Bereits seit einigen Jahren wandert dieses Gespenst nicht nur durch die Medien, sondern auch den Bildungsweg Heranwachsender. Islamophobie ist ein anerkanntes Phänomen, verurteilenswert, und natürlich völlig unbegründet, wie der Begriff suggeriert – aber was ist eigentlich mit der Teichophobie, der Angst vor Mauern? Liest man Zeitungsartikel, schaut Dokumentationen oder analysiert Schulbücher, so kommen beinahe alle zum selben Ergebnis: Mauern sind schlecht. Angewandter, postfaktischer Geschichtspopulismus, der einseitig urteilt, vereinfacht und zuletzt auch völlig unbegründet ist.
Bereits seit einigen Jahren hat sich eine Doktrin eingenistet, dass Mauern per se eine nicht nur moralisch verwerfliche, sondern auch praktisch unnütze Angelegenheit seien. Das beginnt bereits in der Unterstufe des Gymnasiums im Englisch-Unterricht mit dem Hadrianswall, oder in Latein mit dem Limes, wo man mehr oder minder einfließen lässt, dass Imperien, die zu schwächeln begännen, Mauern bräuchten. Bilder von „Mauern im Wandel der Zeit“ suggerieren anhand eines Bildes der Berliner Mauer aus den 80er Jahren, dass es sich hier um eine Kontinuität der Geschichte handele. Duktus: die Sowjetunion, bzw. der ostdeutsche Vasallenstaat waren „gezwungen“, eine Mauer zu bauen; ergo waren auch die Römer „gezwungen“ dasselbe zu tun. Und natürlich wird insinuiert: die Mauern „müssen fallen“, so wie der Hadrianswall, der Limes, die Berliner Mauer. Am Ende gewinnen die Guten. Die edlen, germanischen Barbaren! … Oder eben auch nicht.
Schützend
Die Analogien kennen natürlich keine Grenzen, ganz im Gegensatz zu manchem Grenzwall. Wie oben gezeigt, verirren sich diese bei genauerer Betrachtung recht schnell. Das Römische Imperium oder das alte China wurden zwar auch von „Notleidenden“ und „Bedrängten“ bestürmt – den Völkerwanderungen verschiedener Stämme schlossen sich stets die Familien an, und der Auszug derselben hatte seinen Ursprung nicht selten in Hungersnöten oder der Flucht vor anderen Horden – aber man muss wirklich eine merkwürdige Vorstellung von moralischen Parametern besitzen, wenn man meint, dass feindliche Invasionen eine freiwillige Selbstaufgabe legitimierten. Zumindest hatten weder die römischen, noch chinesischen Kaiser ein Interesse daran, ihre Staaten der ausländischen Plünderung anheimfallen zu lassen, von Mord und Vergewaltigung ganz zu schweigen. Kurzum: der Mauerbau schützte die eigenen Subjekte, eine Priorität, die selbstverständlich sein sollte.
Die Schwäche der antiken Staaten zeigte sich daher nicht etwa im Mauerbau, sondern im Fall der mehr oder minder befestigten Grenzen. Der Limes und der Hadrianswall entstammen der klassischen Kaiserzeit, die weniger den Niedergang, als vielmehr den Zenit der römischen Herrschaft kennzeichnen. Sie rundete den römischen Herrschaftsanspruch ab und festigte sie. Es handelte sich dabei auch um keine „Verschanzung“. Mauerbau bedeutet nicht Isolationismus. Im Gegenteil kann eine gefestigte Position strategische Vorteile in der mobilen Kriegsführung bringen. Römische Legionen führten immer wieder Expeditionen in Germanien an, auch nach Varusschlacht und Limesbau.
Die wahre Schwäche Roms deutete sich an, als eben diese Grenzanlagen immer weiter an Bedeutung verloren, und das Reich ungehemmter Einwanderung ausgesetzt war. Der Begriff ist mit Bedacht gewählt. Die Terwingen – ein germanischer Stamm, der später in den Westgoten aufgehen sollte – überschritten aus Furcht vor den Hunnen die Donau und drangen so in das Imperium ein; der Kaiser hatte ihnen dies erlaubt, um sich später in Thrakien anzusiedeln. Die Römer überschätzten aber die Auswirkung der Handreichung, denn bald schwemmten die verschiedensten germanischen Vielvölkerscharen unkontrolliert über die Donau-Ufer. Die Verwaltung schaffte es nicht mehr, den Zuzug in Schach zu halten oder die Mengen zu entwaffnen. Der Einladung folgte Überforderung, der Überforderung Kontrollverlust, dem Kontrollverlust Auseinandersetzungen zwischen den Gästen und den Gastgebern, bis die zuvor großzügig aufgenommenen Einwanderer innerhalb der römischen Grenzen revoltierten. Die Schlacht von Adrianopel – eben nicht an der Grenze, sondern inmitten römischen Territoriums, nur eine Tagesreise von der Hauptstadt Konstantinopel entfernt – wurde zum Fiasko und Menetekel des römischen Nieder- und Untergangs. Es war also gerade nicht der Mauerbau, sondern dessen Aufgabe, der Roms Schicksal vielleicht nicht besiegelte, dafür aber in Richtung Verhängnis lenkte.
Mögliche Übereinstimmungen mit zeitgenössischen Ereignissen sind natürlich rein zufällig, allerdings so zufällig, dass Demandt seinerzeit für diese düstere Parallelziehung zensiert wurde.
Zudem sei hinzugefügt: man darf sich die beiden römischen Parademauern nicht als unüberwindlichen Betonwall vorstellen, den es um jeden Preis zu verteidigen galt. Die beiden Wälle funktionierten als „Kontrolle“, den „Schutz“ gewährleisteten Legionslager. Im militärischen Sinne erfüllten die Grenzen daher eher die Rolle eines erweiterten Vorwarnsystems, an dessen kritischen Punkten die römische Armee im Ernstfall heranrückte; Verteidigungskämpfe Mann gegen Mann auf den Zinnen sind nicht auszuschließen, dürften aber in ihrer Masse nicht mit dem romantischen Bild übereinstimmen, das eher auf die Belagerung und Stürmung mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Wehranlagen zutrifft.
Mit „Kontrolle“ ist dabei nicht nur militärische Kontrolle gemeint. Eine Mauer mit ihren Toren formt Nadelöhre. Grenzkontrollen bedeuten: Zölle, Personenkontrolle, Begrenzung der Migration. Das war bereits zu römischen Zeiten so. Der Limes vereinfachte es enorm, genau darauf zu schauen, wer in römisches Territorium eindrang. Bei einem unübersichtlichen und bewaldeten Gebiet wie Germanien war das notwendig.
Ordnend
In diesem Zusammenhang auch die oft gestellte Frage, ob sich die diversen Verteidigungsanlagen denn „gelohnt“ hätten. Ja, natürlich haben sie das! Denn im Gegensatz zu „inneren Mauern“, wie jene von Berlin, die enorme Unterhaltskosten verschlang, aber außer der Einkerkerung der eigenen Bevölkerung keinen Mehrwert brachte (auch wenn sie Spitzenkräfte am Wegzug hinderte – sie hinderte nur, bekräftigte den Status quo, brachte aber realiter nichts ein), ist eine „äußere Mauer“ ökonomisch lukrativ, wenn sie Schmuggel verhindert und Zölle erhebt. Nicht nur in der Antike, auch im Mittelalter waren gerade die Stadtmauern der Freien Reichsstädte nicht nur Symbol der Unabhängigkeit nach außen, sie sicherten auch zu, dass die Händler an den Grenzposten ihre Zölle zu entrichten hatten, bevor sie auf dem Markt handeln durften. Vor allem waren aber diese mittelalterlichen Mauern Zeichen der „Freiheit“ – neben dem Schutz vor marodierenden Plünderern behaupteten sich diese ersten Keimzellen abendländischen Bürgertums gegen Könige (Italien) und Fürsten (Deutschland). Um also den populistischen Vorwurf zurückzuwerfen, der jedweden Wall als „Spaltung“ ansieht, unvereinbar mit unseren „Werten“: Mauern bedeuten Demokratie und Freiheit, und das bereits, seitdem die Athener ihre Langen Mauern nach Piräus zogen. Ebenso erscheint der Vorwurf, Mauern bedeuteten gleich das Ende der Völkerverständigung, ebenso fraglich; im Englischen gibt es nicht nur das Sprichwort, dass gute Zäune auch gute Nachbarn machten, sondern auch den bekannten Ausspruch Benjamin Franklins: Love thy neighbor, yet don’t pull down your hedge.
Vielleicht ist es also doch kein Zufall, dass historisch Mauern die Geburtsstunde des Kapitalismus einläuteten, einmal durch den Aufstieg der okzidentalischen Stadt nach dem Weber’schen Modell, andererseits aufgrund der kapitalistischen Grundprämisse, welche dem „Eigentum“ so viel Platz einräumt. Wenn jeder weiß, was einem gehört, und jeder an sich selbst denkt, ist für alle gesorgt – und nur wer Eigentum hat, ist „frei“, in dem Sinne, dass er sich Freiheiten erlauben kann, die einem Abhängigen schwerer fallen.
Vermutlich ist das ein Grund, weshalb die geistigen Nachfahren Rousseaus so viel Anstoß an Mauern nehmen, hatte dieser es doch als Ursünde aufgefasst, als der erste Mensch einen Zaun um sein Grundstück gelegt hatte. Heißt: es ist kein Zufall, dass „open borders“ und die Abschaffung des Privateigentums (und damit womöglich auch: unseres westlichen, organisch gewachsenen Lebensstils aus der Kontinuität heraus) beide mit einer ähnlichen Ideologie zusammenhängen. Ungarn, Bulgarien und Spanien bauen daher „Mauern der Schande“, weil sie egoistisch ihre Interessen über die Fremder stellten. Das moralische Argument bleibt allerdings hier das einzige nennenswerte, da historisch betrachtet Mauern eben doch ein Erfolgsmodell waren – ansonsten hätten Menschen sie nicht durch alle Zeitalter hindurch immer wieder errichtet. Einige Mauern, wie jene der alten Imperien oder der Freien Reichsstädte haben dabei nicht nur mythische Kraft, sondern faktisch historische: so stand und fiel Byzanz mit den Theodosianischen Mauern, der Bruch in der Mauer von Konstantinopel bedeutete zeitgleich den Untergang Ostroms, den Aufstieg der Osmanen und das Ende des Mittelalters; der Widerstand der Mauern von Wien und Malta gelten bis heute als Ende dieser muslimischen Expansion. Dass alle großen Verteidigungsanlagen über Jahrhunderte ihren Dienst erfolgreich versahen (von der israelischen Mauer, welche die Terroranschläge erheblich gesenkt hat, will ich nicht anfangen), wird daher zu Unrecht ausgespart oder uminterpretiert; alles geht den Weg des Irdischen, aber gerade den Mauern daraus einen Strick zu ziehen, obwohl diese über Jahrhunderte Imperien wie Rom oder China, sowie Stadtstaaten vom Range Genuas und Luccas schützten, erschließt sich kaum. Ein Land mit Mauer mag fallen, aber es ist immerhin mehr als ein offenes Land ohne Mauer.
Woher dann die merkwürdige Vorstellung, Mauern seien moralisch schlecht, wirkungslos und ökonomisch sinnlos? Ich vermute hier: die Berliner Mauer. Als Trauma nicht nur der Deutschen, sondern des Kalten Krieges. Spricht jemand von Mauern, relativiert der Geschichtspopulismus: Mauern geht gar nicht, denn denk mal an Berlin, du Nazi! Wie wirkmächtig dieser Topos ist, obwohl er im Angesicht jahrtausendelanger Geschichte nicht einmal 30 Jahre in Augenschein nimmt, zeigt sich auch bei „Journalisten“, die gerade einmal sechs Jahre alt waren, als wir den 9. November 1989 schrieben:
Postfaktischer Geschichtspopulismus, würde ich kontern. Aber glücklicherweise bin ich ja kein Journalist.