Jede Verfassung hat einen bestimmten Geist, der ihr innewohnt. Eine innere Logik, die sich in den einzelnen Absätzen jeweils widerspiegelt und das Selbstverständnis der Republik ausdrücken soll. Im Grundgesetz nennt sich dieser Geist „die Würde des Menschen“. Diese ist nicht nur unantastbar, sondern auch universal und unveräußerlich. Diese wissentlich zu verletzen, heißt, den Staat an sich in Frage zu stellen.
In den USA heißt dieser Geist „Free Speech“, also freie Rede. Im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten heißt es hierzu: „Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt, oder eines, das Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und an die Regierung eine Petition zur Abstellung von Missständen zu richten, einschränkt.“
Was eindeutig klingt, ist in diesen Tagen „in the Land of the Free“ Gegenstand hitziger Debatten. Denn ein US-Gesetz, das einen Eigentümerwechsel beim chinesischen Unternehmen TikTok erzwingen soll, könnte bereits bald in Kraft treten. Die Kurzvideo-App würde dann aus den amerikanischen App-Stores verbannt werden, wenn die Anwendung nach einem Jahr noch dem aktuellen Besitzer ByteDance gehören sollte.
Die Demokraten sind bereit, „den nächsten Schritt zu gehen“
Doch nicht nur das: Das geplante Gesetz würde US-Präsident Joe Biden die Vollmacht verleihen, auch andere Apps als Bedrohung für die nationale Sicherheit einzustufen, wenn diese von einem Land kontrolliert werden, das als feindlich betrachtet würde. Diese Machtfülle bezogen auf Nutzer von Smartphones ist für die USA in dieser Form beispiellos.
Der US-Präsident dürfte also unter Umständen alleine und ohne Anhörung des Senats missliebige Apps für seine Bürger verbieten. Dies ist damit ein Angriff auf das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, wo eben nicht eine Obrigkeit entscheidet, wie sich die Menschen informieren, sondern umgekehrt. Der US-Amerikaner hat selbst zu entscheiden, wie er sich informiert und ob er sich überhaupt informiert.
Das US-Repräsentantenhaus stimmte am vergangenen Samstag für das Gesetzesvorhaben, das in ähnlicher Form bereits im März diskutiert wurde. Neu ist: Dieses Mal ist das Vorhaben jedoch mit anderen Maßnahmen gebündelt, wie Milliardenhilfen für die Ukraine, Israel und Taiwan. Dies dürfte sehr wahrscheinlich dafür sorgen, dass das gesamte Gesetzespaket durch den Senat als zweite Kongresskammer kommt und Biden es danach unterzeichnet. Der demokratische Mehrheitsführer Chuck Schumer sagte der Washington Post, man sei nun „bereit, den nächsten Schritt zu gehen“.
Trump und Musk sind gegen das Verbot
Den nächsten Schritt in Richtung Einschränkung der freien Rede? Noch ist unklar, inwieweit das Gesetz überhaupt vor US-Gerichten Bestand haben wird. Wenig überraschend ist jedoch, was TikTok selbst von dem Vorhaben hält. „Es ist bedauerlich, dass das US-Repräsentantenhaus den Deckmantel wichtiger ausländischer und humanitärer Hilfe nutzt, um wieder einmal ein Verbotsgesetz durchzudrücken, das die Rechte auf freie Meinungsäußerung von 170 Millionen Amerikanern mit Füßen tritt, sieben Millionen Unternehmen ruiniert und eine Plattform stilllegen würde, die jährlich 24 Milliarden Dollar zur US-Wirtschaft beiträgt“, sagte laut Spiegel eine Sprecherin des chinesischen Unternehmens.
Der ehemalige und möglicherweise auch künftige US-Präsident Trump hat seine Meinung diesbezüglich geändert. Inzwischen ist er gegen ein Verbot. So sei TikTok ein wichtiges Gegengewicht zu Facebook, das er als einen „Feind des Volkes“ betrachtet. In die gleiche Kerbe schlägt der Eigentümer von X, früher Twitter: „TikTok sollte in den USA nicht verboten werden, auch wenn ein solches Verbot der Plattform X zugutekommen könnte“, erklärte Elon Musk. Auch er ist der Meinung, dass ein solches Verbot gegen den Geist der Verfassung, gegen die freie Rede, verstoßen würde.
Republikanische Werte sind in Gefahr
Auch in Deutschland erfreut sich TikTok großer Beliebtheit. So kann man bei diesem Medium auch live übertragen und mit anderen Nutzern diskutieren. Der Islamkritiker Kian Kermanshahi sendet regelmäßig von der Plattform aus und erreicht damit Tausende von Menschen. Bei anderen Plattformen wie Facebook oder Youtube könnte er so frei nicht sprechen und wäre, was auch passiert ist, vom permanenten Bann bedroht.
Doch auch die EU will hart gegen das chinesische Unternehmen vorgehen. Der Vorwurf: TikTok geht nur unzureichend mit geschützten Daten um. Auch Verstöße gegen den Jugendschutz werden zu selten geahndet. Die EU-Kommission sieht TikTok als „Gefahr für die psychische Gesundheit der Nutzenden“. Nun soll geprüft werden, ob eine in der neuen App TikTok lite enthaltene Belohnungsfunktion gegen EU-Recht verstößt.
Richtig ist, dass TikTok wie jedes soziale Medium von den Daten ihrer Nutzer lebt. Man bezahlt zwar kein Geld, dafür geht man das Geschäft mit seinen eigenen Nutzerinformationen ein. Die Leute, die Twitter, Telegram oder TikTok nutzen, wissen das.
Dass im Falle des Unternehmens erschwerend hinzukommt, dass es ein chinesischer Konzern ist und die USA, aber auch die EU im Handelskrieg mit dem Land der Mitte stehen, ist das eine. Dennoch muss man sich die Frage stellen, ob es wert ist, auf Kosten einer wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung geopolitischer Art die Grundlage republikanischen Zusammenlebens, die freie Rede einzuschränken.