Der EU-Asylpakt vom letzten Dezember gibt Anlass zu allerlei Missverständnissen. Für Grüne und Ultralinke bedeutet das neue gemeinsame EU-Asylsystem (GEAS) bereits eine Art Ende des Asylrechts in den EU-Mitgliedsstaaten. Die federführenden Sozialdemokraten glauben im Gegenteil, dass sie durch das neue Grenzmanagement den Zustrom von Asylbewerbern stabilisieren und gegen Kritik immunisieren können. Denn niemand in der SPD möchte diesen Zustrom aufhalten. Nun kommt noch der Anführer der EU-Christdemokraten und Volksparteiler hinzu – mit neuen Illusionen.
Manfred Weber (EVP-Vorsitzender und CSU-Vize) meint in einem Interview mit den Zeitungen der Funke-Gruppe, dass das GEAS mit seinen Schnellverfahren und geschlossenen Lagern direkt an den Außengrenzen die lange gesuchte Lösung des Migrationsproblems der EU sei. Wenn man den Pakt mit Leben füllt, gäbe es demnach die Chance zu „einer EU ohne Kontrollen an den Binnengrenzen“, meint Weber.
Das wäre dann also eine Rückkehr zu EU und Schengensystem, wie sie vor dem Jahr 2015 bestanden. So lange laufen die Binnenkontrollen schon an vielen Grenzen Europas, eben weil sie durch die wiederkehrenden massiven Migrationswellen nötig waren. Unter den seither beständig kontrollierten Grenzen sind diejenigen der skandinavischen Länder nach Süden (also vor allem zum Transitland Deutschland), dann die Grenze zwischen Österreich und Deutschland und alle Grenzen Frankreichs.
Doch Manfred Weber glaubt, wenn man nur genügend „weitere Migrationsabkommen“ schließt und „Schlepperbanden das Handwerk“ legt, dann könnte man irgendwann auch wieder ohne die Kontrollen auskommen, die ein Mindestmaß an Grenzschutz innerhalb der Schengenzone realisieren. Wann es so weit ist, weiß auch Weber noch nicht so genau, die Umsetzung des Paktes brauche Zeit. Aber Weber tut vor den EU-Wahlen schon einmal so, als ob die „illegale Migration“ bald „gestoppt und an der Grenze für Ordnung gesorgt“ werden könne. Wenn es dann nicht so kommt, wird es vermutlich niemandem auffallen, scheint Weber zu denken.
Denn die Realität in Deutschland und der EU weist noch immer geradewegs in die andere Richtung. Erst im Herbst hat Innenministerin Nancy Faeser unter dem Druck der Verhältnisse zusätzliche Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien, Polen und der Schweiz verkündet. Der Trend geht also aktuell zu mehr, nicht zu weniger Kontrollen, was mit dem nicht nachgebenden Migrationsdruck ins sozialstaatlich wie auch weltanschaulich bis zum Bersten offene Wohlfühlparadies Deutschland zu tun hat. Das blendet Weber aus. Er spricht nicht von den deutschen Pullfaktoren, die es zunächst einmal abzuschaffen gälte. Erst danach könnte man vermutlich auch realistischerweise von der Abschaffung der Binnenkontrollen sprechen.
„Integrationsgrenze“ ist längst überschritten
Weber vergisst auch, dass die beschlossenen Schnellverfahren regulär nur für eine kleine Minderheit der in Deutschland ankommenden Asylbewerber gelten würden, nämlich nur für die Nationalitäten, die eine sehr geringe Chance auf Asyl oder einen Flüchtlingsstatus haben. Türkische Staatsbürger wären davon (irgendwann auf dem Weg zum Jahr 2026) betroffen, Syrer und Afghanen aber noch lange nicht. Und letztere kann man ohnehin aktuell nicht abschieben, ein weiteres Hindernis zu einer Normalisierung der Lage an den Grenzen, die Weber so sehr in den Vordergrund stellt, dass man sich fragt, warum. Die bestehenden, eher lockeren Kontrollen schaden der Wirtschaft nicht. Sie bieten aber – laut Bundespolizei und Innenministerium – die Chance zur Verhinderung der Einreise (letztes Jahr in drei Monaten angeblich 7.100 Mal geschehen, also bei einem Drittel der Einreiseversuche) und die Chance zur Festnahme von Schleusern (angeblich 340 Mal zwischen Oktober und Dezember 2023). Bundespolizeigewerkschafter Heiko Teggatz hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Kontrollen etwas nützen können.
Weber will sich dieser Instrumente wieder begeben. Dabei sind die illegalen Einreisen nach Brandenburg in diesem Jahr im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Und in ganz Deutschland sind Kreise und Gemeinden noch immer hochgradig überlastet. Es ist für die nächste Zukunft von massivem Integrationsversagen auszugehen. Was das für Deutschland bedeuten wird, muss sich erst noch zeigen. Aber die imaginäre „Integrationsgrenze“ ist längst überschritten. Tendenzen zu den verschiedensten Parallelgesellschaften – egal ob von syrischen Stammesgemeinschaften, radikal-islamischen Salafisten oder kriminellen Clans – belegen das.
Was Weber daneben übersieht: Auch die Abschiebungen aus den EU-Ländern der ersten Ankunft bleiben noch sehr unsicher. Sie hängen an den oft eher unklaren Migrationsabkommen, die Weber nun wiederum in EU-Manier in den Vordergrund rückt. Die EU-Außenpolitik müsste an Fahrt aufnehmen, Druck entfalten, müsste Drittstaaten vor Ultimaten stellen, ihnen Fördermittel und andere Vergünstigungen entziehen, wenn sie nicht bei den Rücknahmen kooperieren. Die Türkei ist hier nur ein aktuelles Beispiel, was die ganze Absurdität zeigt. Denn wenn ein Land EU-Mittel zur Migrationsverhinderung bekommen hat, dann die Türkei.
Verquere Einladung an die Grünen: Weber will Migration beibehalten
Kurios bleibt daneben: Weber stellt in seiner Einlassung die „Rechtsextremisten“ auf die eine Seite, die er bekämpfen will. Die Grünen, die der EU-Asylreform ebenso nicht zustimmten, setzt er auf die Gnadenbank und fordert von ihnen, wieder „konstruktiv“ an „dieser historischen Situation“ mitzuwirken. Andernfalls würden sie sich „als Europapartei“ abmelden und könnten jedenfalls nicht „Teil einer Regierungsmehrheit“ sein.
Jene „historische Situation“ kann man durchaus auch als den Versuch sehen, die Zuwanderung in die EU und nach Deutschland weiterhin auf einem für die breiten Bürgerschichten gerade noch akzeptablen Niveau zu halten. Nichts anderes ist der Inhalt dieses Paktes, der damit wiederum ein Pakt gegen die EU-Bürger ist. Und man darf noch einmal fragen, wer das alles eigentlich will. Ruft die Wirtschaft wirklich so laut nach billigen Händen, die sie ja dann doch nicht brauchen kann? Man hört es nicht, die Forderung nach noch mehr „Fachkräften“ kommt immer nur von Politikern.
Weber wirbt also in dieser verqueren Art und Weise bereits um den nächsten Koalitionspartner der kleiner werdenden EU-Mehrheit für die Kommissionspolitik, die derzeit noch aus EVP, S&D und Renew besteht. Wenn die Grünen dazu gehören wollen, dann werden sie eben ein paar Kröten mehr schlucken müssen, so macht Weber ihnen klar. Nichts leichter als das. Oder die EVP rückt selbst wieder ein bisschen mehr ins „Grüne“ und folgt so ihren deutschen Mitgliedern CDU und CSU.