Der Report hat in der britischen Öffentlichkeit eingeschlagen wie eine Bombe. „Großbritannien sieht der wackeligen Evidenz für Jugend-Gendermedizin ins Auge“, titelte das US-Magazin The Atlantic. Selbst die BBC kann nicht anders, als von einem „landmark review“, einer wegweisenden Überprüfung bisheriger Vorstellungen, zu sprechen. Beauftragt worden war der Bericht 2020, nachdem Whistleblower-Berichte nahelegten, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging an der Gender-Abteilung (GIDS) der Londoner Tavistock-Klinik. 2022 kam ein Zwischenbericht heraus, der letztlich zur Schließung der Gender-Klinik führte. Ihre endgültige Schließung kam vor gut zwei Wochen.
Laut Cass beklagten sich klinisch arbeitende Ärzte über einen absoluten Mangel an Leitlinien, Evidenz oder einer spezifischen Ausbildung, die sie zur Behandlung genderdysphorischer Kinder befähigt hätte. Im Fazit ihres Berichts schreibt Cass: „In Wirklichkeit haben wir keine gute Evidenz zu den langfristigen Ergebnissen von Eingriffen zur Bewältigung von gender-bezogenen Problemen.“ Es gab also keine Evidenz für die Behandlung von Kindern mit vermeintlicher Genderdysphorie, die mutmaßlich „trans“ waren. Stattdessen waren – wie inzwischen sattsam bekannt – NGOs mit Transitions-Agenda in der Tavistock-Klinik tätig und drängten Ärzte und Familien zu den Behandlungen.
Keine Beweise für positiven Effekt von Pubertätsblockern
Durch den Mangel an Evidenz wurden aber letztlich vor allem die Kinder und Jugendlichen „im Stich gelassen“, wie Cass hervorhebt. Konkret empfiehlt der Bericht, dass minderjährigen Patienten keine Pubertätsblocker mehr verschrieben werden. Dieser großangelegte „Versuch“ müsse enden. Es gebe keine guten Belege dafür, dass sie „Zeit zum Nachdenken verschaffen, und es gibt Bedenken, dass sie die Entwicklung der psychosexuellen und geschlechtlichen Identität verändern könnten“, so der Report. Es sei „nicht üblich, Patienten eine möglicherweise lebensverändernde Behandlung zukommen zu lassen, ohne zu wissen, was mit ihnen im Erwachsenenalter geschieht“. Auch für einen positiven Effekt auf das Körperbild der Jugendlichen gibt es offenbar keine Beweise.
Daneben kritisiert Cass aber auch die langen Wartelisten des NHS, die Kinder und Jugendliche in die Arme von privaten Kliniken getrieben hätten, manchmal sogar ins Ausland. Hausärzte seien unter Druck gesetzt worden, Kinder in die Kliniken einzuweisen. Nun fordert Cass auch Angebote für sogenannte „Detransitioner“, die eine Behandlung rückgängig machen und wieder in ihr biologisches Geschlecht „zurückkehren“ wollen.
Außerordentlich toxische Debatte mit „sehr aggressiven Personen“
Cass kritisiert daneben das öffentliche Meinungsklima rund um die Transgender-Politik: „Es gibt nur wenige andere Bereiche des Gesundheitswesens, in denen Fachleute so viel Angst haben, ihre Ansichten offen zu äußern.“ Menschen würden in den sozialen Medien beschimpft, verunglimpft und in schlimmster Weise gemobbt. Auch sie selbst sei davon betroffen gewesen, habe mit einigen „sehr aggressiven Personen“ zu tun gehabt. „Das muss aufhören.“ Die „außerordentliche Toxizität“ (also Giftigkeit) der Debatte habe Fachleute daran gehindert, ihre Ansichten offen zu äußern. Eltern sahen sich gezwungen, einem „Geschlechtswechsel“ zuzustimmen, um nicht als „transphob“ zu gelten.
Diese Toxizität zeigt sich auch noch an den öffentlichen Reaktionen auf den Report – als Erinnerung der einst an den Rand gedrängten Kritiker. So ist von der Schriftstellerin J.K. Rowling vorerst keine Vergebung für Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe und Emma Watson zu erwarten. Beide Schauspieler waren zuvor für den möglichen „Geschlechtswechsel“ von Minderjährigen eingetreten und hatten sich von der Trans-Kritikerin Rowling öffentlich distanziert. Nach Rowling haben die beiden Darsteller ihre Reichweiten dazu benutzt, „dem Geschlechtswechsel Minderjähriger Beifall zu klatschen und die hart erkämpften Rechte von Frauen auszuhöhlen“. Rowling sieht keinen Anlass, sich hier versöhnlich zu geben, wo die Unterschiede und Kontraste ohne Zweifel fortbestehen werden.
Im konservativen Wochenmagazin Spectator warnt Patrick O’Flynn davor zu vergessen, welche Politiker sich bei der Trans-Ideologie angebiedert haben. O’Flynn ruft bereits das Ende des gesamten „Trans-Schwindels“ aus. Und wieder ist es die Evidenz, die die Hauptrolle spielt. Denn eigentlich hätten die Fakten immer klar darauf hingewiesen, dass die „Ideologie der Genderfluidität ein Haufen Müll“ sei. Doch nun sei klar: „Die Vorstellung, dass Tausende von Menschen im falschen Körper ‚gefangen‘ sind, ist eine Interpretation von Geschlechtsdysphorie, die zunehmend als schädlicher Unsinn angesehen wird.“ In Deutschland wird diese Vorstellung allerdings noch von Nachrichtensprechern reproduziert und vervielfältigt.
Erst jetzt wenden in Großbritannien einige ihre Hälse. Dazu gehört neben Showstars auch der ehemalige Premierminister Boris Johnson, der in seiner Amtszeit nicht durch Äußerungen zum Thema aufgefallen war, eher hatte er sich bewusst mittig bis links in seiner Partei positioniert, um seine Machtbasis breit zu halten. Äußerlich wurden ja gerade diese woken Tendenzen Johnsons immer dem Einfluss seiner Ehefrau Carrie zugeschrieben. Nun rühmt auch Johnson – immer für eine geschliffene Formulierung gut – J. K. Rowling als eine „moderne Heilige“, die sage, was 95 Prozent der Bürger denken. Er hat das, wie gesagt, spät bemerkt.
Kathleen Stock: Eine Diskussion wie mit Zeitreisenden
Die Trans-Kritikerin und Philosophin Kathleen Stock sieht den Cass-Report als Türoffner zu einer wirklich offenen Diskussion des Themenfelds. Der Bericht gibt ihr „das Gefühl, dass man sich vorsichtig an eine Gruppe emotional labiler Menschen wendet, die noch nicht ganz bereit sind, der ganzen Wahrheit ins Auge zu sehen“. Auch über die wiederholte Verwendung des Begriffs „bei der Geburt als weiblich registriert“ wundert sich Stock gehörig, ebenso über einen ganzen Abschnitt, in dem Cass die „Elemente der evidenzbasierten Medizin“ erklärt, als rede sie zu einem vormodernen Publikum, das gerade einer Zeitkapsel entstiegen ist.
Cass selbst tritt für eine „holistische Betrachtung“ ein, also die Betrachtung des gesamten Menschen samt seiner Psychologie, etwa auch der Frage, ob Autismus, Depression oder andere Beeinträchtigungen vorliegen könnten. Die „diagnostische Überschattung“ anderer Krankheitsbilder unter dem Label der Genderdysphorie müsse vermieden werden.
Der Cass-Report rät außerdem auch dazu, dass man sehr vorsichtig damit sein solle, jüngeren Kindern andere Namen, Pronomen oder Kleidungsstücke zu erlauben. Diese Praktiken gehören oft zur sogenannten „sozialen Transition“, für deren Nutzen es ebenfalls „keine eindeutigen Beweise“ gibt. Die soziale Transition ebne normalerweise den Weg zu medizinischen Maßnahmen. Auch die Schulen müssten ihren Teil zur Debatte beitragen, ohne die Eltern auszuschließen.
Sunak sieht Gefahren in sozialer Transition
Der NHS England will nun alle Transgender-Behandlungen einer Prüfung unterziehen, auch die Behandlungen, die für Erwachsene angeboten werden. Die Behandlung von 16- und 17-Jährigen an staatlichen Kliniken soll ausgesetzt werden. Auch Rishi Sunak hat die Empfehlungen des Berichts begrüßt: „Wir wissen einfach nicht, welche langfristigen Auswirkungen eine medizinische Behandlung oder auch eine soziale Transition hat. Wir sollten daher äußerst vorsichtig sein.“
Der zuständige Labour-Schattenminister für Gesundheit Wes Streeting nannte den Bericht ebenfalls einen Wendepunkt für die Gender-Kliniken des NHS. Auch eine Labour-Regierung wird den Cass-Report wohl als Grundlage akzeptieren, aber ob sie ihm zur Gänze folgt, ist offen. Nach dem zu erwartenden großen Labour-Wahlsieg Ende des Jahres würde die Parteilinke zur eigentlichen Opposition im Parlament aufsteigen. Und die ist voller Ideologen in dieser Frage.
Die Liberaldemokraten haben sich in einer inzwischen wieder gelöschten Pressemitteilung äußerst kritisch gegenüber dem Bericht geäußert. In durchaus wirrer Weise beklagen die Lib Dems, dass „autistische Menschen bevormundet“ würden und der Cass-Report daneben „eine unbestreitbare Transphobie gegenüber jungen Erwachsenen und Menschen“ enthalte. Dass das Statement gelöscht wurde, zeigt, wie problematisch diese Auffassung im britischen Meinungsstreit geworden ist.
Erwachsenen-Kliniken gaben keine Daten heraus
In Schottland ignoriert First Minister Humza Yousaf (SNP) die Forderungen nach einer Schließung auch der schottischen Genderklinik Sandyford in Glasgow. Als Reaktion auf den Bericht setzte man dort lediglich die Verschreibung von Pubertätsblockern an neue Patienten aus. Als nächstes Gesetzesprojekt hat Humza Yousaf ein Gesetz gegen Misogynie vorgeschlagen, unter dem er auch „Transfrauen“ Schutz angedeihen lassen will. Die toxische Debatte auf den Inseln dürfte also noch etwas anhalten.
Auch die Times sieht stürmische Zeiten auf den NHS und die breitere Öffentlichkeit zukommen: Der Cass-Report sei nur ein Scharmützel gewesen, der eigentliche Krieg folge nun noch. Zu tief verwurzelt sei die Gender-Ideologie im System. So haben sechs von sieben britischen Transgender-Kliniken für Erwachsene die Herausgabe von Daten an Hilary Cass verweigert. Viele von ihnen werben für sich, dass sie von „trans“ oder nicht-binärem Personal geleitet werden. Hier gibt es noch viel Arbeit, denn für die Evaluation der Transgender-Medizin wäre das Ergebnis – der körperlich-seelische Gesundheitsstand bei erwachsenen Transgender-Patienten – von entscheidender Bedeutung.