Tichys Einblick
20 Jahre EU-Osterweiterung

Polen in der EU: Zwei Jahrzehnte Überregulierung

Die EU-Osterweiterung galt als historische Chance zu einer dauerhaften Überwindung der Teilung Europas. Der Abbau von Handelsschranken trug zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte Polens bei. Die Regulierungswut von EU-Institutionen wird dagegen vielfach kritisiert – gerade in Ländern, die sich von einer Diktatur befreit hatten.

Radoslaw Sikorski, Außenminister von Polen, zum 20. Jahrestag des EU-Beitritts von Polen, Słubice, 01.05.2024

picture alliance/dpa | Patrick Pleul

Anlässlich des 20. Jahrestags der EU-Osterweiterung am 1. Mai traf der polnische Außenminister Radek Sikorski seine deutsche Amtskollegin Annalena Baerbock. Beide kamen zunächst in der Grenzstadt Słubice zu Gesprächen zusammen und diskutierten anschließend mit Studenten der Europa-Universität Viadrina in der Nachbarstadt Frankfurt (Oder). Die Feierlichkeiten erinnerten an einen sowjetischen Märchenfilm: Alles ist groß, prächtig und im Überfluss vorhanden, die wachsenden Sorgen über die zunehmende und autokratisch eingesetzte Macht des Herrschers wird jedoch ausgeblendet.

Nach dem Beitritt Polens im Mai 2004 war die „EU-phorie“ groß. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, die Oderbrücke in Słubice war mit Sektkorken übersät. Die Europäische Union sollte den neuen Mitgliedsländern eine „Rückkehr in den Westen“ ermöglichen, vor allem aber persönliche Freiheiten garantieren, wie Gedanken- und Informationsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die EU sollte folglich den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes all das gewährleisten, was die Sowjetunion ihnen einstmals verwehrte. Als „historischen Moment“ bezeichnete der damalige polnische Ministerpräsident Leszek Miller die Unterzeichnung der Beitrittspapiere. Sein Außenminister Włodzimierz Cimoszewicz hielt damals in Słubice eine flammende Rede. Beide waren erst einige Jahre zuvor aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) ausgetreten, die sich strikt an die Vorgaben des Moskauer Machtzentrums gehalten hatte.

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Wenn also der alternde Cimoszewicz, ein Relikt des postkommunistischen Betons, anlässlich des 20. Jahrestags der EU-Osterweiterung erneut auf derselben Brücke anwesend ist und die „Vorzüge“ der Europäischen Union preist, müssten bei vernunftgeleiteten Menschen sämtliche Kontrollleuchten im Tachometer blinken. Auch die in der Odermetropole anwesenden Diplomaten, die unlängst unter etwas anderen politischen Umständen die „Regulierungswut“ Brüssels anprangerten, logen nun das Blaue vom Himmel herunter, als wäre ihnen in den letzten zwei Jahrzehnten ausschließlich Gutes widerfahren und ihre Komfortzonen unangetastet geblieben. An der deutsch-polnischen Grenze sahen wir vor einigen Tagen sogenannte „Fachleute“ und „Fähnchen“, die sich je nach politischer Laune gar dem unangenehmsten Wind beugen.

Nein, es war nicht alles schlecht. Von der Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit hat die polnische Wirtschaft zweifellos profitiert. Zudem habe das Land in den letzten zwanzig Jahren bei Ausgaben von 86 Milliarden Euro insgesamt 261 Milliarden Euro an Transfers aus dem EU-Haushalt erhalten, so Polens Ministerin für Regionalentwicklung Katarzyna Pełczyńska-Nałęcz. Darunter seien 165 Milliarden Euro im Rahmen der Kohäsionspolitik, 11,4 Milliarden Euro aus der Aufbau- und Resilienzfazilität und 78 Milliarden Euro im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) geflossen.

Auch für Deutschland war der EU-Beitritt der Visegrád-Staaten kein unprofitables Geschäft. Deutsche Unternehmen verlagerten Teile ihrer Produktion nach Polen, Ungarn, Tschechien oder in die Slowakei und sorgten so für eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit dieser Firmen. Der von vielen befürchtete Zuzug von Arbeitsmigranten hielt sich damals in Grenzen. Wenn er überhaupt stattfand, dann trug er eher dazu bei, den deutschen Fachkräftemangel abzumildern. Häufig wird übersehen, dass dieser Arbeiterabgang ebenfalls ein hoher Preis war, den die neuen Mitgliedsländer für den langersehnten Beitritt zu entrichten hatten.

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Von diesen Vorteilen abgesehen hat sich die politische Lage in der EU jedoch dramatisch verschlechtert. Die vielschichtige Wirtschafts- und Finanzkrise der Europäischen Währungsunion vor fünfzehn Jahren dämpfte in Polen den Enthusiasmus über das gemeinsame Projekt und stoppte die dereinst ernst gemeinten Vorbereitungen zur Einführung des Euro. Die Verantwortlichen in Brüssel, Straßburg und Luxemburg legen zudem offenbar großen Wert darauf, nationale Handlungsspielräume der einzelnen EU-Mitgliedstaaten stufenweise und dauerhaft zu begrenzen. Die in den Jahren 2015 bis 2023 in Polen regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) war durchaus bereit, in Einzelheiten nachzugeben, sofern nicht deren tatsächliche Gestaltungsabsicht ausgehebelt wurde. Genau dies hat das Brüsseler Bürokratiemonster aber fortwährend getan.

Konkret geht es um die „Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit“, die seit Anfang 2021 in Kraft ist. Sie sollte dafür sorgen, dass Verstöße gegen „rechtsstaatliche“ Prinzipien wie die Gewaltenteilung nicht mehr ungestraft blieben. Die EU-Kommission hatte Warschau und Budapest gedroht, die Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt zu kürzen. Beide Regierungen klagten deshalb vor dem EuGH, verloren aber den Streit, weil die linke und intransparente Lobbykratie sich zu diesem Zeitpunkt schon längst aller EU-Institutionen bemächtigt hatte. Schon zuvor kam es zu einer nicht endenden Reihe von Konflikten zwischen der PiS und einigen von heimischen Zuträgern unterstützten rot-grünen EU-Parlamentariern, die einfach nicht mitansehen konnten, wie Kaczyńskis Partei die polnische Justiz vom postkommunistischen Ballast befreite.

Spätestens seit dem Zerwürfnis zwischen Polen und der Europäischen Union über eine sinnvolle Migrationspolitik beharrten die polnischen Konservativen regelmäßig darauf, sich nicht zu beugen, wenn wichtige eigene Interessen betroffen waren. Dies änderte sich am 13. Dezember 2023, als der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk im postkommunistischen Lager Verbündete fand und das Gefühl der Macht das Bewusstsein der Verantwortung für das Land verdrängte. Polens neuer Ministerpräsident wird jeder Überarbeitung der EU-Verträge zustimmen, auch wenn über künftige Krisen hinter seinem Rücken entschieden wird. Durch eine Reform der Abstimmungsverfahren im Rat, einschließlich der Einführung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit statt der Einstimmigkeit in den einschlägigen Bereichen, soll die Handlungsfähigkeit der EU „gestärkt“ werden. Es bedarf keiner herausragenden geistigen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass wir es hier mit dem Alptraum eines europäischen „Föderalstaates“ zu tun haben – ganz im Sinne des italienischen Kommunisten Altiero Spinelli.

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Von der Leyens polnische „Demokratiefeinde“
Um diese Revolution erfolgreich durchzuführen, muss jegliche nationale Souveränität der EU-Mitgliedstaaten von der Zentrale ausgesaugt werden. Es bedarf eines ideologischen Überbaus, der die nationalen Identitäten und Traditionen zugunsten einer homogenen „europäischen Gemeinschaft“ auflöst. Um ein „fortschrittlicher“ Europäer zu sein, müsste ich meiner kleinen erstaunten Tochter erklären, dass eine „dritte Option“ im deutschen Personenstandsregister oder etwa Islamisten-Demos und Träume vom Kalifat an der Spree „normal“ sind. Das möchte ich aber nicht. Es ist schockierend, dass eine linksextreme Bildungsministerin die wichtigsten Werke der polnischen Literatur aus dem Lehrplan streicht. Mir wird übel, wenn Polens neue Gesundheitsministerin per Verordnung ein Pharmaziegesetz durchbringt, das 15-jährigen Mädchen einen rezeptfreien Zugang zur „Pille danach“ erlaubt. Es beunruhigt mich, dass nun auch in meinem Land vermeintliche „Klimaaktivisten“ mit spektakulären Klebeaktionen die Autofahrer verunsichern.

Wenn die linksliberalen Kräfte und gleichgeschalteten Medien im Jahr 2024 immer noch euphorisch den EU-Beitritt besingen, dann missachten sie, dass der Green Deal ein schlechtes Geschäft für den Planeten ist. Die vermeintlichen Klimaschützer, die einen radikalen Umbau der Agrarwirtschaft herbeisehnen, gleichen einer fanatischen Sekte, die ihre Umweltprobleme einfach in andere Länder und Weltregionen auslagert. Sie erkennen nicht, dass ihr Konzept mit erheblichen Einkommensverlusten in der Landwirtschaft und steigenden Verbraucherpreisen verbunden ist, ignorieren beflissentlich wissenschaftliche Folgenabschätzungen.

Dieses „Null-Emissions-Europa“ hat nichts mit der EU zu tun, in die wir 2004 als entschlossene Verteidiger europäisch-christlicher Kultur große Hoffnungen setzten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich angesichts der beschriebenen Sachlage der Ton gegenüber der EU verschärft – und zwar bis hin zur Parallelisierung von Brüsseler Auflagen für Polen mit einstigen Anweisungen aus dem sowjetischen Moskau. Die gegenwärtige Europäische Union erinnert in der Tat eher an die UdSSR, vor der wir einfach nur flüchten wollten. Dürfen wir trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft blicken? In Zeiten von ausufernder Pauperisierung ist links-grüne „Schönwetter-Politik“ nicht mehr wahltauglich. Am 9. Juni ist Europawahl.

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