Tichys Einblick
Psychotherapeuten sind kaum zu erreichen

Kinder und Jugendliche vom Anrufbeantworter abgewiesen

Ein Jugendlicher hat depressive Symptome und braucht Hilfe. Er ruft einen Psychotherapeuten an – aber es meldet sich nur der Anrufbeantworter. Das ist kein Einzelfall: Die Nachfrage von Kindern und Jugendlichen nach psychologischer Betreuung und Unterstützung kann kaum mehr gedeckt werden.

IMAGO

Schlafprobleme, Schuldgefühle, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit – solche Symptome deuten auf eine Depression hin. Betroffene möchten aus diesem dunklen Loch, aber schaffen es häufig nicht allein. Nach Hilfe zu fragen, kostet Mut. Aber irgendwann sind sie soweit und greifen zum Telefon, um einen Psychotherapeuten anzurufen. Es ist mehr als nur ungut, wenn dieser nicht abnimmt. Dieser nicht, und vier weitere auch nicht. Es geht um einen Mittwoch um 12 Uhr am Mittag:

Von zwei der Therapie-Praxen meldet sich zumindest der automatische Anrufbeantworter und erklärt, warum die Praxis nicht zu erreichen ist: Praxis A sei derzeit nicht in der Lage, die „Vielzahl der telefonischen Anfragen“ zu beantworten. Und auch Praxis B kann aufgrund der hohen Nachfrage nicht auf alle Anrufe antworten. Wenn diese Praxis nicht innerhalb einer Woche zurückruft, dann kann sie derzeit keine Plätze vergeben, sagt die freundliche, aber automatische Stimme am Ende der Leitung. Keinen von fünf Therapeuten zu erreichen, könnte Zufall sein. Oder Pech. Aber dieses Fallbeispiel zeigt trotzdem: Viele Therapeuten sind ausgelastet bis überlastet; die Nachfrage nach psychologischer Hilfe nimmt offenbar stetig zu.

Dass die Nachfrage nach psychosozialer Hilfe unter Jugendlichen „enorm“ ist und kaum befriedigt werden kann, bestätigt auch Melanie Eckert. Sie ist die Geschäftsführerin von „Krisenchat“, einer rund um die Uhr erreichbaren, kostenfreien und vertraulichen Beratung per Chat, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet. Aber auch Krisenchat kommt kaum hinterher: „Rund 40 Prozent aller Hilfesuchenden können wir keine direkte Hilfe anbieten, obwohl wir pro Monat 4.500 Beratungen durchführen“, sagt Eckert.

Nach der Corona-Pandemie „stabilisieren“ sich die psychischen Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen auf einem hohen Niveau, wie die Krankenkasse DAK informiert. „Stabilisieren“ klingt dabei wie eine Entwarnung – ist es aber nicht: „Im Gegenteil: Das Leiden vieler Kinder und Jugendlicher verfestigt sich“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Der Professor Christoph U. Correll vom Berliner Charité findet daher, dass von keiner „Entwarnung“ oder „Normalisierung“ gesprochen werden könne – obwohl die Zahlen der psychischen Neuerkrankungen im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr rückläufig sind. „Wir befinden uns immer noch in einer Mental-Health-Pandemie und jugendliche Mädchen tragen die sichtbar größte Last“, sagt er.

Im Jahr 2022 wurde bei insgesamt 110.000 jugendlichen Mädchen eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung neu diagnostiziert. Die meisten Fälle davon bezogen sich auf Depressionen, Angst- und Essstörungen. Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Neuerkrankungsraten zwar leicht zurück. Aber verglichen mit dem Vor-Corona-Jahr stiegen die Raten stark an: bei Depressionen um rund ein Viertel, bei Essstörungen um die Hälfte und bei Ängsten um 44 Prozent.

Folglich brauchten und brauchen mehr Mädchen eine Therapie: 78 von 1000 Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren wurden ein Viertel des Jahres 2022 wegen einer Depression behandelt. Und 22 von 1000 Mädchen befanden sich sogar das ganze Jahr lang in Behandlung. Das ist ein „überproportionaler“ Anstieg, wie die DAK schreibt: Verglichen mit dem Vor-Corona-Jahr 2019 entspricht diese Zahl einem Plus von mehr als der Hälfte. Und das sind „nur“ diejenigen Mädchen, die in Behandlung sind. Wie hoch die Dunkelziffer derjenigen ist, die eine Therapiepraxis nach der anderen anrufen, aber keinen Termin bekommen – oder nur den Anrufbeantworter erreichen –, darüber lässt sich nur spekulieren.

Die Dunkelziffer betroffener Kinder und Jugendlicher ist wahrscheinlich ohnehin noch viel höher. Darauf deutet zumindest der Unterschied zwischen Arm und Reich in der DAK-Studie hin: Demnach werden Jugendliche mit einem hohen sozioökonomischen Status häufiger behandelt als Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen. Correll vermutet, „dass Jugendliche aus sozial schwächeren Milieus nicht grundsätzlich weniger psychisch krank sind. Sie suchen nur seltener eine Behandlung auf.“

Ebenso suchen Jungen seltener als Mädchen eine Behandlung auf und bekommen somit seltener eine entsprechende Diagnose: So erhielten 2022 acht Prozent weniger der 15- bis 17-jährigen Jungen eine Neudiagnose im Bereich psychischer Störungen als im Vor-Pandemie-Jahr. Bei jugendlichen Mädchen steht hingegen insgesamt ein Plus von sechs Prozent. Der Grund könnte laut den DAK-Experten darin liegen, dass Jungen eher zu „externalisierenden“ Störungen neigen. Also zum Beispiel Aggressivität, Impulsivität und Trotzverhalten. Mädchen neigen hingegen eher zu „internalisierenden“ Störungen, wie Rückzug, Depression, Essstörungen und Ängsten.

Externalisierende Störungen würden oftmals als „Sozialverhaltensstörungen“ gewertet und seien somit unterdiagnostiziert, betont Dr. Thomas Fischbach, der ehemalige Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ). Zumal, so Correll, viele Jungen ihre psychischen Probleme anderweitig kompensieren: mit Suchtmitteln wie Drogen, Alkohol oder auch Gaming und sozialen Medien zum Beispiel. „Das gilt es weiter zu beobachten“, sagt er.

Aktuell nutzt knapp ein Viertel der Minderjährigen die sozialen Medien riskant, wie eine Längsschnittstudie vom DAK gemeinsam mit der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) ergab. Das sind hochgerechnet 1,3 Millionen Kinder- und Jugendliche – dreimal so viele wie im Jahr 2019. Sechs Prozent der 10- bis 17-Jährigen erfüllen derzeit die Kriterien einer pathologischen Nutzung. Hochgerechnet sind also 360.000 Kinder und Jugendliche süchtig nach Medien – fast doppelt so viele wie vor vier Jahren.

Dr. Michael Hubmann, der neue Präsident des BVKJ, sagt: „Die Ergebnisse zeigen leider deutlich, dass die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland während und nach der Corona-Pandemie erheblich zugenommen hat.“ Sein Vorgänger Fischbach sieht „großen Handlungsbedarf bei Hilfsangeboten für psychisch kranke Jugendliche“ – und damit meine er nicht nur die medizinische Versorgung: „Sondern auch beispielsweise pädagogische Maßnahmen.“ In einem Interview zu seinem Amtsabschied mahnt Fischbach die Bundesregierung, die Belange von Kindern und Jugendlichen „in einen ressortübergreifenden Blick zu nehmen“.

Übrigens: Nach einer Woche hat sich Praxis B noch immer nicht zurückgemeldet.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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