Noch nie in der vieltausendjährigen Geschichte des Weinbaus und der Weinbereitung wurde so viel so qualitätsvoller Wein produziert wie heute. Dies liegt zum Teil an veränderten klimatischen Bedingungen, die den Wärme liebenden Reben der Gattung Vitis vinifera zugutekommen, zum anderen an der immer größeren Sorgfalt, die Winzer ihren Weinstöcken und den Trauben angedeihen lassen und, vor allem, am Siegeszug moderner Kellereitechnik.
In vielen Kellereien sieht es heute aus wie in einem Chemielabor. Überall blitzen die Edelstahltanks, blinken die computerisieren Schalttafeln, verrichten ausgeklügelte Apparaturen ihren Dienst. So gelingt es etwa mit Hilfe optischer Sortiermaschinen, buchstäblich jede einzelne unreife oder faulige Beere per elegantem Druckluftstoß aus dem Lesegut zu entfernen.
Trotzdem versuchen gerade meist jüngere Winzer, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie versuchen, so weit wie irgend möglich, auf Technik in Weinberg und Keller zu verzichten und meinen wieder einmal, das Ei des Columbus gefunden zu haben. Im Weinberg bedeutet das Primat der „Natürlichkeit“ die Umstellung auf biologische oder sogar biodynamische Wirtschaftsweise unter größtmöglichem Verzicht auf synthetischen Dünger und Pflanzenschutzmittel. Die „minimalinvasive“ Arbeitsweise setzt sich im Keller fort: kein Einsatz von Zuchthefen, sondern Spontanvergärung, keine Temperatursteuerung während der Gärung, kein Pumpen, sondern Nutzung der Schwerkraft, keine „künstliche“ Schönung oder Filtrierung, wenig oder gar kein Schwefel zur Haltbarmachung.
Für diese Art der Weinbereitung hat sich ein Begriff eingebürgert, der schon einmal in einem anderen Zusammenhang verwendet wurde, aber in Vergessenheit geriet: Naturwein. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es üblich war, die oft säuerlichen deutschen Tropfen mittels großzügiger Zuckerbeigabe (Chaptalisation) gefälliger und marktgängiger zu machen, versuchten sich einige Weingüter, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung, von dieser Praxis kellereitechnischer Eingriffe abzugrenzen.
1910 wurde der Verband deutscher Naturweinversteigerer gegründet, Vorläufer des heutigen Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter. Mit der Novellierung des deutschen Weingesetzes Ende der sechziger Jahre wurde der Begriff Naturwein durch Prädikatswein ersetzt. Heute feiert die Bezeichnung im Gewande ökologischer Weltanschauungen ihre Wiederauferstehung.
Das Ergebnis sind oft stark oxidativ, zuweilen etwas bitter schmeckende Weine ohne Finesse mit einem intensiven orangenen Farbton, weswegen man sie auch als Orange Wines bezeichnet. Zuweilen sind sie leicht trüb, was in diesem Fall nicht als Fehler, sondern gewünschte Eigenschaft im Sinne minimalistischer Weinbereitung gilt. Sie erinnern oft mehr an einen überständigen Fruchtwein, wenn auch mit deutlich höherer Alkoholgradation, und sind zumindest als Essensbegleiter deplatziert.
Als Pionier der Amphorenweine oder ähnlicher Arten der Weinbereitung und „Ikone“ der Naturweinbewegung gilt der friulanische Winzer Joško Gravner, dessen sündteure Bouteillen seit den ersten Tagen der von ihm angestoßenen Weinrevolution die Gemüter scheiden. Das angrenzende Slowenien ist mittlerweile eine Hochburg der Naturweinproduzenten, doch auch in Südfrankreich sind die orangefarbenen Tropfen im Kommen. Und natürlich in Georgien, dessen Weinszene gerade kräftig gehypt wird. Ob sich diese Weine jemals auf breiter Front durchsetzen, bleibt abzuwarten. Doch gegen Rückschritt im Gewande des Fortschritts ist auch die Weinszene nicht gefeit.
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