Martin Schulz hat es geschafft: Er ist an diesem Wochenende auf den Covern der beiden Nachrichtenmagazine SPIEGEL und FOCUS. Während die Redaktion aus Hamburg hin und her gerissen ist zwischen Charisma und EU-Hinterzimmerpolitik outen sich die Münchner (mit Hauptredaktion inzwischen in Berlin) als Spielverderber.
Der Reihe nach: Vor zwei Wochen titelte DER SPIEGEL „Sankt Martin“. Diese Zeile fordert jeden Blattmacher zum Wortspiel heraus. Und Martin Schulz macht es seinen Kritikern leicht. Das Bild, das Daniel Goffart, Hans-Jürgen Moritz und Mirjam Moll in der Titelgeschichte des FOCUS „Der Scheinheilige“ zeichnen, ist das eines Machtpolitikers, der in Brüssel und Straßburg politisch nichts ausgelassen hat. Die FOCUS-Redaktion konzentriert sich nicht auf die Inszenierung, sondern auf das, was messbar ist. Die Arbeit als EU-Abgeordneter, zuletzt als Präsident des EU-Parlaments. Seine Chancen zu nutzen, ist sicherlich eine große Stärke. Die andere Seite ist Günstlingswirtschaft, Entscheidungen an den Institutionen vorbei, Verzögerungstaktik, wenn sie dem Brüsseler Old-Boys-Network hilft. Die SPD hat andere Ansprüche. Jedenfalls formuliert. Anders als es seine Selbstdarstellung glauben machen will, steht Schulz für genau das, was er vorgibt nicht zu sein: Politestablishment.
Einen solchen Instinktpolitiker hat Deutschland seit Gerhard Schröder nicht mehr erlebt. Und mit diesem hat er mehr gemein, als die SPD wahrhaben will. Mit seiner Kanzlerkandidatur dreht die SPD das Rad um ein gutes Jahrzehnt zurück. Den Linken in der Partei dürfte das nicht ins Konzept passen. Und doch wird ihnen nicht anderes übrigbleiben, Hauptsache, man kommt aus dem Umfragetiefs heraus. Und wenn man dann Morgenluft schnuppert, wird die parteiinterne Demontage beginnen, dann, wenn die linken SPDler versuchen werden, inhaltlich die Weichen für rot-rot-grün zu stellen. Und immer grüßt das Murmeltier Steinbrück.
Der SPIEGEL bejubelt weiterhin den frisch gekürten SPD-Kanzlerkandidaten. „Endlich Sauerstoff“ konstatiert Dirk Kurbjuweit in seinem Leitartikel, spricht von „Wende“, „ Mobilisierungsphase“ und „Leidenschaft“, merkt aber auch realistisch an, dass der emotionalen Phase irgendwann eine rationale Phase folgen wird, in der die Menschen Antworten auf die drängenden politischen und sozialen Fragen haben wollen.
Schulz oder Merkel? Für den SPIEGEL ist das keine wirkliche Alternative. Allein die Auswahl der Bilder spricht Bände: Die Redaktion hat sich emotional entschieden, siehe oben. Peter Müller und Christian Reinermann legen dann rational nach. „Jeden Tag Dienstreise“, das kann ja auch nicht sein. Und so wird ein erster Skandal publik, im Mittelpunkt der Schulz-Vertraute Markus Engels, der sich in Bonn um die Belange des Präsidenten des EU-Parlaments kümmerte, offiziell in Brüssel angestellt, und so gut wie täglich auf Dienstreise in Berlin, was die monatliche Abrechnung ordentlich aufhübschte. Wie viel „Enthüllung“ an der Geschichte ist, lassen wir mal außen vor. Jeder, der an die Spitze will, weiß, wie wichtig es ist, die Leichen rechtzeitig aus dem Keller zu holen, lieber früher als später. Und die SPIEGEL-Redaktion ist gerne dabei, wenn es langfristig der Sache dient.
Schulz oder Merkel? Durch die SPD geht mit Schulz ein Ruck. Die Umfrageergebnisse machen Bocksprünge, den Ortsvereinen gehen die Parteibücher aus. Seminare zum Wahlkampf auf lokaler Ebene sind überbucht. AfDler treten in die SPD ein, weil sie in Schulz das finden, wonach sie gesucht und anderswo nicht gefunden haben: den Heilsbringer, den Mann der von unten kommt. Und Merkel, letzte Woche zur gemeinsamen Kanzlerkandidatin von CDU/CSU gekürt? Vor dem letzten Wahlkampf soll sie einmal in vertrauter Runde verkündet haben, dass sie 2017 nicht wieder als Kanzlerkandidatin antreten werde. Eines bleibt festzuhalten: All die Jahre seitdem haben weder sie noch Horst Seehofer– aus unterschiedlichen Gründen – dazu beigetragen, geeignete Nachfolger aufzubauen. Das ist das Dilemma der Schwesterparteien.
In beiden Magazinen vermisse ich die Antworten auf die in den nächsten Jahren entscheidenden politischen Fragen: Wer ist am ehesten in der Lage, Trump und Putin zu zähmen? Und wem ist ein Neuanfang bei der EU zuzutrauen? Bei diesen beiden für Deutschland existenziellen Fragen dürfen Emotionen keine Rolle spielen. Da ist Rationalismus gefragt.
Beide, sowohl Merkel als auch Schulz, brauchen anscheinend dringend Ideen und Visionen dafür, welcher Kurs einzuschlagen ist. Wachstum und Wohlstand können nur dann gewahrt werden, wenn Vollbeschäftigung, Stabilität und Humanität die Leitlinien deutscher Politik bleiben.
„Die Welt wird verrückt“ überschreibt treffend Klaus Wiegrefe seinen Beitrag über das Tagebuch des Monsignore Paul Adenauer: über das Leben mit seinem Vater Konrad Adenauer zwischen 1961 und 1966, das jetzt veröffentlich wurde. Was für Trump sein Bademantel war für Adenauer sein Morgenrock, in dem er nach der Darstellung des fünften und in seinen letzten Lebensjahren ihm vertrautesten seiner insgesamt acht Kinder frühmorgens am Esszimmertisch Vermerke schrieb. Eine empfehlenswerte Lektüre für Kanzlerkandidat(inn)en über Konkurrenzkampf, Europa und das deutsch-amerikanische Verhältnis.
Wer Bundeskanzler werden will, sollte dringend das Interview „Egoismus gesät, Trump geerntet“ von Markus Brauck und Alexander Jung mit dem Ökonomen Thomas Straubhaar lesen.
Und zum Schluss Nutzwert pur von Markus Dettmer für alle, die ganz nach oben wollen: „Wer wird Milliardär?“. Es könnte auch heißen: „Das Erfolgsgen“. Daraus leiten wir Regeln für Kanzlerkandidaten ab: Die „Schule des Lebens“, implizites Wissen, das unbewusste und ungesteuerte Lernen, der Kampf gegen Autoritäten und Vorschriften, die Fähigkeit, Siege und Niederlagen zu verkraften, Verantwortung zu übernehmen und zwischen Menschen zu vermitteln und alleine gegen den Mainstream schwimmen können – das macht Siegertypen aus.