Katrin Göring-Eckardt ist nicht zu beneiden und dennoch in einem Punkt aufrichtig zu bewundern. Ihr Landesverband, der in Thüringen in einer Koalition mit den Linken und der SPD regiert, kratzt laut Umfragen an der 5 % Hürde. Es ist also durchaus möglich, dass im nächsten Thüringer Landtag keine Grünen, zumindest keine Parteigrünen mehr sitzen werden.
Ob ihr persönlicher Einsatz in Thüringen eher Hilfe oder eher Ballast für ihren Landesverband darstellt, darüber lässt sich trefflich streiten. Ehrlich zu bewundern ist das Ausmaß von Göring-Eckardts Wirklichkeitsverweigerung. Im Interview mit dem Stern sagt die Langzeitfunktionärin: „Wir kämpfen dafür, dass wir besser abschneiden, als viele uns im Moment zutrauen. Und ich spüre derzeit Rückenwind.“ Ohne Wahlhelfer in den Wahllokalen dürfte das kaum etwas werden, denn Rückenwind kann man derzeit nur bemerken, wenn man eine 180-Grad-Wendung vollführen würde. In Thüringen stehen im September Landtagswahlen an. Insofern lohnt es sich, der grünen Musterstrategin ein wenig zu lauschen. Es gibt wirklich nur wenige Politiker, die aus Ostdeutschland stammen, denen Ostdeutschland so fremd wie Katrin Göring-Eckardt ist, Angela Merkel, Marco Wanderwitz oder Michael Kellner.
Wenn die Grünen-Politikerin aus Thüringen mit Blick auf die Regierungs-Aufmärsche der letzten Zeit behauptet: „Zusammengenommen waren wohl seit der Friedlichen Revolution nicht mehr so viele Menschen für die Demokratie auf der Straße“, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie das Jahr 1989 hinter dem Mond zugebracht hat. Ist sie wirklich der Meinung, dass Horst Schumann oder Hans Modrow oder Erich Honecker die Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Berlin 1989 angeführt haben? Von der Regierung also, wie sie jetzt von Scholz und Baerbock, von der Regierung also, angeführt werden?
Bleiben wir einen Moment in der Geschichte. Horst Schumann, der Leipziger SED-Chef, hatte schon 1961 in der Zeit des Mauerbaus zur Unterdrückung von Protesten der Bürger in einem Befehl formuliert: „Mit Provokateuren wird nicht diskutiert. Sie werden erst verdroschen und dann staatlichen Organen übergeben. […] Jeder, der auch nur im geringsten abfällige Äußerungen über die Sowjetarmee, über den besten Freund des deutschen Volkes, den Genossen N. S. Chruschtschow, oder über den Vorsitzenden des Staatsrates Genossen Walter Ulbricht von sich gibt, muss in jedem Falle auf der Stelle den entsprechenden Denkzettel erhalten.“
1989 Demos gegen den SED-Staat
Was allerdings an Göring-Eckardts Statement stimmt, ist, dass auch 1989 gegen eine Partei demonstriert wurde, und zwar gegen die SED. Nur war die SED im Gegensatz zur AfD an der Regierung. Wenn Göring-Eckardt fachkundig Vergleiche mit dem Jahr 1989 anstellen möchte, dann müsste sie zu dem Schluss kommen, dass sich die Demonstrationen heute gegen die Ampel richten müssten. In einer Demokratie kann man gegen die Politik einer Regierung demonstrieren, aber nicht für sie. Auch das unterscheidet Demokratien von Diktaturen. Niemand muss gegen die AfD demonstrieren, weil niemand gezwungen ist, sie zu wählen. Man nennt es Demokratie.
Aber wenn die Bundestagsvizepräsidentin unbedingt vergleichen will, böten sich die Fackelzüge der FDJ zum jeweiligen Geburtstag der Republik an. Schließlich wurde da für die Regierung und für die Demokratie in der Deutschen Demokratischen Republik auf die Straße gegangen, die von der SED zur einzig wahren, zur demokratischen Demokratie der Demokraten erhoben wurde, die natürlich wehrhaft gegen die Feinde der Demokratie, in Wahrheit also gegen die Opposition zu sein hat.
Bemerkenswert die folgende Frage nebst knapper Antwort der Parteivorderen: „(Frage:) In den Umfragen schlägt sich das nicht nieder. Diesen zufolge müssen die Grünen sowohl bei der Europawahl als auch bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst mit herben Verlusten rechnen. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
(Antwort:) Auf herbe Verluste bereiten wir uns gar nicht vor.“
Denn Göring-Eckardt verspüre „Rückenwind“. Als selbst der sonst grün-CDU-zugetanen Interviewerin Göring-Eckardts Tag- und Abendträumen erkennbar etwas zu viel wurden und sie daraufhin nachfragt: „Rückenwind?“, verrutschte Göring-Eckardt kurz die Maske der netten Thüringerin von Nebenan: „Dieser Zustand ist ja nicht ganz neu. Das liegt auch daran, dass potenzielle Grünen-Wähler eher weggegangen sind aus Ostdeutschland. Und dass die, die geblieben sind, nicht noch mehr Veränderung wollen“, ließ sie die Interviewer wissen. Der dumme Rest halt. Die Klugen, denn Leute, die grün wählen, können aus ihrer Sicht nur klug sein, sind in den Westen oder nach Berlin gezogen wie Frau Göring-Eckardt, die anderen, mit denen man sich nun herumplagen muss, sind geblieben. Zumal die Fachkräfte nach Ansicht der Politikerin einen großen Bogen um Thüringen schlagen würden, weil dort die Dummen wohnen, die Veränderungsmüden, die Minderbemittelten, die ständig zu Belehrenden, die Handwerksmeister und Facharbeiter, die Leute mit Berufs- oder Hochschulabschluss, die nicht von Steuern leben wie Frau Göring-Eckardt, sondern Steuern zahlen, die sich von der abgebrochenen Theologiestudentin irgendwie nicht davon abbringen lassen wollen, u.a. AfD oder CDU zu wählen.
In Thüringen regiert eine Koalition aus Linken, SPD und Grünen. Und wenn die Fachkräfte eine Bogen um Thüringen machen, dann doch eher wegen der Regierung, nämlich wegen Linken, SPD und Grünen. Wenn Göring-Eckardts Fachkräfte wirklich „wirtschaftlich ein riesiges Problem“ bekommen, weil sie „eine andere Hautfarbe“ haben „oder eine andere Muttersprache“ sprechen, dann liegt das doch eher an der Landesregierung, die es nicht schafft, dass Land für wirkliche Fachkräfte attraktiv zu machen, mit ausreichendem Wohnraum, mit Kita-Plätzen, mit vernünftigen Energiepreisen beispielsweise.
Weniger für Ostdeutsche
Und da in Thüringen nur die veränderungsunwilligen Ostdeutschen leben, die vielleicht nur zu dumm waren, in den Westen zu gehen, findet Göring-Eckardt, dass „nicht überall ein Facharzt vor Ort sein“ muss, sondern ein „Gesundheitskiosk“ ausreicht, irgendwie „medizinisches Fachpersonal“: „Also, etwa in einem Gebäude zusammen mit dem Tante-Emma-Laden und der Energieberatung, die zu Solarpanelen berät. Oder im Bahnhofsgebäude oder in einem leerstehenden Gemeindezentrum.“ Und wenn der Erkrankte nicht mit einer Diagnose des Facharztes den Gesundheitskiosk verlässt, weil keiner da ist, so kann er ja stattdessen ein paar Solarzellen mitnehmen? Weitaus wichtiger ist „der thüringische(n) Deutsche(n) und deutsche(n) Europäerin. Und Protestantin“, „die Rechte von Trans*-Personen zu gewährleisten.“ Darin dürfte sie ihre Hauptaufgabe in Thüringen sehen, zumal die Thüringer veränderungsmüde sind, sie wollen eben nicht jedes Jahr ihr Geschlecht wechseln müssen.
Es mag sein, dass Göring-Eckardt darin auch eine politische Strategie gegen die AfD sieht, denn: „Es sind übrigens wirklich vor allem Wähler, also Männer, die AfD wählen.“ Dank der Kurzeittheologiestudentin erfahren wie endlich: Schuld an allem schlechten in dem Land ist wie immer der „alte weiße Mann“. Doch Katrin Göring-Eckardt wäre nicht Katrin Göring-Eckardt, wüsste sie nicht Rat: „Aber es gibt einen wirksamen Hebel: Wir müssen Begegnungen mit den Menschen schaffen, vor Ort sein. Ich glaube, das kann viel verändern.“ Warum sollte man sich als gestandener Handwerker, als Akademiker, als Ingenieur mit Leuten treffen, die weder über Erfahrungen in einem Beruf außerhalb des Funktionärswesens, noch über eine abgeschlossen Berufsausbildung oder eine abgeschlossenes Studium verfügen? Gerade im Osten hat man Phrasen und Losungen, tiefsinnige Erörterungen der Rolle der Bedeutung, sowie der Bedeutung der Rolle darüber, dass die Basis die Grundlage für das Fundament der Erfolge der Energiewende bildet, genug gehört. Man gewinnt den Eindruck, dass Katrin Göring-Eckardts Strategie im „Überholen, ohne einzuholen“ besteht. Das soll ja schon einmal sehr erfolgreich gewesen sein.
Mit Blick auf Biberach verkündet Göring-Eckardt: „Demokratischer Diskurs, auch wenn er hart geführt wird, das ist doch, was uns ausmacht. Und nicht das Verhindern von Gesprächen, das Beschimpfen oder das Überschreiten von Grenzen. Ich wünsche mir wieder mehr Besonnenheit: Lasst die Scharfmacherei sein! Wir müssen den echten, ehrlichen politischen Diskurs wieder miteinander kultivieren.“ Man könnte ihr da Recht geben, würde sie nicht zu den „Scharfmachern“ gehören, würde ihre Forderung stattdessen für alle gelten. Keinen Protest, keine Verurteilung vernahm man von Trittin, von Göring-Eckardt dagegen, dass die Fußtruppen der guten Gesinnung in Münster das Rathaus blockierten, damit die Gäste zum Neujahrsempfang der AfD nicht ins Rathaus gelangen konnten. Wie hatte doch Schumann seinerzeit befohlen: „Mit Provokateuren wird nicht diskutiert. Sie werden erst verdroschen und dann staatlichen Organen übergeben.“
Doppelte Moral, Doppelstandards, Orwell in einfacher Sprache, dass auch Grüne ihn als Handlungsanleitung verstehen können. Solange sich die Grünen über Biberach erregen, nicht aber auch über Münster, fehlt ihnen jede moralische Legitimation, sich zu empören. Wenn Göring-Eckardt wirklich den demokratischen Diskurs möchte, der, will er demokratisch sein, alle politischen Kräfte einschließt, würde sie auch die Anschläge auf AfD-Mitglieder und die Aufmärsche gegen Versammlungen der AfD und der Werteunion getreu des Satzes: Ich bin zwar nicht ihrer Meinung, aber ich werde alles tun, damit Sie Ihre Meinung frei äußern dürfen, verurteilen, dann würde sie in der Tradition der Aufklärung und nicht in der der SED, nicht in der Tradition Horst Schumanns stehen. Sie kann es heute, sie kann es morgen unter Beweis stellen, sie kann alle Eindrücke, dass sie eine Täter-Opfer-Umkehr betreibt, entkräften. Der Ball liegt bei ihr.