Es ist schwer, bei den sommerlichen Temperaturen am Abend einen Tisch in den zahlreichen Restaurants rund um den Dizengoff-Platz zu bekommen. Vor vielen Lokalen stehen überwiegend junge Leute in den Warteschlangen. Die trubelige City Tel Avivs mit ihren unzähligen Lokalen, Bars und Clubs, schon seit langem ein Hotspot für die vergnügungssüchtige Schickeria und die LBGTQ+-Szene aus aller Welt, wirkt allerdings nur auf den ersten Blick wie immer.
Der Gaza-Krieg, das Hamas-Massaker und die Geiselnahmen am 7. Oktober 2023 haben eine spürbare Präsenz. Der weitläufige Platz um den Brunnen des Dizengoff Square ist zu einer Art riesigen, kreisförmigen Altar mit Fotos von Terroropfern und Geiseln, mit Blumen und Kerzen, gemalten Bildern von Kindern, Gedichten, Briefen und kleinen Stofftieren geworden. Auf den zahlreichen Sitzbänken an den Bürgersteigen finden sich oft lebensgroße Teddybären mit Farbflecken (symbolisch für Blut), die für die gequälten Opfer des Terrors stehen. Die wenigen Sicherheitskräfte mit Maschinenpistolen am Rand des Platzes halten sich gezielt im Hintergrund.
Gelbe Schleifen und „fckhms“
Viele Israelis tragen eine gelbe Schleife, die an das Schicksal der 131 Geiseln in den Händen der palästinensischen Terror-Organisationen erinnern – niemand weiß, wie viele davon schon nicht mehr am Leben sind. Gelbe Bänder wehen auch an Fahrrädern und Autos. Manche Jugendliche tragen T-Shirts oder Sticker mit der Aufschrift „fckhms“.
Überall in der Stadt Plakate mit den Fotos der Geiseln und der Forderung „Bring them home now“. Auf dem „Platz der Geiseln“ vor dem Kunstmuseum erinnern Stände, Kunstwerke, der Nachbau eines düsteren, engen Gaza-Tunnelabschnitts (geschaffen von dem bekannten Künstler Roni Levavi) und ein kleines Zelt des Open-Air-Festival-Veranstalters Nova an das Grauen jenes Samstags im Oktobert.
Ein lange, symbolisch für die Geiseln gedeckte Shabbat-Tafel findet ihre Fortsetzung in einem anderen Teil des Tisches, auf dem sich vergammelte Essensreste und Plastikflaschen mit dreckigem Wasser befinden, die Stühle ersetzt durch Getränkekisten oder groben Steinen – eine vermutlich zutreffende Anspielung auf die Umstände der Gefangenschaft in Gaza. Sowohl die Anwesenheit von Angehörigen mancher Geiseln und Terror-Opfer an den Ständen als auch die künstlerische Vielfalt der Mahnorte machen das kollektive Trauma der Israelis spürbar.
Auch in Israel Kriegsflüchtlinge
Zwar kommen kaum noch Touristen nach Israel, aber das Nachtleben Tel Avivs hat sich nur graduell verändert. In den Hotels haben viele der mehr als 100.000 israelischen Flüchtlinge Zuflucht gefunden, die vor allem im nördlichen Grenzgebiet von den Raketenangriffen der Hisbollah bedroht waren. Riegs-Lokale, Werkstätten und Firmen in ganz Israel müssen mit Personalnot fertig werden – die Abwesenheit einberufener Reservisten oder die Einbindung von Betrieben in die militärische Logistik ist durchaus spürbar.
Auch der diesjährige Unabhängigkeitstag ist anders als sonst. Der 76. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung von David Ben Gurion in Tel Aviv am 14. Mai 1948 wird nicht nur überschattet von dem nationalen Schockerlebnis des Massakers der Hamas und dem Krieg im Gazastreifen, sondern auch einer teilweise tiefen Verunsicherung der Israelis.
Ohne Feuerwerk und Luftwaffenshow
Normalerweise feiern die Israelis den Tag der Staatsgründung überschwänglich mit pathetischen Festreden und viel Feuerwerk, einer Flugshow der Luftwaffe, mit Musikveranstaltungen und Grillfesten allerorten.
Diesmal begann der „Jom haAtzma’ut“ gestern Abend zwar wie immer mit dem traditionellen Entzünden von 12 Fackeln, die die zwölf Stämme Israels symbolisieren. Der Festakt wurde diesmal aber bewusst in kleinerem Rahmen gehalten, in Anwesenheit von Präsident Herzog, von Netanjahu, Kabinetts- und Knesset-Mitgliedern, aber ohne viel Publikum wie sonst. Im ganzen Land gibt es heute kleinere Veranstaltungen. Die Angehörigen der Geiseln planten eine eigene Gedenkveranstaltung.
„Dies wird ein trauriger Unabhängigkeitstag, ich werde gar nicht feiern“, erklärte Oppositionsführer Yair Lapid. Die Gründung des Staates Israel sei eine „erhabenes Ereignis“, aber „die Geiseln sind nicht zurück, die Ermordeten nicht mit uns“, es könne kein fröhlicher Festtag sein.
„Tsunami an Hass und Gewalt“ gegen Juden weltweit
„Wie soll ich feiern?“, fragte auch der Illusionist Uri Geller in einer Fernsehsendung. Jedes Jahr habe er bisher „mit Stolz und Freude“ den Unabhängigkeitstag begangen, so der 77-Jährige Zauberkünstler, der noch im Sechs-Tage-Krieg 1967 als Fallschirmjäger im Einsatz war. Jetzt, wo Israel wieder um seine Existenz kämpfe, „unsere Soldaten kämpfen und fallen, die Geiseln in den Tunneln der Hamas sind, … es einen Tsunami an Hass und Gewalt gegen uns in der ganzen Welt gibt“, könne er nicht feiern.
Andere israelische Prominente meinten, es sei wichtig gerade jetzt Stolz und Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Der Unabhängigkeitstag sei Gelegenheit zu demonstrieren, dass Israel heute „einen Pogrom wie den Horror-Tag des 7. Oktober nicht hinnimmt“, sondern mit seinen Streitkräften Stärke und das Recht auf Selbstbestimmung verteidigt, so der Likud-Politiker Dan Illouz.
„Juden kämpfen seit Jahrtausenden“
„Der Unabhängigkeitskrieg hat 1948 weder begonnen noch ist er damals zu Ende gegangen“, betonte der Ex-Brigadegeneral Amir Avivi. Die Juden kämpften „seit Jahrtausenden gegen jene, die unsere Vernichtung wollen“, auch der aktuelle Krieg reihe sich in diesen Überlebenskampf ein. Jeder Bürger des jüdischen Staates sollte am Unabhängigkeitstag diesem Behauptungswillen Tribut zollen.
Auch der Oberrabbiner Südafrikas, Warren Goldstein, erinnerte daran, dass nur die Existenz des jüdischen Staates und der israelischen Streitkräfte verhindert habe, dass der 7. Oktober nicht der Startschuss zu einem neuen Holocaust geworden sei. Nur die Stärke Israels habe verhindert, dass die Hamas „Millionen Juden getötet hat“.
IDF-Chef übernimmt Verantwortung für 7. Oktober
Gestern, am Vortag des Unabhängigkeitstag wurde in Israel mit zahlreichen Veranstaltungen und Reden gedacht. Bei dem zentralen Festakt des „Remembrance Day“ vor der Klagemauer in Jerusalem übernahm erstmals der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte IDF, Generalleutnant Herzl Halevi die Verantwortung für die Fehler, die das Massaker der Hamas am 7. Okotber überhaupt erst möglich gemacht haben.
Das Gewicht der Verantwortung laste jeden Tag auf seinen Schultern und in seinem Herzen, sagte Halevi. „Ich verneige mich in Erinnerung an die Bürger, die wir nicht haben schützen können“. Er wird nicht der letzte sein, der sich für das desaströse Versagen der israelischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste vor dem Hamas-Überfall verantwortlich erklären muss. Die meisten Israelis scheinen Verständnis dafür zu haben, dass die Zeit der politischen Aufarbeitung erst nach dem Krieg möglich sein wird.
Ein Tiefpunkt in der Geschichte Israels
Denn der „schwarze Sabbat“, wie der 7. Oktober genannt wird, markiert einen Tiefpunkt in der Geschichte des jüdischen Staates. Seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 waren nicht so viele israelische Opfer von Krieg und Terror zu beklagen wie seit dem 75. Jahrestag der Unabhängigkeit 2023: fast 1600 Soldaten und Zivilisten wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums seither getötet. Seit dem 7. Oktober starben 711 Soldaten, 39 Sicherheitsbeamte, 68 Polizisten und sechs Mitglieder des Shin Bet, der israelischen Inlands-Geheimdienstes.
Die Israelis fühlen sich derzeit weltweit isolierter und unverstandener denn je. Sie sehen erschrocken weltweit einen jäh aufgeflammten, aggressiven Antisemitismus – ob an den Universitäten der USA und Englands oder rund um das Europäische Schlagerfestival ESC.
„Der 7. Oktober markiert den Tag, seitdem es in aller Welt keine Hemmungen mehr gibt, dem Hass auf Juden freien Lauf zu lassen, auch wenn sich dieser Antisemitismus meist als Anti-Zionismus zu tarnen versucht“, meinte Robby Spiegel, einflussreicher Geschäftsmann und seit Jahrzehnten eine der führenden Köpfe des internationalen Zionismus.
Historische Zäsur
Viele Israelis betrachten den „schwarzen Schabbat“ als historische Zäsur. Sie hat trügerische Gewissheiten über eine weitgehende Sicherheit der Menschen in Israel beseitigt; ebenso stellt sie die Verlässlichkeit der Freunde des jüdischen Staates in Frage.
Insbesondere von den USA sind viele enttäuscht. „Bidens Politik markiert einen dunklen Wendepunkt in den amerikanisch-jüdischen Beziehungen“, kommentierte die „Jerusalem Post“ die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, bei einer Offensive Israels in Rafah im Süden des Gaza-Streifens den Export von Offensivwaffen zu stoppen.
Trotz der eher irritierenden Apelle von Außenministerin Annalena Baerbock und anderen deutschen Politikern an Israel, eine Waffenruhe auch vor einer Zerschlagung der Hamas zu akzeptieren, wird in Israel vor allem die Unterstützung und Solidarität Berlins wahrgenommen.
Präsident Isaac Herzog nannte in einem Interview zum Unabhängigkeitstag den Besuch von Bundespräsident Walter Steinmeier im Kibuzz Beeri und seine Hilfsangebote als eine der bewegendsten Erlebnisse, was die internationalen Reaktionen auf den 7. Oktober betrifft.
Netanjahus Zwickmühle
Israel befindet sich in dieser scheinbaren Schlussphase des Kriegs in einer Zwickmühle. Gibt Netanjahu dem internationalen Druck nach, wird sich die Hamas wohl zu Recht als Sieger füllen. Startet Israel eine Großoffensive, könnte der zu erwartende internationale Aufschrei tatsächlich die ohnehin schüttere Riege der Freunde und Gesprächspartner zum Beispiel in der arabischen Welt weiter gefährlich dezimieren.
In Rafah befinden sich derzeit geschätzt 1,4 Millionen geflohener Palästinenser, die als Lebensversicherung der verbliebenen Bataillonen der Hamas und seiner Führung gelten können. Schließlich wird Netanjahu aus aller Welt, so auch von der deutschen Regierung, aufgefordert, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, auf eine Großoffensive in Rafah zu verzichten und damit wohl auch auf die Absicht, die Hamas völlig zu zerschlagen.
Eine Beendigung der Kampfhandlungen fordern in Israel laut Meinungsumfragen derzeit aber nur eine Minderheit; sehr wohl gibt es eine starke Bewegung, die auch weitgehende Zugeständnisse Netanjahus an die Palästinenser fordert, damit die verbliebenen Geiseln freikommen.
Obwohl sich angesichts des schlimmsten Massenmordes an Juden seit dem Holocaust die große Mehrheit der Israelis weitgehend das Kriegskabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versammeln konnte, bleibt das Land politisch nach wie vor tief gespalten.
Netanjahus Fall wird Israels Nöte nicht beenden
Zwar unterstellen auch in Israel manche Netanjahu, dass er aus eigennützigen Gründen und um des Machterhalts willen kein Interesse an irgendeiner Beendigung des Kriegs habe. Dieser Vorwurf, den auch viele westliche Medien und Politiker erheben, wird weder von Oppositionsführer Lapid noch anderen führenden Politiker so erhoben. Nichtsdestotrotz wollen laut Umfragen sowohl die Mehrheit der Bürger als auch die Opposition Neuwahlen.
Eine politische Zukunft dürfte der 74-jährige Netanjahu, der die vergangenen drei Jahrzehnte israelischer Politik maßgeblich prägte, kaum noch haben. Aber die Israelis wissen, dass die neuen Probleme Israels keineswegs mit einem Regierungswechsel verschwinden werden. Für Israel hat wohl eine neue Ära begonnen, der mit Optimismus wirklich kaum jemand entgegensieht.