„Warum eigentlich sollte man ein System ändern, von dem man doch genau weiß, dass es nicht funktioniert?“ Nur noch Spott und Galgenhumor hat die französische Tageszeitung „Le Figaro“ für die Regierungsarbeit von Präsident Francois Hollande übrig. Das war vor zwei Wochen.
Mittlerweile tagten Präsident Hollande und sein Regierungschef Manuel Valls in einer Klausurtagung im Urlaubsort Fort de Brégancon und flugs: trat die Regierung zurück und soll heute, Dienstag neu gebildet werden. Das klingt nach Aktion. Aber wer Frankreich kennt, weiß, dass es nach einem Muster regiert wird, das eigentlich aus Wien bekannt ist: Es muß etwas geschehen, damit sich nichts ändert. Denn selbst wenn jetzt einige Köpfe rollen – zu blockiert ist die Grande Nation.
Verheerende wirtschaftliche Daten
Die Zahlen sind verheerend. Ein Viertel der Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiteres Viertel hält sich mühsam mit Praktikas und Kurzzeitjobs über Wasser. Altersarmut ist allgegenwärtig, die Mittelschicht blutet aus. 3,4 Millionen Arbeitslose; das ist eine Arbeitslosenquote von 10,1 Prozent, sie ist damit dreimal höher als in Deutschland. Investitionen und Industrieproduktion sinken, das Außenhandelsdefizit steigt; in diesem Jahr wird sich der Staat erneut maximal verschulden und vier Prozent der gesamten Wirtschaftsleitung für neue Schulden verpulvern. 45 Prozent jedes verdienten Euros wird durch Steuern abkassiert; in Deutschland sind es noch fünf Prozent weniger, auch wenn dank schwarz-roter Politik die Staatsquote steigt und grüne wie sozialdemokratische Politiker weitere Erhöhungen fordern. Das alles ist eine groteske Pleite. Dabei hatte Hollande noch vor genau einem Jahr verkündet, der „Aufschwung“ sei da, die Staatsverschuldung werde abnehmen und die Arbeitslosigkeit spätestens ab Herbst 2013 sinken – jetzt müssen die Krise in der Ukraine und Syrien dafür herhalten, warum keines dieser Versprechen Wirklichkeit geworden ist. Die Lage wird nicht besser. Sie wird schlechter. Die negative Stimmung in Frankreich wird zur Belastung für Europa, den Euro und auch für Deutschland – den wichtigsten Handelspartner.
Mehr Schulden für weniger Schulden
In der neuen Runde der Auseinandersetzung geht es wieder darum, eine Begründung für noch mehr Schulden zu finden – und den schwarzen Peter von der Ukraine und Syrien möglichst nach Berlin zu schieben. Immerhin stehen ja Deutschland und Angela Merkel für den Sparkurs, der Frankreich tiefer in den wirtschaftlichen Ruin treibe. Hollande hat mächtige Verbündete; Italien ist offenkundig reformunfähig und hält sich nur mit wachsender Verschuldung über Wasser. Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, schwenkte jüngst ebenfalls auf diese Linie ein: Die Eurostaaten sollten ihre „allgemeine Haltung der Fiskalpolitik“ überdenken, sagt er neuerdings, passend vor dem EU-Sondergipfel am kommenden Wochenende. Das klingt kompliziert und nach Nachdenken, aber ist ganz einfach: Mehr Schulden sollen mehr Schulden abbauen; es ist die verquere Logik, die Frankreich und Europa in die Krise geritten hat. Aber warum genau sollte man ein System ändern, von dem man genau weiß, dass es falsch ist?
Die Krise in den Köpfen: Liberalismus als Unwort
Dabei leidet Frankreich unter einer viel schlimmeren Krise als der von zu wenig Schulden, Nachfrage oder Industriepolitik. Davon gibt es mehr als genug. Es ist eine Krise der Köpfe. Sie zeigt sich in der Sprache. «Libéral» ist ein Unwort, «social» bleibt en vogue; der Ruf nach «solidarité» kaschiert die Umverteilung in wachsendem Maße, wobei es immer weniger umzuverteilen gibt. Nicolas Lecaussin, Direktor des Institut de recherches économiques et fiscales (Iref) bezeichnet in seinem Buch «L’Obsession Antilibérale Française» Frankreich als ein Land, in dem das Wort «libéral» bereits in den Bereich des politisch Unkorrekten gehöre . Als «Liberaler» werde man in Frankreich grundsätzlich isoliert und keinesfalls gewählt. Wer auf Stimmenfang gehe, müsse – unabhängig von Parteizugehörigkeit – den Begriff «libéral» meiden und stattdessen «social» verwenden. Dem Markt wird prinzipiell misstraut, dem Staat hingegen fast alles anvertraut. Die Finanzmärkte gelten als „ultraliberal“. Erinnert Sie das an etwas? Irgendwie ein heimeliges Gefühl dabei aufgestoßen?
Die Große Koalition auf den Spuren Frankreichs
Dabei wird einem unbehaglich: Es ist ja gerade Kennzeichen der in Berlin regierenden Großen Koalition, dass „Gerechtigkeit“ und „sozial“ als dominierende Normen gelten. Damit werden eine blödsinnige Rentenreform genau so gerechtfertigt wie Mindestlöhne nach französischem Muster eingeführt werden, die Arbeitsplätze vernichten. Es ist eine Debatte, die auf den Kopf gestellt ist: Erst kommt die Verteilung, dann das Erwirtschaften. Kein Wunder, dass das nicht klappen kann.
Die Hauptgefahr dieser Art antiliberalen Denkmuster aber ist:
In Frankreich zeigt sich, was passiert, wenn diese sozialistische Grundhaltung sich festgefressen hat. Selbst Kleinunternehmen, die bislang außerhalb des sozialistischen mentalen Mainstreams lebten, passen sich an. Am Sonntag wird nicht gearbeitet – obwohl Frankreich so betont antikirchlich ist. Aber die soziale Errungenschaft des freien Sonntags führt selbst in Feriengebieten dazu, dass Restaurants geschlossen bleiben – bei Feiertagsbrücken wie an Maria Himmelfahrt (selbstverständlich kein Arbeitstag) wird es Touristen selbst in Urlaubsorten schwer gemacht, ein Restaurant oder Hotel zu finden. Urlaub in Frankreich kann schnell zur unfreiwilligen Fastenkur werden. Einerseits gelten Industriejobs als minderwertig; Dienstleistungsorientierung aber ist ein Fremdwort.
Kein Vorbild ist auch ein Vorbild
Der Obrigkeitsglaube, ausgeprägter Sozialneid und eine bigotte Jagd auf Steuersünder, verbunden mit obrigkeitsgläubigen Hierarchiedenken in Verwaltung und Unternehmen – Frankreich erinnert unter einer optisch modernen Oberfläche fatal an die untergegangene DDR: Bei France Telekom herrscht ein Bürokratismus, der Kunden abschreckt, als sei das ein Rückzugsgebiet der Deutschen Reichspost und ihrer Fernmeldebeamten.
Für dieses Malaise sind Präsident Hollande und seine Partei nicht allein verantwortlich zu machen. Diese Krise gärt immerhin seit sechs Jahren, und ihre Wurzeln liegen tiefer. Viele der strukturellen Probleme hat die linke Regierung von den Bürgerlichen geerbt, die zwischen 2002 und 2012 an der Macht sassen. 2002 markiert auch das Jahr, ab dem sich die Lohnstückkosten sprunghaft erhöht haben, die Aussenhandelsbilanz ins Minus drehte und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland sank. Und es fällt – Zufall oder nicht – mit der Einführung der 35-Stunden-Woche zusammen, schreibt der Frankreichkenner und langjährige Korrespondent der NZZ, Manfred Rist. Die mentale Mitte hat sich verschoben, wie die Begrifflichkeiten zeigen.
Es funktioniert nicht, umso besser
Eine fast heilige Aura umgibt in Frankreich ferner das Wort «solidarité». Aus Solidarität wird in Frankreich umverteilt, dem Bürger ins Gewissen geredet und die Steuerschraube angezogen; so wurde die «Reichensteuer» mit dem Grenzsteuersatz von 75% politisch als Solidaritätsabgabe verkauft. Noch im 21. Jahrhundert wird in Frankreich aus Solidarität gestreikt und demonstriert, es werden Fabriken besetzt und mitunter auch Manager festgehalten. Wer aber ständig über den Abbau vermeintlicher Gerechtigkeitslücken nachdenkt, statt über Wettbewerbsfähigkeit, bietet schlechte Voraussetzungen, um in einem globalen Umfeld, wo sich Kapital, Unternehmen, Menschen und Know-how immer weniger an nationale Grenzen halten, an die Weltspitze zurückzukehren.
Dabei darf man sich nicht über Frankreich erheben – deutsche Politik und deutsche Medien sind längst gedanklich frankophon. Bereits der Koalitionsvertrag war ein Dokument, das für Deutschland den französischen Weg vorzeichnet. https://www.tichyseinblick.de/tichys-einblick/die-effizienz-der-wirtschaft-auf-europaeisch-vertraegliches-niveau-absenken/ Gelegentlich sollte man nicht die Pariser Pracht-Boulevards bestaunen, sondern sich auf den Weg durch die entindustrialisierten Wirtschaftswüsten Frankreichs machen, die leerstehenden Fabriken anschauen und die depressive Lage vieler Städte und Gemeinden, um den Erfolg einer Politik zu beobachten, die das Wünschbare an die Stelle des Machbaren setzt. Das alles ist erkennbar. Die Wirtschaft beginnt auch in Deutschland zu schrumpfen. Indikatoren der wirtschaftlichen Zukunftserwartung, wie jüngst der ZEW-Index und in diesen Tagen der Ifo-Index, zeigen nach Süden. Und die Frage des Figaro kann man daher auch in Berlin stellen: „Warum sollte man etwas ändern, von dem man weiß, dass es nicht funktioniert?“