Es gibt Momente in der Politik, in denen fast jedem klar wird, dass eine Regierung eigentlich am Ende ist und nur noch mit letzter Kraft versucht, sich bis zu den nächsten Wahlen durchzuschleppen. Das gilt etwa für die gegenwärtige konservative Regierung in Großbritannien, aber es gilt eben auch für die Bundesregierung. Gab es jemals für die drei heterogenen Parteien der Ampel ein gemeinsames Projekt, so ist dies heute nicht einmal mehr ansatzweise sichtbar.
Für die FDP ist die Teilnahme an der Regierung nichts anderes als ein Selbstmord auf Raten. Grüne und SPD mögen mehr gemein haben, aber während den Grünen der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands und die vielen ungelösten Probleme unseres Landes nur relativ wenig in den Umfragen schaden, auch wenn sie weit von früheren Zustimmungswerten aus der Zeit vor dem Herbst 2021 entfernt sind, dümpelt die SPD bei 15 bis 16 Prozent, maximal 17 Prozent vor sich hin – für eine Kanzlerpartei ein nie dagewesener Tiefpunkt. Auch wenn der Kanzler immer noch irgendwie davon überzeugt zu sein scheint, dass er sich 2025 im Amt halten kann und auf das Mirakel des Hauses Scholz wartet, ist das wohl eher ein Zeichen für einen ausgeprägten Realitätsverlust, während sein Vizekanzler immerhin gemerkt hat, dass man nun von Realität „umzingelt“ ist.
In der Tat scheint sich unter der Mehrheit der Minister mittlerweile eine Art Bunkermentalität auszubreiten. Man weiß, dass die Parole jetzt heißen muss: „Auf zum letzten Gefecht!“ Jedenfalls wird die Regierung in den rund 10 bis 12 Monaten, die jetzt noch vergehen werden, bevor faktisch der Wahlkampf für die nächste Bundestagswahl alles überschattet, keinen Kurswechsel mehr vornehmen. Die falsch angelegte und zu kostspielige Energiewende wird man weiter gnadenlos durchziehen, und das Problem mangelnden Wohnungsraums für die Masse der Bevölkerung wird man komplett ignorieren, so wie bisher.
Es geht noch weiter. Man hat den Eindruck, dass Grüne und SPD sich darauf verständigt haben, bewusst eine Strategie der verbrannten Erde zu verfolgen. Wenn man sich schon selbst nicht im Besitz der Macht behaupten kann, will man doch einer möglichen neuen Regierung, die dann wohl doch von der CDU geführt würde, so viele Probleme hinterlassen, dass diese eigentlich nur scheitern kann. So wie der Kommandeur einer besiegten Kriegsflotte lieber die eigenen Schiffe versenkt, als sie in die Hand der Feinde fallen zu lassen, so öffnet man jetzt gewissermaßen in Berlin die politischen Bordventile, um alles noch kurz vor dem Ende zu fluten. In dieser Hinsicht gleicht die Regierung schon fast dem Kommandanten der Admiral Graf Spee, eines deutschen Panzerkreuzers, den sein Kapitän in aussichtsloser Lage 1939 vor Montevideo selbst versenkte. In diesem Licht betrachtet nimmt die Figur des Kanzlers fast heroische Züge an.
Man betreibt eine Politik der verbrannten Erde
Anders jedenfalls kann man sich vieles, was die Regierung jetzt noch auf den Weg bringt, kaum erklären. Abgesehen davon, dass man durch die eine oder andere Maßnahme die eigene Kernwählerschaft noch einmal für das letzte Gefecht zu mobilisieren versucht, so dass man dann wenigstens mit wehenden Fahnen wacker für „das Gute“ kämpfend untergeht. Typisch ist hier das Gleichstellungsgesetz für Transsexuelle, eine Maßnahme, die die Gesellschaft tief spalten und zahlreiche Konflikte im Alltag auslösen wird. Völlig ignoriert wird auch der enorme Schaden, den vermutlich zahlreiche Kinder und Jugendliche durch Übertherapien, die noch dazu oft auf falschen Diagnosen beruhen, erleiden werden, so wie das in Großbritannien in den letzten gut 15 Jahren unter der Federführung der Londoner Tavistock-Klinik der Fall war, wie der Cass-Report gezeigt hat.
Ähnlich sieht es bei der Immigrationspolitik aus, bei der die Regierung trotz einer etwas modifizierten Rhetorik jeden echten Kurswechsel eisenhart ablehnt. Sicher, juristisch und praktisch wäre ein solcher Kurswechsel auch nicht einfach umzusetzen, auch dank der extrem liberalen und interventionistischen Rechtsprechung Karlsruhes und der europäischen Gerichte in der Vergangenheit, aber die Lage wird jedenfalls nicht dadurch besser, dass man alle Probleme ignoriert und weiter auf open borders und Turbo-Einbürgerungen zum Nulltarif setzt.
Aber vermutlich geht es der Regierung ja auch darum, die Gesellschaft in der kurzen noch verbliebenen Zeit so radikal zu verändern, dass es für eine eher bürgerliche Regierung einfach unmöglich sein wird, dieses Land noch zu regieren, es sei denn, sie würde am Tag nach der Regierungsübernahme sofort alle eher konservativen oder wirtschaftsliberalen Prinzipien in den Papierkorb werfen. Das wäre die Linie, die Angela Merkel während ihrer Regierungszeit verfolgt hat und an die Ministerpräsidenten Günther in Kiel oder Wüst in Düsseldorf sicher gern anknüpfen würden.
Zur Politik der verbrannten Erde, die die Ampel jetzt in ihrer Endphase verfolgt, gehört auch die Geschichtspolitik, wenn man auf das Konzept, das Claudia Roth für eine neue Erinnerungskultur vorgelegt hat, blickt. Spezifisch nationale Geschichte – zu der eben auch die der Vertriebenen gehört – wird in der Tendenz demontiert zugunsten einer eher globalen, multikulturellen Erinnerungskultur. Dass dabei auch die Erinnerung an den Holocaust relativiert wird, stößt verständlicherweise auch in linken Kreisen auf Kritik, aber man kann eben keine kollektive Verantwortung für eine düstere Vergangenheit verlangen, wenn es gar kein nationales Wir mehr gibt, dem diese Vergangenheit zugerechnet werden kann, und die Auflösung dieses Wir gehört sicherlich zu den zentralen Zielen der Grünen, aber auch großer Teile der SPD.
Zu dem Erbe, das diese Regierung ihren Nachfolgern hinterlassen wird, gehört aber auch ein Konzept der gelenkten, tendenziell illiberalen Demokratie, das sich im zunehmenden Interventionismus des Verfassungsschutzes und in dessen Kampf gegen vermeintliche „Delegitimierungen“ des Staates (womit oft nicht mehr gemeint ist als eine polemische Kritik an der Politik der Regierung) ebenso manifestiert wie in der großzügigen Unterstützung regierungsnaher NGOs und rot-grüner Vereine im Rahmen der sogenannten Demokratieförderung.
Allerdings setzt die Regierung Scholz – unter der bemerkenswerten Beteiligung der früher einmal liberalen FDP – hier nur den Kurs der späten Regierung Merkel fort. Es war noch unter Merkel, dass der Bundestag den Tatbestand der „verhetzenden Beleidigung“ (§ 192a) ins Strafgesetzbuch einführte. Seitdem sind potentiell alle despektierlich erscheinenden Bemerkungen über Menschen, die ethnischen, sexuellen oder religiösen Minderheiten angehören, unter Strafe gestellt, wenn man in ihnen irgendwie aus subjektiver Perspektive eine Beleidigung sehen kann. Das gilt nach Einschätzung mancher Juristen – viel an einschlägiger Rechtsprechung gibt es ja noch nicht – selbst dann, wenn die Äußerungen ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit erfolgen, sondern zum Beispiel in einer geschlossenen Chat-Gruppe oder in einer Email an einen Bekannten, die dieser dann weitergibt. Damit ist der Tatbestand der Volksverhetzung, den die Gerichte bis dahin recht eng ausgelegt hatten, massiv ausgeweitet worden.
Gar so weit ist man von Regelungen wie dem berüchtigten neuen schottischen Hate-Speech-Law, das sofort zu einer ungeheuren Welle von Anzeigen geführt hat – die von der Polizei natürlich nur sehr selektiv bearbeitet werden – jetzt nicht mehr entfernt, auch wenn das vielen Menschen bei uns noch gar nicht bewusst geworden ist. Generell muss man sagen, dass die Meinungsfreiheit bei uns mittlerweile ernsthaft bedroht ist, wozu auch die auf Länderebene eingerichteten Meldestellen – die offenbar geschaffen wurden, um eine Kultur der Denunziation und ein Klima der Unsicherheit und Selbstzensur bei kritischen Themen zu fördern – ihren Beitrag leisten.
Die Ampel hat Deutschland nachhaltig verändert – ein Zurück zum Ausgangspunkt wird es nicht mehr geben
Sollte es Merz wirklich schaffen, nach der nächsten Bundestagswahl Kanzler zu werden, wird ein entscheidender Lackmus-Test für seinen Willen zu einem Neuanfang auch der Umgang mit dem Thema Meinungsfreiheit sein. Wird etwa ein zukünftiger Unions-Innenminister den umstrittenen Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz Haldenwang, der freilich selbst CDU-Mitglied ist, im Amt belassen oder nicht? Optimistisch kann man da freilich nicht sein, denn die Fundamente für die jetzige Politik wurden ja, wie bereits betont, unter Merkel gelegt.
Und Ähnliches gilt im Grunde für viele andere Politikbereiche auch, angefangen bei der falsch konzipierten Energiepolitik, über die Politik der offenen Grenzen bis hin zur bewussten und immer weiter gehenden Schuldenvergemeinschaftung in der Eurozone respektive der Finanzierung von EU-Ausgaben zugunsten der Defizitländer durch gigantische EU-Schulden, deren Zinslast dann überproportional von Deutschland zu tragen ist. Und das ist der Grund, warum die Regierung Scholz, so schlecht es um sie demoskopisch auch stehen mag, am Ende vielleicht doch ein Erfolgsprojekt – allerdings ganz eigener Art – sein wird.
Es wird ihr gelingen, dieses Land tiefgreifend und für immer zu transformieren, so tiefgreifend, dass eine Umkehr und damit auch eine Rückkehr zu einer pragmatischen Politik, die sich auch an nationalen Interessen – wie immer man sie im Einzelnen definieren mag – orientiert, gar nicht mehr möglich ist. Aber wenn Scholz und Habeck hier erfolgreich sind, dann verdanken sie das eben auch jener Person, die viele Wähler vielleicht schon fast vergessen haben – und das zu Unrecht: Angela Merkel, der es in der Tat gelungen ist, das Land auf einen Niedergangspfad zu führen, der sich im besten Sinne des Wortes als nachhaltig erweisen wird.
Allerdings, auch das muss man sagen, Merkel bemühte sich immer noch den Schein zu wahren. Die Fassade eines wohlhabenden, halbwegs stabilen Landes sollte aufrechterhalten werden, und das gelang auch fast bis zum Ende. Solche Hemmungen haben Scholz und Habeck und ihre Minister nicht, hier manifestiert sich ungehemmt die Lust am tugendhaften CO2-freien Untergang, wie wir das so seit Gründung der Bundesrepublik noch nicht erlebt haben. Von daher zeigt die jetzige Regierung wirklich einen heroischen Mut mit allen bisherigen politischen Traditionen zu brechen, nur dass dieser radikale Neuanfang zugleich ein Ende ist.