Tichys Einblick
Dossier

Wie Hass-Studien Argumente für eine Notstandspolitik liefern – und wer davon gut lebt

Um Eingriffe in die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, legt Lisa Paus ein absurdes Papier voller Manipulationen vor – angefertigt von Organisationen, die das Ministerium finanziert. Der Fall zeigt beispielhaft, wie sich ein schnell wachsender Überwachungskomplex selbst mit Steuermillionen versorgt.

IMAGO

Mittlerweile wirkt ein bestimmtes politisches Verfahren so vertraut, dass es seiner Zielgruppe – also dem gewöhnlichen Bürger – gar nicht weiter auffällt: Mandatsträger sehen es nicht mehr wie in alten Zeiten als ihre Aufgabe, Wünsche einer Bevölkerungsmehrheit aufzunehmen, um sie in Gesetze zu verwandeln. Sie verfügen schon über eine fertige Agenda, die sie nicht erst mühsam mit den Vorstellungen der Regierten abgleichen wollen.

Die Kommunikation verläuft deshalb strikt von oben nach unten; Träger staatlicher Macht erklären den Bürgern, was gerade mit alternativloser Notwendigkeit und Dringlichkeit ansteht. Da die Adressaten diese Notwendigkeit oft nicht einsehen, bedarf es einer Nachhilfe, die fest zu dem Verfahren gehört: Wer etwas durchsetzen will, erklärt den dazu passenden Notstand. Denn Not kennt bekanntlich nur ein Gebot: Formale Regeln und kleinliche Einwände gelten in dieser Lage nicht.

Als Innenministerin Nancy Faeser, Familienministerin Lisa Paus und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang kürzlich vor die Presse traten, legten sie eine Art Notstandsgesetz mit 13 Unterpunkten vor, das sie zum einen mit dem aufgedeckten Treffen der 25 unprominenten Verschwörer von Potsdam begründeten, zum anderen mit einer von Paus’ Ministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung, die nach Ansicht der Ressortchefin nachweist, wie ein vage umrissenes Phänomen namens Hass das Netz flutet, weshalb es eine „klare Erwartungshaltung“ (Paus) gebe, unverzüglich staatliche Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen. Bei der Hassflut im Netz, so vermittelt es Paus, handelt es sich um eine ganz frische und gerade noch rechtzeitig erkannte Gefahr, die vom Gesetzgeber höchste Eile verlangt.

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Bemerkenswerterweise fügen sich sowohl der ‚Hass‘-Begriff als auch die schon bereitliegenden Bekämpfungsinstrumente, zu denen die Bundesregierung jetzt ganz spontan greifen will, in einen staatenübergreifenden Prozess ein, der schon länger läuft. Am 17. Februar 2024 tritt bekanntlich Teil 2 des Digital Services Act in Kraft, der EU-Amtsträgern ohne Wählerlegitimation die Möglichkeit gibt, von großen, aber auch kleineren Internetplattformen die Entfernung bestimmter Inhalte zu verlangen. In Irland, Sitz der Europa-Dependancen von Twitter und Facebook, soll demnächst außerdem ein Hassrede-Gesetz Meinungen in gute und schlechte sortieren (was dort vorerst auf etwas Widerstand stößt). Sehr ähnliche politische Kräfte wollen also an unterschiedlichen Stellen mit sehr ähnlicher Begründung das Gleiche.

Aus den von Paus präsentierten Texten und bunten Schaubildern unter dem Titel „Lauter Hass – leiser Rückzug“ soll dreierlei hervorgehen: Erstens tobt der Hass im Netz so schlimm wie nie. Zweitens ziehen sich deshalb Träger wertvoller Meinungen zurück, was wiederum die Demokratie gefährdet. Aus der Demokratiewohlgefährdung ergibt sich drittens der rechtfertigende Notstand – der es wiederum erzwingt, jedenfalls nach Ansicht der Politikerin, so die Politikerin, die „Strafbarkeitsgrenze nachzuschärfen“, also bisher Legales wie in Irland zu kriminalisieren.

Obwohl fast jedes größere Medium über das berichtete, was Paus als „Studie“ bezeichnet, erwähnte kaum ein Journalist im Februar 2024, dass ein fast identisches Zahlenwerk mit den entsprechenden Behauptungen schon 2020 von einer Ministerin vorgestellt wurde – damals in Person von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Und zwar zum gleichen Zweck; Lambrecht begründete mit dem Auftragswerk die Notwendigkeit ihres Gesetzes gegen Hassrede im Netz. Das Ergebnis der vorgeblichen Studie lautete: Noch nie ging es im Netz so hasserfüllt zu, diese Zustände wiederum, so Lambrecht vor vier Jahren, führten dazu, „dass sich unglaublich viele Menschen durch Hasskommentare, durch Hetze im Internet zurückziehen, ihre Meinung nicht mehr äußern“. Woraus die Ministerin folgerte: „Das heißt, die Meinungsfreiheit und damit auch die Demokratie ist in Gefahr, und deswegen müssen wir da handeln.“

Schrott mit akademischer Oberflächenveredlung  

Schon in Lambrechts Amtszeit kam es also den damaligen Auftragsforschern zufolge zur Massenflucht aus dem hasstriefenden Netz. Dann verschlimmerten sich die Verhältnisse weiter, jedenfalls nach Darlegung von Paus’ Vertrauenswissenschaftlern, und es folgte eine noch viel größere Absetzbewegung entsetzter Kunden von Instagram, Snapchat, Twitter und Facebook.

Rätselhafterweise stiegen die Nutzerzahlen der Plattformen zwischen den beiden ministeriell beauftragten Fluchtgeschichten allerdings deutlich an, bei einigen Anbietern sogar steil. Laut ARD/ZDF-Online-Studie bewegten sich 2023 insgesamt 70,3 Millionen Menschen in Deutschland in sozialen Netzwerken, wo jeder im Schnitt 5,3 Konten unterhält. Einige wenige Plattformen stagnierten in den vergangenen Jahren etwas, die meisten legten zu, einige verbuchten sogar ein Blitzwachstum ihrer Reichweite, etwa Snapchat mit einer Reichweitensteigerung von 13 auf 20,9 Prozent allein zwischen 2022 und 2023, Tiktok von 9,2 auf 16,9 Prozent von 2021 bis 2023.

Wie soll es also zusammenpassen, dass sich nach gleich zwei hassbedingten Massenemigrationswelle aus den sozialen Netzwerken dort mehr Nutzer tummeln als vor vier Jahren? Die Antwort lautet: gar nicht.

Bei beiden Broschüren mit der irreführenden Bezeichnung ‚Studie‘ handelt es sich um Wunscherfüllungen für das jeweilige Ministerium, für die am ehesten der Begriff junk science passt, also um Schrott mit akademischer Oberflächenveredlung. Dass die Ministerinnen dafür Geld bezahlten, grenzt an Haushaltsuntreue, zumal die Ersteller der Publikationen sich gleichzeitig als versierte Kämpfer gegen Netzhass anbieten, wofür sie wiederum öffentliches Geld verlangen und erhalten, auch von den Ressorts, die sie mit der Untersuchung beauftragten. Teilweise handelt es sich bei den Beteiligten 2019 und 2023 (vorgestellt wurden die Erzeugnisse jeweils ein Jahr später) um die gleichen Organisationen.

Obwohl die Autoren sowohl hier als auch dort mit allen nur denkbaren Mitteln den begrifflichen Rahmen so zurechtzimmern, dass er ein beabsichtigtes Ergebnis begünstigt, weist weder die Broschüre von 2019 noch die von 2023 nach, dass es sich bei ‚Hass‘ in sozialen Netzwerken um ein Massenphänomen handelt, und auch nicht, dass deswegen Nutzer in nennenswertem Maß davonlaufen.

Wie die Autoren der Veröffentlichung banale Daten zur Internetkrise und damit zum Notstand aufpumpen, lässt sich an einer Zahlenreihe von 2023 zeigen, noch bevor es in die Details der Erhebung gehen soll. In „Lauter Hass – leiser Rückzug“ heißt es in der Zusammenfassung prominent: „Ganze 89 Prozent der Internetnutzer*innen stimmen der Aussage zu, dass Hass im Netz in den letzten Jahren zugenommen hat.“ (Wobei die Autoren wie inzwischen auch die meisten jüngeren Journalisten „ganze“ schreiben, wenn sie „volle“ meinen). Neunundachtzig Prozent, das klingt beeindruckend, auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht um 89 Prozent der Internetnutzer, sondern 89 Prozent der insgesamt 3061 Befragten handelt.

Allerdings: Dass sie selbst in den von ihnen genutzten Plattformen „Hass“ wahrgenommen hätten, geben etwas später nur 45 Prozent der Befragten an. Und das, obwohl die Fragendesigner „Hass“ schon in einer bizarr anmutenden Breite definieren. Als persönlich betroffen von Hass in irgendeiner Form bezeichnen sich im nächsten Schritt gerade 15 Prozent. Und von denen wiederum erklärt niemand, er oder sie hätte sich deshalb völlig aus sozialen Netzwerken zurückgezogen. Eine entsprechende Frage stellen die Untersuchungsmacher nämlich gar nicht.

Wer verantwortet eigentlich „Lauter Hass – leiser Rückzug“? Zum einen die GmbH „Das NETTZ“, die sich selbst als „Vernetzungsstelle gegen Hate Speech“ beschreibt. Ihre Zuwendungen stammen vom Bundesfamilienministerium, daneben auch von der Bosch- und der Mercator-Stiftung. Außerdem dabei, wie schon bei der weitgehend gleichen Untersuchung von 2019: Die „Neuen Deutschen Medienmacher“, ein von der heutigen Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman gegründetes Netzwerk identitätspolitisch aktiver Journalisten, ebenfalls mit hohen Summen finanziert vom Bundesfamilienministerium, und zwar in stark steigender Tendenz seit dem Regierungswechsel: 2021 flossen gerade 58.512 Euro aus der Ressortkasse, 2021 schon 397.343 und 2023 insgesamt 472.816 Euro. Im gerade erst angebrochenen Jahr 2024 bewilligte Paus’ Behörde schon weitere 136.380 Euro.

Als dritte Organisation im Team tritt die „Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur“ (DMK) auf. Geldgeber: das Bundesfamilienministerium, daneben noch das Ministerium für Kinder, Jugend und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen. Das von Paus geleitete Ressort beauftragt also drei von ihm bezahlte und inhaltlich weitgehend gleich ausgerichtete Organisationen mit der Erstellung eines Zahlenwerks, das erstens den generellen Kurs der Ministerin bestätigt und zweitens die Empfehlung ausspricht, Organisationen der sogenannten Zivilgesellschaft stärker und vor allem dauerhaft mit Staatsgeld zu versorgen. Und die verantwortliche Politikerin schafft es, diese offensichtliche Selbstbegünstigung öffentlich als unabhängige Untersuchung und ‚Studie‘ zu verkaufen, ohne von den meisten Medien mit Nachfragen belästigt zu werden. Im Gegenteil: Große Formate wie die ARD-Tagesschau übernehmen die Behauptungen sogar völlig ungefiltert.

Screenprint: Tagesschau

Der Bayerische Rundfunk fertigte aus einem Paus-Zitat („Hass im Netz: Gefahr für die Demokratie“) gleich die Überschrift seines Online-Beitrags, ohne wenigstens mit Anführungszeichen eine Semidistanz zu wahren.

Originell wirken die Autoren der Umfrage von 2023 schon bei ihrem Versuch, die Zunahme von Hass in den sozialen Netzwerken zu unterfüttern – nicht mit Zahlen, sondern durch aneinandergereihte Behauptungen. „Im Verlauf der Corona-Pandemie“, heißt es dort, „nahm der Hass gegenüber Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Medienschaffenden und Ärzt*innen stark zu. Im Kampf für Klimaschutz sind junge Aktivist*innen, besonders Frauen, auf der Straße und im Netz Gewalt(-fantasien) ausgesetzt.“

Eine ganze Reihe von Bürgern dürfte sich etwas umfassender an die Corona-Zeit erinnern. Etwa auch an die Beschimpfung von allen, die sich nach Normalität sehnten, als „Spinner und Wirrköpfe“ (ARD-Chefredakteur Rainald Becker), die Forderung nach der Ächtung von Ungeimpften („ihr seid raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ – Saar-Kurzzeit-Ministerpräsident Tobias Hans), „möge die ganze Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ (Nikolaus Blome im SPIEGEL), die Bezeichnung von Anti-Maßnahmen-Demonstranten als „Blinddarm der Gesellschaft“ (Sahra Bosetti im ZDF). Oder an den Vergleich von Schulkindern, angeblich „Treiber der Pandemie“, mit „Ratten im Mittelalter“ (Jan Böhmermann).

Dazu gab es bekanntlich noch massenhaft Vorschläge kleiner Mitmeiner auf Twitter und anderswo, Ungeimpfte in Lager zu sperren oder sie von der medizinischen Versorgung auszuschließen. Mit der Aufklärung, wer in der Corona-Zeit welche Botschaften in welche Richtung schickte, und welcher Anteil davon auf öffentlich-rechtliche Sender und etablierte Medien entfiel, wollen sich Paus’ Hassaufspürer erkennbar nicht befassen. Genauso wenig mit der Frage, ob junge klimakämpfende Frauen tatsächlich nur als Opfer in Frage kommen, oder nicht ab und zu auch als Verbreiter toxischer Ansichten, etwa zu Israel und zu weißen Europäern.

Wie definiert Paus’ Expertengruppe „Hass im Netz“? In der Broschüre heißt es unbeholfen, die hier verwendete Begriffsbestimmung ginge „über gesetzliche Richtlinien hinaus“. Da staatliche Richtlinien für Onlinehass jedenfalls bis dato nicht existieren, soll das offenbar heißen: Es sind nicht nur strafbare Inhalte gemeint. Aber was verstehen die Befragten selbst unter „Hass im Netz“? Dazu gibt es eine schon stark in eine Richtung gebürstete Befragung mit durchaus interessanten Ergebnissen. Wenn eine Person rassistische Beleidigung erfährt, ordnet das eine große Mehrheit von 93 Prozent als Hass ein (der Rest: weiß nicht). Die Beleidigung einer Frau wegen ihres Geschlechts halten 85 Prozent für Hass, 12 Prozent enthalten sich. Interessanterweise fehlt die Frage nach der Herabwürdigung von Männern, vor allem in Kombination mit Alter und Hautfarbe („alter weißer Mann“).

Weiße generell als rassistisch zu bezeichnen und Menschen mit konservativen Ansichten als Nazi – das empfinden (nur) 76 Prozent der Umfrageteilnehmer als hasserfüllt, was ganz nebenbei darauf hinweist, dass die gewählte Stichprobe von 3061 Befragten offenbar sehr weit ins linke und erwachte Spektrum reicht. Ein paar Absätze später weisen die Verfasser der Broschüre mahnend darauf hin, Hass könnte sich eigentlich nur gegen „marginalisierte Gruppen“ richten.

Die Forderung, „dass Migranten Deutschland verlassen sollen“, verbuchen andererseits nur 61 Prozent als Hass, ein Drittel nicht – wobei die Fragesteller hier jede Differenzierung vermeiden, etwa durch eine Fragevorgabe wie: ‚sollten Migranten ohne Bleibeperspektive gehen?‘ In der Vorgabe „eine Person sagt, dass der Islam Europa erobere“, erkennen nur 49 Prozent eine Botschaft, die bekämpft werden sollte. Das Team mit Ministeriumsauftrag stellt angesichts der Antworten zweierlei fest: „Sich als (eher) rechts einordnende Befragte“, so ihr Fazit, „erkennen weniger Hass als sich als (eher) links einordnende Personen.“ Wer schon die Aussage, der Islam erobere Europa, als „Hass“ deutet, gilt nach dieser Logik nicht als Person mit stark verzerrtem Weltbild, sondern als Bürger mit besonders feinem Sensorium für Bösartigkeiten.

Die zweite Folgerung der ausgewählten Experten lautet, „Hass im Netz“ verstünden die Befragten offenbar sehr unterschiedlich. Dem helfen die Untersuchungsführer ab, indem sie kurzerhand allen eine einheitliche Definition vorgeben, „damit die Teilnehmer*innen für die übrige Befragung eine einheitliche Vorstellung von Hass im Netz haben“. Die lautet dann so: „Hass im Netz bezeichnet eine Vielzahl unterschiedlicher, u. a. abwertender, entwürdigender, auf Einschüchterung zielender oder verhetzender Online-Phänomene gegenüber Personen oder bestimmten Personengruppen. Die Ausprägungen können sehr vielfältig sein, z. B.: Beleidigungen und Drohungen, üble Nachrede und Verleumdungen, sexuelle Belästigungen (z. B. durch Dickpics), Verbreitungen von (Nackt-)Fotos ohne Zustimmung, Nachstellungen, Stalking oder Belästigung.“

Was jemand als beleidigend empfindet – und genau danach fragen die Verantwortlichen im nächsten Schritt –, hängt stark von dessen Ansichten ab. Manche fühlen sich beispielsweise schon von der Feststellung beleidigt, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt (und Funktionäre des DFB geben ihnen dabei Recht). Bestimmte Leute halten schon ein Kompliment zu ihrem Aussehen für Belästigung. Nachstellungen und Belästigungen liegen meist individuelle Motive zugrunde, für die der Begriff ‚Hass‘ manchmal passt, aber längst nicht immer. Etliche Jugendlichen (die jüngsten Befragungsteilnehmer sind 16) betrachten das Versenden von Nacktfotos tatsächlich als Mittel, um andere zu demütigen. Nur: Mit politisch aufgeladenem Hass haben diese pubertären Spiele nichts zu tun. Die einzelnen Antwortvorgaben im Fragebogen zementieren das soufflierte Hassverständnis etwa: „ich wurde beleidigt“; „eine Person hat Dinge über mich verbreitet, die nicht stimmen“ (hier findet nicht einmal die Unterscheidung zwischen unabsichtlich und absichtlich falsch statt).

Angesichts des XXL-Rahmens für den Begriff, den die Befrager setzen, vom subjektiven Beleidigtsein bis zum indiskreten Foto, wirkt es erstaunlich, dass nur 45 Prozent angeben, so etwas schon einmal gesehen zu haben, und gerade 15 Prozent, sie hätten es selbst erlebt. Die Zahlen sprechen eher dafür, dass es in den sozialen Plattformen zwar oft unhöflich und unbürgerlich zugeht (wie außerhalb auch), dass aber selbst sehr, sehr großzügig definierter Hass nur mäßig vorkommt, und echter noch viel seltener.

Auch den Hassexperten selbst scheint aufzufallen, wie schlecht sich das Antwortmaterial zum Alarmschlagen eignet. Also schreiben sie: „Die Zahlen lassen vermuten, dass gerade die Personengruppen, die in aktuellen politischen und medialen Debatten häufig vorkommen, in der Wahrnehmung der Befragten auch häufig von Hass im Netz betroffen sind – seien es Geflüchtete im Asylpolitik-Diskurs oder Aktivist*innen im Einsatz für mehr Klimaschutz“ (nein, das tun sie überhaupt nicht, dazu gleich mehr).

„Die Zahlen zeigen allerdings nicht, wie häufig die Personengruppen tatsächlich betroffen sind. Zum einen beschränkt sich die Wahrnehmung der Befragten vermutlich überwiegend auf den öffentlichen Raum der Plattformen. (…) Findet Hass im privaten Teil sozialer Medien statt, bleibt dies der Öffentlichkeit verborgen, nicht jedoch den Betroffenen. Zum anderen ist die vergleichsweise geringe Wahrnehmung von Hass im Netz gegen Personengruppen wie jüdische Menschen, Sinti*zze und Romn*ja oder Menschen mit Behinderungen vermutlich stark vom Wissen oder Nichtwissen der Befragten abhängig – zum Beispiel über antisemitische Codes, historische Kontinuitäten von Antiziganismus oder ableistische Sprache.“

Etwas kürzer und phrasenfrei: Die Befragten dienen einerseits am Ende der Ausführungen als Kronzeugen für die Notwendigkeit politischer Maßnahmen gegen den „Hass im Netz“, gleichzeitig bescheinigen ihnen die Autoren, ihre Schützlinge könnten diesen Hass gar nicht zuverlässig erkennen. Fallen die Zahlen wunschwidrig gering aus, egal, ob es um Netzhass oder Oktoberfest-Vergewaltigungen handelt, dann spricht das nach der Logik einschlägiger Organisationen und Aktivisten immer für eine falsche Wahrnehmung und ein riesiges Dunkelfeld, nie für eine Entwarnung.

Nur der Vollständigkeit halber: Sämtliche Gruppen, die als hassbetroffen in der Untersuchung auftauchen, geben die Abfrager vor. Und selbstredend möchten sie nicht wissen, welche Ressentiments sich in sozialen Netzwerken beispielsweise gegen Ungeimpfte, Autofahrer oder Atomkraftbefürworter richten. Die Paus-Broschüre enthält trotz aller Mühe, das Passende herauszufinden, auch das eine oder andere interessante Ergebnis. Beispielsweise, dass sich Hass in der weiten Definition nach Wahrnehmung der Befragten zu fast gleichen Teilen gegen Nutzer richtet, die sich selbst als links beziehungsweise rechts einschätzen (53 zu 47 Prozent). Als persönlich von Hass betroffen bezeichnen sich 19 Prozent der linken und 16 Prozent der rechten Teilnehmer. Umso bemerkenswerter fällt die Zustimmung zu der Vorgabe aus: „Hass im Netz muss ausgehalten werden, wenn er nicht gegen Gesetze verstößt“. Die meisten Befürworter dieses eher angelsächsischen Verständnisses von Redefreiheit finden sich unter den AfD-Anhängern (48 Prozent versus 49 Prozent, die ablehnen); erstaunlich wenige bei Wählern der Freidemokraten (73 zu 25 Prozent), die geringste Bereitschaft, legale Äußerungen hinzunehmen, die sie als Hass empfinden, zeigen Gefolgsleute der Grünen (77 zu 22 Prozent).

Wie steht es nun um den angeblichen Massenrückzug aus sozialen Netzwerken, der Schlussfolgerung also, auf den die gesamte Untersuchung zuläuft, und die fast alle Journalisten ohne jede Nachfrage in ihre Artikel kopieren? Falls es diese Fluchtbewegung tatsächlich geben sollte, wogegen, siehe oben, sämtliche Nutzerstatistiken sprechen, dann findet sich in der Broschüre jedenfalls nicht der allerkleinste Beleg für ihre Existenz. Auf die Frage, wie sie auf den „Hass“ reagieren, antwortet jeweils eine Mehrheit der Befragten auf die vorgegebenen Möglichkeiten, sie würden sich im Internet „seltener“ zu ihrer politischen Meinung bekennen, beziehungsweise dort „seltener“ an Diskussionen teilnehmen. Es fehlt allerdings jeder Hinweis, worauf sich diese Formulierung bezieht. Seltener als in der analogen Welt? Seltener als früher? Seltener, als sie es eigentlich wünschen? Von allem ein bisschen? Der Gebrauch von Steigerungsformen ohne jeden Bezug gehört zu den lästigsten Erscheinungen im Journalismus und verwandter Genres. Egal, wer behauptet, irgendetwas sei stärker, weniger oder besser („Migranten sind besser ausgebildet“ – ZEIT), ohne zu beantworten: verglichen womit?, verbreitet wertloses Wortgebimmel.

Andere geben an, „aus Sorge vor Hass im Netz“ ihre Beiträge bewusst „vorsichtiger“ zu formulieren. Auch hier fehlt wieder der Bezug. Aber egal, was „vorsichtiger“ meint: Worin besteht das gesellschaftliche Problem? Offenbar verstehen diese Nutzer, dass (auch) ihr Ton die Musik macht.

Wie oben schon erwähnt: Die Frage „haben Sie sich wegen Hass ganz von sozialen Plattformen zurückgezogen?“ taucht nirgends auf. Das hindert die Macher aber nicht daran, in der Zusammenfassung dreist zu behaupten: „Der Hass ist laut, der Rückzug hingegen ist leise. Die Nutzer*innen verlassen die Plattformen oder schalten sich nicht mehr in die Debatten ein.“ Die Broschürenersteller manipulieren also nicht nur bei den Fragen. Sie täuschen mit voller Absicht.

Am besseren Meinungsklima haben maßgebliche Kräfte kein Interesse 

Allein diese Irreführung wäre schon Grund genug, das Paus-Elaborat auf die große Halde akademisch-aktionistisch verschwurbelter Immerschlimmerismus-Papiere zu werfen. Die einzigen Leser, die das „Lauter Hass“-Heft wirklich verdient, sitzen im Bundesrechnungshof. Es kommt aber noch etwas anderes dazu. Welchen Schaden beklagen Paus und ihre Helfer überhaupt? Ihr Argument lautet, durch den Rückzug aus dem Netz gingen „vielfältige Perspektiven in unserem demokratischen Diskurs“ verloren. Exakt das gleiche Milieu, das solche Befunde verbreitet, nach staatlichen Maßnahmen ruft und um Vielfalt bangt, fordert bekanntlich dazu auf, X, vormals Twitter zu verlassen, seitdem sie die Plattform dort nicht mehr mit ihren Ansichten dominieren. Die SPD-Vorsitzende, die Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman und einige Medien verkündeten schon stolz ihren allerdings nicht leisen, sondern paukenschlagenden Rückzug. Eine ganze Reihe wohlmeinender Medien schränkt außerdem auf X die Antwortmöglichkeiten der Nutzer unter ihren Beiträgen ein.

Gleich neben der Falschbehauptung, die Progressiven und Sensiblen zögen sich scharenweise von X, Instagram, Facebook und anderen Anbietern zurück, und dadurch würden Diversität und Debatte leiden, siedeln also Versuche, Plattformen so homogen wie möglich zu gestalten, und falls das nicht klappt, neue geschützte Zonen der Uniformität wie Bluesky zu errichten. Deutlicher könnten sie kaum sagen, was sie unter Vielfalt verstehen: mindestens fünfzig Schattierungen der gleichen wohlmeinenden Ansichten, umgeben von einem antihassistischen Schutzwall aus autoritären Gesetzen, bestückt mit staatlich bezahlten Wachposten unter NGO-Flagge.

Dazu kommt noch ein bisher kaum ausgeleuchteter Aspekt: Welchen Anteil an toxischen Online-Botschaften erzeugt der Staat eigentlich selbst? Wie die „Süddeutsche“ kürzlich schrieb, tummeln sich auf den Plattformen „zusätzlich zu den V-Leuten noch mehrere Hundert hauptamtlicher Verfassungsschutzmitarbeiter im Einsatz (…), die in sozialen Netzwerken mit gefälschten Accounts als Rechtsextreme posieren (…) Sie dürfen in gewissem Rahmen auch Straftaten begehen, zum Beispiel Volksverhetzung.“

So gut wie kein Medium und kein Oppositionspolitiker stellt bisher die Frage, in welchem Maß es das Meinungsklima schon beruhigen könnte, würde der Staat keine Kampforganisationen wie die „Neuen Deutschen Medienmacher“ und die Amadeu-Antonio-Stiftung mehr finanzieren, und seine Beamten nicht mehr selbst erzeugten, was sie zu bekämpfen vorgeben. Die eigentliche Antwort lautet: An dieser Kalmierung der gesellschaftlichen Atmosphäre sind maßgebliche Kräfte überhaupt nicht interessiert. Sie brauchen die tatsächliche und behauptete Verschärfung, um immer neue Ausnahmelagen zu rechtfertigen, weil sie ihre Agenda mit Wählermehrheiten und zivilen Debatten nicht durchsetzen können.

Wie oben schon erwähnt, versuchte Lambrecht schon 2020 fast das Gleiche wie Paus heute: Hass herrschte nach ihrer Erklärung auf allen Kanälen, die Guten zögen sich zurück, also brauche es ein illiberales Gesetz. Das alles, so die Ministerin, ergäbe sich aus „Studien“. Tichys Einblick bat damals um Übersendung, und erhielt zwei Zahlenwerke. Einmal eine Befragung unter dem Titel „Toxic Twitter“, erstellt von Amnesty International im Jahr 2018, bei der es um die Belästigung und Bedrohung von Frauen in sozialen Netzwerken ging. Befragt wurden dazu 7337 Frauen in acht Ländern. Es gab nur ein kleines Problem: Deutschland gehörte nicht dazu. Irgendeine gesetzgeberische Aktivität in der Bundesrepublik ließ sich damit folglich nicht begründen.

Bei der zweiten angeblichen Studie handelte es sich um kommentierte Umfrageergebnisse mit der Überschrift „Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“, versehen mit der Eigenbezeichnung „Forschungsbericht“. Zu den Erstellern gehörten damals das „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“ in Jena, seinerseits verbunden mit der Amadeu-Antonio-Stiftung, zweitens die Kampagnenplattform „Campact“ mit der Selbstbezeichnung „Bürgerbewegung für progressive Politik“, die im Herbst 2019 ihren Gemeinnützigkeitsstatus einbüßte. Ebenfalls 2019 dabei: der staatlich durchfinanzierte Verein „Neue Deutschen Medienmacher“.

Schon der angebliche Lambrecht-Forschungsbericht belegte weder eine Hass-Epidemie in sozialen Netzwerken noch eine Massenflucht von Nutzern. Kurzum: Die Politikerin täuschte damals die Öffentlichkeit, und das mit den gleichen Methoden, die Paus heute noch etwas weiter zuspitzt. Lambrechts Anti-Hass-Gesetz kam 2020 nicht wie von ihr gewünscht zustande, weil sogar Juristen aus ihrem Haus seine Verfassungswidrigkeit erkannten. In einer ziemlich einmaligen Aktion konnten sie den Bundespräsidenten davon überzeugen, es nicht auszufertigen. Auch anderswo lässt sich die Politik des Ausnahmezustands nicht mehr reibungslos umsetzen. In Kanada urteilte gerade ein Gericht, dass die Trucker-Blockaden, die Premierminister Justin Trudeau damals mit Meinungseinschränkungen im Netz und Kontensperrungen niederkämpfte, die Anwendung der Notstandsgesetze nicht rechtfertigten – was bedeutet, dass er 2022 rechtswidrig handelte.

— Guardian news (@guardiannews) January 23, 2024

Es stellt sich allerdings die Frage, ob es Verfassungsskrupel wie bei Lambrecht und Urteile wie in Kanada in #Zusammenland noch geben wird, das offenkundig die Grundgesetz-Bundesrepublik ersetzen soll.

Der Wunsch von Politikern, sich nicht mehr der Verbesserung im Alltag der Bürger zu widmen, sondern ihre Energie in die Durchsetzung von Erziehungsprogrammen zu stecken, macht nur einen Teil des Problems aus. Der andere liegt in der extrem wachsenden Zahl von Hochschulabsolventen mit der Ambition auf Führungspositionen in der Gesellschaft, allerdings meist ohne Fähigkeiten, die sie für den marktwirtschaftlichen Bereich empfehlen, vielfach auch ohne Lust, Arbeiten nach Wünschen freiwillig zahlender Kunden zu verrichten. Mit ihrer schieren Menge bläht sich ein steuer- und abgabengefütterter Bereich immer schneller auf, der kontrolliert, überwacht, politische Papiere erzeugt, Zertifikate vergibt, unentwegt Regeln verschärft und ihre Durchsetzung erzwingt.

In seinem Buch „The Age of Discord“ („Das Zeitalter der Zwietracht“) machte der Historiker Peter Turchin darin schon vor Jahren die größte Triebkraft für die Gesellschaftszerrüttung im Westen aus.
Dort, wo ein Perpetuum mobile wirklich gebraucht würde – nämlich zur Rettung der Energiewende –, fehlt es dummerweise. Aber nichts kommt dem Prinzip so nah wie der unaufhörliche Kreislauf von der Agendapolitik erwachter Politiker zu ihren Vorfeldorganisationen, die in Auftragspapieren einen Notstand begründen, mehr Geld für dessen Bekämpfung verlangen und es dankend erhalten, wobei sich das Rad mit jeder neuen Steuermillion und jeder neu geschaffenen Stelle etwas flotter dreht.

Wirtschaftlicher Degrowth gilt zwar als vorerst letzter progressiver Schrei. Aber wenn es um den Notstandskomplex geht, von dem heute schon Zehntausende gut und gerne leben, darf es keine Grenzen des Wachstums geben. Verdächtig macht sich schon, wer danach fragt.


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