Im Hohen Rat in Jerusalem waren die obersten Gutmenschen Israels versammelt. Sie meinten es für das Volk nur gut. Sie waren sich in ihrem Gutsein so sicher, dass sie es als ihre sittlich-religiöse Pflicht ansahen, Andersdenkende aus dem Weg zu räumen. Darum wollten sie Jesus töten. Er war ihnen ein Dorn im Auge.
Mit seiner Rede von einer väterlichen Beziehung zu Gott war Jesus ein „SCHWURBLER“:
Mit seinen Weherufen über die Pharisäer und Schriftgelehrten war Jesus ein „HASSPREDIGER“.
Mit seinen unbekümmerten Besuchen bei den Aussätzigen war Jesus ein „WIRROLOGE“:
Durch seine Begegnungen mit Zöllnern und Prostituierten war Jesus ein „KONTAKTSCHULDIGER“.
Mit seiner Predigt vom Reich Gottes war Jesus eine „DELEGITIMIERER DES STAATES“.
Mit seiner göttlichen Vollmacht in Person, Wort und Tat war Jesus ein „GOTTESLEUGNER“.
„Jesus ist Gift für unser Land“, wusste der Hohe Rat ohne ordentliche Gerichtsverhandlung. „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe“ (Johannes 11,50). Ihre eigene Moral steht für Gutmenschen bekanntlich über dem Recht.
Doch der Hohe Rat hatte ein Problem. Israel war von den Römern besetzt. Der Hohe Rat durfte höchstens Ordnungsgelder bei falschparkenden Kutschen vor dem jüdischen Tempel ausstellen.
Also führen sie Jesus zu Piliatus, der in Jerusalem die römische Besatzungsmacht repräsentierte. Pilatus beginnt wie ein guter Richter: „Was hat er verbrochen? Gegen welches Recht hat er verstoßen? Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor (Johannes 18,29)?“ Pilatus hält professionell die Flagge des Rechtsstaates hoch.
Der Hohe Rat allerdings nennt keinen einzigen konkreten Anklagepunkt, sondern verliert sich in einer Wischi-Waschi-Beschuldigung: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet (Johannes 18,30).“ Wo der Rechtsstaat aufhört, da gewinnen nebulöse Phrasen und Anschuldigung die Oberhand. „Hassgefühle“, „Diskriminierung“ und andere „Übeltaten“ unterhalb der Strafbarkeitsgrenze können für Gutmenschen ausreichen, einen Menschen zu beseitigen.
Eigentlich hätte Pilatus hier den Prozess abbrechen müssen. „Kein Verbrechen, keine Strafe ohne eindeutiges Gesetz“ – „nullum crimen, nulla poena sine lege“, so hatte es Pilatus nach guter alter römischer Tradition bei seiner Ausbildung zum Statthalter gelernt.
Zudem wusste Pilatus von seinem Inlandsgeheimdienst, dass von diesem Wanderprediger mit seinen transzendenten Ideen keine Gefahr für die römische Besatzungsmacht ausgeht. Genau das bestätigt sich, als Pilatus den Wanderprediger verhört. Da redet Jesus von „Wahrheit“ und von einem „jenseitigen Reich Gottes“. Pilatus, der Realpolitiker, wiegelt ab: „Ach, was ist denn schon Wahrheit (Johannes 18,38)? Wir Römer theologisieren nicht und wir philosophieren nicht. Wir Römer herrschen!“
Spätestens jetzt hätte im Rechtsstaat der Freispruch auf ganzer Linie kommen müssen. Der Richter ist sicher, dass der Angeklagte keinerlei Schuld hat. Doch Pilatus wirft alle seine rechtlichen Maßstäbe über Bord und setzt den Prozess als Politiker fort. Politikern geht es nicht um Recht oder Wahrheit, sondern schlicht und einfach um Macht (Max Weber). Pilatus spürt, dass er beim jüdischen Besatzungsvolk an Ansehen und damit an Macht gewinnen würde, wenn er Jesus hinrichten würde. Und diese Chance, seine Beliebtheitswerte zu steigern, lässt sich Pilatus nicht entgehen. Dreisterweise wäscht er noch seine Hände in Unschuld (Matthäus 27,24). Pilatus ist ein Machtpolitiker, der größtes Unrecht verursacht und dabei trotzdem nach außen eine weiße Weste inszeniert.
Es ist interessant, wie nüchtern und historisch wahrscheinlich die Evangelien uns die gesellschaftspolitischen Interesssenlagen der Kreuzigung Jesu schildern. Und die Frage von damals ist bis heute aktuell: Wie kann der Rechtsstaat und damit das Recht der einfachen Menschen gegenüber machtbesessenen Politikern und gegenüber säuberungseifrigen Gutmenschen gesichert werden?
Christen bringen an dieser Stelle noch eine zusätzliche ganz andere Perspektive ein. Sie sehen in diesem Geschehen ein Gottesgeschenk. Gott bleibt mit dem rechtlosen Christus in tiefster Verbindung und wandelt in seiner Allmacht das menschliche Unrecht zur Erlösung. „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe“ (Johannes 11,50). Das jämmerliche Ende des menschlichen Rechtsstaates verwandelt Gott zur Rechtsgrundlage seiner göttlichen Versöhnung. Das ist das Wunder von Karfreitag: „Ihr gedachtet es böse zu machen. Aber Gott gedachte es gut zu machen (Genesis 50,20).“ Einer hat es als erster erkannt. Ein römischer Henker spricht ausgerechnet direkt unter dem Kreuz Jesu das erste christliche Glaubensbekenntnis: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen“ (Markus 15,39).
„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16).