet im Rathaus anders als auf dem Marktplatz.
Stattdessen hat man sich in einer ideologischen Wagenburg eingeigelt, und das Schmitt’sche Freund-Feind-Schema dermaßen eskaliert, dass jeder, der an der Linie Kritik übt, zumindest mit dem politischen Todfeind in Kontakt steht, wenn nicht sowieso ein Verräter an den Idealen ist. Das eigene politische Eunuchentum wird dann nur als Vorstufe zum Tag X verklärt, an dem die große Wende kommt. Die Entwicklung ist nicht unverständlich, und wie so oft hat Angela Merkel bei dieser geistigen Versteifung ihren Anteil gehabt: Weil ihre eigene, „pragmatische“ Politik überall als „Realpolitik“ gelobt wurde, muss jede eigene „Realpolitik“ zugleich einen Verrat der Werte bedeuten, wie ihn die CDU begangen hat. Realpolitik wird deswegen in gewissen AfD-Kreisen nur dann als Begriff bemüht, wenn man als traditioneller Katholik sein Glückwunschvideo an das chinesische Christenhasserregime in Peking rechtfertigen will, also in einem Moment, wo tatsächlich ideologische Festigkeit gefragt gewesen wäre.
Dabei war der Fehler der Merkel-Jahre nicht der Mangel an Ideologie oder ein Zuviel an falscher Ideologie. Es war der Mangel an machiavellistischer Staatsräson, das zu tun, was der Republik als Ganzem nützt, das zu tun, was sie langfristig stärkt und im Sinne zukunftsgewandter Politik darauf zu achten, was für das Allgemeinwohl der Republik zuträglich ist (hier treffen sich übrigens Thomismus und Machiavellismus). Auf der einen Seite herrschte stattdessen machiavellistische Perversion, indem es lediglich um den persönlichen Machterhalt einer Fürstin ging, auf der anderen Seite geschah dagegen eine Absage an jeden Machiavellismus.
Nicht aufgrund irgendeiner messianischen Sendung des deutschen Volkes, sondern aufgrund dieses Mangels an Wiederherstellung des Allgemeinwohls, des Wieder-auf-die-Füße-Stellens der Politik hat die deutsche Rechte einen Auftrag. Er besteht nicht darin, zu revolutionieren, sondern zu ordnen. Er besteht darin, dem „Normalen“ Geltung zu verschaffen („Naturrecht“). Er besteht darin, sich an der Lebenspraxis auszurichten und nicht an der schnöden Theorie. Und er besteht darin, mit Aristoteles den Finger auf den Boden zu richten, wenn andere den Finger zum Himmel heben – und mit Christus den Finger auf den Himmel zu richten, wenn alle auf den Boden zeigen. Konservative zeichnet die metaphysische Ebene aus, Glauben und Vernunft zu vereinen. Liberale und Linke betonen nur eine Seite.
Um sein Land zu schützen, muss ein Fürst manchmal lügen, und um seine Werte zu retten, muss ein Rechter manchmal Abstriche machen; daraus zu schließen, man müsse immer lügen oder immer Abstriche machen, ist eine undifferenzierte Meinung derjenigen, die bei der SS gar nicht genug differenzieren können. Macht ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Durchsetzung: Das ist die Trennlinie zwischen Merkel und Machiavelli. Nicht Metapolitik, sondern Macht macht sexy.
Krahs Fall war daher vielleicht die letzte Chance der AfD, den Anschluss an die europäischen Entwicklungen nicht zu verpassen. Ähnlich wie Marine Le Pen kann sie es als Anlass nehmen, um ein Exempel zu statuieren. Sie könnte jetzt Führung aufbauen, Organisation aufzeigen und aus der juvenilen Anarchie ausbrechen, um erwachsen zu werden. Es geht dabei nicht um rechts oder moderat, sondern um Format. Das sollte sie nicht nur mit Blick auf Deutschland, sondern auch auf Europa tun. Die AfD hat Recht, wenn sie das Problem auf EU-Ebene verortet – das war einer ihrer Gründungsmythen. Sie muss dann aber auch nach dieser Prämisse handeln und dort aktiv werden.
Zumindest wäre das alles der übliche Weg in einer europäischen rechten Partei gewesen. Auf diese Weise hat Matteo Salvini Umberto Bossi abgelöst, hat Marine Le Pen ihren Vater entmachtet. Sicherlich nicht die freundlichsten Aktionen. Sie haben aber davor bewahrt, dass die Lega im Korruptionsskandal untergeht und Le Pen ihrer Partei neue strategische Optionen eröffnet.
Mit dem Auftritt Tino Chrupallas am Freitag hat die AfD dagegen ihr Schicksal gewählt. Statt den strategischen Fehler einzusehen, hat er Krah den Rücken gestärkt und in einer völlig deplatzierten wie unprofessionellen Bemerkung, indem er einen Social-Media-Slogan (Melonisierung) publik gemacht hat, die AfD nicht nur für diese fünf Jahre als Partner ausgeschlossen, sondern darüber hinaus. Wer auf europäischer Ebene eine derart kolossale Dysfunktionalität beweist und dann auch noch die Schuld anderen zuweist, indem er sich die Einmischung von außen verbittet (zur Erinnerung: Es war die AfD, die die Italiener zur SS belehren wollte, nicht andersherum), der hat sich im eigenen Saft gemütlich eingerichtet. Führung heißt dann: Vollendung des ideologischen Kaders.
Somit bleibt nur noch der Verbleib in der Wagenburg, in der sie die zahlreichen europäischen Rechtsparteien zu bloßen Geisterfahrern deklariert, die ihr entgegenkommen. Aber für diese Art der utopistischen Politik und Weltsicht braucht es die deutsche Rechte nicht. Dafür hat Deutschland bereits die Grünen. Mit dem Unterschied, dass diese wissen, wie man auf der Klaviatur der Macht spielt.