Ja, die EU-Wahl, für die sich kaum ein Mensch wirklich interessiert, gibt es auch. Sie ist aber nur Auftakt und erste Etappe im großen Gefecht um den Bundestag im übernächsten Herbst. Deutschland ist jetzt bis dahin im Wahlkampfmodus.
I.
Unvermutet ist die Ausgangssituation eine andere. Die von allen anderen Parteien zum Hauptgegner bestimmte AfD steckt plötzlich in einer tiefen Krise. Sie hat derzeit nur sich selbst zu fürchten und ihre Freunde. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Gut, ein wenig bemüht sich auch die deutsche Justiz. Aber dass Le Pens Rassemblement National und Matteo Salvinis Lega und andere Parteien im EU-Parlament nicht mehr mit diesen deutschen Rechten zusammen gesehen werden möchten, schadet ihnen mehr als alle von deutschen Heimwerkern hoch gezogenen Mauern. Sie haben sich selbst isoliert. „Die AfD ging von Provokation zu Provokation. Jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, sich zu distanzieren, sondern es ist an der Zeit, einen klaren Bruch mit dieser Bewegung zu vollziehen, die nicht geführt wird und eindeutig unter dem Einfluss radikaler Gruppen innerhalb der Bewegung steht“, so weit Marine Le Pen.
Am schmerzhaftesten trifft der Vorwurf mangelnder Führung. In der Tat haben Weidel und Chrupalla zugelassen, dass auf den ersten beiden Plätzen der Liste für die EU-Wahl gegen besseres Wissen untragbare Figuren gestellt wurden. Gewiss: Die französische Rechte ist auf direktem Marsch in den Élyssée-Palast und will sich deshalb alles Diabolische abschminken. Aber es liegt schon an den deutschen Alternativen selbst, dass sie den erfolgreichen Weg der Öffnung zur Mitte und damit jede Anschlussfähigkeit verfehlen. Da nützt es auch nichts, den SS-Verharmloser Krah noch schnell aus dem Verkehr zu ziehen. Spionage- und Korruptionsverdacht von Krah und Bystron kommen hinzu. Das wird nicht ohne Wirkung bei den Wählern bleiben, selbst im wildesten Osten. Die AfD hat ihre besten Zeiten vorläufig hinter sich. Es wäre deshalb Unsinn, jetzt noch immer so zu tun, als ginge es in Deutschland ausschließlich darum, die Demokratie vor der AfD zu retten. Das schafft die AfD ganz allein.
II.
Deutschland ist nicht gerade im Wahlkampffieber. Das war es im Grunde seit Jahrzehnten nicht mehr richtig. Immer, wenn der Souverän zu seiner Waffe, pardon, zur Wahl gerufen wird, geschieht etwas sehr Paradoxes. Die politische Debatte wird herunter gedimmt, bis im Funzellicht kaum noch etwas zu erkennen ist. Das spricht dafür, dass die Parteien ihrem Auftraggeber, dem Wahlvolk nicht über den Weg trauen und seine wahren Bedürfnisse nicht ernst nehmen. Vor den Wahlen werden außer Slogans, die nicht einmal das intellektuelle Niveau deutscher Abiturienten erreichen, Beruhigungsmittel verteilt. Jede Partei verabreicht ihre eigenen. Wer mehrere zugleich schluckt, ist selbst daran schuld, wenn ihn die Nebenwirkungen ins Koma versetzen. Es wird aber nicht alles gut, nur weil die Parteien es behaupten. Mehr Aufmerksamkeit für die wahren, tiefen Probleme dieses Landes, für seinen Abstieg auf Irrwegen, könnte der Demokratie nicht schaden. Wohl aber den demokratischen Parteien.
III.
Die – darf man sagen: – Hoffnung, die Ampel werde spätestens im Herbst mit den Landtagswahlen im Osten zerbrechen, kann man vergessen. Olaf Scholz, der – man wagt es nur drei Jahre nach dem Abgang von Angela Merkel kaum zu denken – schlechteste Bundeskanzler in der 75-jährigen Geschichte der Republik – kann dennoch nicht von seinem Amtsbonus profitieren. Man könnte auch sagen: Es waren drei kanzlerlose Jahre. Insofern war er nicht einmal der schlechteste. Falls die SPD noch rechtzeitig zu sich kommt, wird Scholz nicht mehr kandidieren und dem beliebten Verteidigungsminister Pistorius den Vortritt lassen. Aber Einsicht ins eigene Versagen ist bei ihm nicht zu erkennen. Derzeit bemüht er sich, seinen Kopf damit aus der Schlinge zu ziehen, dass er ihn nach links dreht. In der vagen Hoffnung mit aberwitzigen Mindestlöhnen und der Verweigerung einer unausweichlichen Rentenreform bei kleinen Leuten zu punkten. Gelingen wird ihm damit allenfalls, dass es Friedrich Merz, dem kommenden Kanzler, schwer fällt, mit dieser SPD zu koalieren.
IV.
Worüber sich die Grünen klammheimlich freuen. Habeck versteht jedenfalls von Dè-diabolisation (siehe Le Pen, nur eben auf links) mehr als die AfD. Er gibt sich neuerdings als Erbe Ludwig Erhards, obwohl jedermann weiß, dass seine Transformation jeder Sozialen Marktwirtschaft das Licht ausbläst. Wird Merz darauf hereinfallen? Mangels Alternative hereinfallen müssen? Auszuschließen ist es nicht. Habeck hat es aber auch nicht leicht: Der Klimawandel hat als überragendes Angst-Thema ausgedient. Die Leute haben mehr Angst vor dem Ende ihres bescheidenen Wohlstands.
V.
Es erscheint zum Glück derzeit immer wirkungsloser, Politik weiter zu moralisieren und damit die Gesellschaft weiter zu spalten. Selbst der gute alte deutsche Pazifismus weiß nicht mehr ein und aus. Scholz spielt ungeniert mit der Kriegsangst der Deutschen. Schwerter aus Pflugscharen für die Ukraine – oder doch lieber Frieden mit allen, ob sie bösen Willens sind (Putin, Hamas) oder nicht? Weil die Lage so unübersichtlich ist, weiß auch niemand so recht, wie er damit im überlangen Wahlkampf umgehen soll. Ihn ausfallen zu lassen, schiene manchen Strategen das Beste. Aber das geht nicht, wegen dieser komischen, irgendwie im Weg herum stehenden Demokratie. Die Alternative wäre, nur so zu tun, als sei Wahlkampf – und statt der Demokratie kurz mal die Politik zu suspendieren.