In meinem Beitrag Der Grünen demoskopischer Aufstieg und Fall zeige ich, wie eine einzige Frage mehr als bei den üblichen Umfragen die aufschlussreiche Erkenntnis brachte, 16,2 Prozent wollen in Sachsen eine andere Partei, als sie wählen können. Ähnliches käme garantiert in anderen Bundes-, Landes- und EU-Umfragen raus.
Journalisten, Wahlforscher und Politiker selbst können keine Erkenntnisse über die Motive von Bürgern finden, weil sie sich nur innerhalb des selbstbeschränkten Erklärungsrahmens bewegen, der sowohl die Nichtwähler ignoriert wie die Motive der Wahlberechtigten für ihre Entscheidungen.
Die Ignoranz des Parteienstaats drückt sich sachlich und semantisch im folgenden Text der Bundeswahlleiterin aus.
In Österreich kommen die oben Genannten auf keinen grünen Zweig bei der Frage, warum die KPÖ zuerst in der steirischen Landeshauptstadt Graz, dann in Salzburg und nun in Innsbruck zurück auf der politischen Bühne ist, von der die Kommunisten schnell nach dem Abzug der Roten Armee 1955 verschwunden waren.
Nein, um eine Wiederbelebung des Kommunismus handelt es sich schon deshalb nicht, weil die von der Grazer KPÖ-Bürgermeisterin Elke Kahr (28,9 Prozent), dem Salzburger KPÖ-Vormann Kay-Michael Dankl (23,1 Prozent) und die neu in den Innsbrucker Stadtrat eingezogene KPÖ (6,72 Prozent) keine grundsätzlich andere Politik verfolgen als die SPÖ und in sozialpolitischen Frage auch FPÖ und ÖVP. Dass die KPÖ vorher nicht da war und ihre Spitzenleute in Graz und Salzburg (Innsbruck ist ein Kollateralgewinn, kein Personenerfolg) ganz anders auftreten als die gewohnten anderen Immerwiederselben, machte ihren Erfolg. Nur wenn die KPÖ bei den kommenden Wahlen Personen wie in Salzburg findet, kann sie ihren Erfolg fortsetzen. Bis, ja bis sie absehbar so aussehen wird wie die anderen schon lang.
Viele haben es schon vergessen: Auch Sebastian Kurz gründete seinen Erfolg für die abgewirtschaftete ÖVP auf nichts anderes als seine Andersartigkeit. Dass die ÖVP bei der nächsten Nationalratswahl im Herbst dieses Jahres wieder dort landen wird, wo sie vor Kurz war, halte ich für mehr als wahrscheinlich. Und bitte folgen Sie mir noch ein Stück zurück: Jörg Haider war ein früher Sebastian Kurz der FPÖ. Und auch Jürgen Möllemann mit fast 10 Prozent in Nordrhein-Westfalen 2000 bei einem Einstimmen-Wahlrecht (!) gründete auf dem Anders. Willy Brandt übrigens auch. Und Gerd Schröder.
In Deutschland ruhen alle Erfolgsaussichten des BSW auf dem W. Ohne Sahra Wagenknecht wären auch ihre alten und neuen Genossen mit der SED-PDS-Die-Linke im Orkus der Berliner Republik versunken. Ansonsten ist derzeit niemand in Sicht, der genügend anders wäre oder auch nur anders daherkäme in der deutschen Politikarena. Die AfD hatte schon in der längst vergangenen Gründungsform der Professoren-Partei gegen den Euro keine Person, die sie anders aussehen ließ. Für die folgenden Vorleute gilt das bis heute.
Roland Tichy schrieb im Aufgreifen einer Beobachtung von Gerd Held: Nein, es wird keine Revolution der Tätigen gegen die Regierung geben, die sie zunehmend entmündigt. Wer arbeitet, hat keine Zeit für Demonstrationen.
Wer arbeitet, hatte nicht nur schon immer keine Zeit für Demonstrationen, sondern auch keine Aufmerksamkeitsreserven für das Studium von Parteiprogrammen, den Besuch von Parteiveranstaltungen, die Lektüre von Politikartikeln, das Anhören von Politikeransprachen und so weiter. Man wählte, weil man das tut, man wählte, was die Peer Leader wählten, die Multiplikatoren im sozialen Umfeld. Jene, die irgendwann das Gefühl überwältigte, wozu wählen, es bessert sich doch nichts, bilden den Kern der gestiegenen Zahl der Nichtwähler. Strukturell hat sich nichts geändert – nur die Peer Leader sind jetzt anders, aber nicht auf ansprechend sympathische Weise, sondern mit abstoßenden Ansichten und Sitten.
Werte Leser, ich weiß, was Sie schreiben werden, warum das mit der AfD nicht stimmt, die Gegenargumente einzelner unter Ihnen könnte ich hier gleich mit dazu setzen. Aber meine Beobachtungen, die mich zu diesem Befund bringen, betreibe ich seit bald sechzig Jahren ununterbrochen – von drinnen in der FDP bis draußen im riskanten Leben des Freiberuflers seit Mitte der 1990er. Zeitgenossen, die sich informieren, ihre Meinung bilden und dann entscheiden, ob und was sie wählen, gibt es wenige. Die meisten folgen ihrem Umfeld oder ziehen sich in die Gartenlaube zurück wie im Biedermeier des Vormärz.
In meinem eingangs erwähnten Beitrag Der Grünen demoskopischer Aufstieg und Fall steht: Medienmehrheit statt Wählermehrheit ist die Machtbasis der Grünen.
Die Medienmehrheit ist der archimedische Punkt. Wahlen können es beim deutschen Wahlrecht nicht sein, weil das Wahlrecht des Grundgesetzes aus lauter Angst vor Weimarer Verhältnissen die Bürger so gründlich von der Ausübung demokratischer Rechte ausgeschlossen hat, dass die real existierende Berliner Republik geradezu in Weimarer Verhältnisse getrieben wurde.