Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán musste in den letzten Wochen eine katastrophale Krise meistern, die aus heiterem Himmel über ihn hereingebrochen war. Es wurde ein Lehrstück in innenpolitischer Problemlösung unter maximalem Druck. Dafür musste er erhebliche Opfer bringen und drei seiner wichtigsten Verbündeten aufgeben: Staatspräsidentin Katalin Novák, Zoltán Balog (Ex-Minister und Oberhaupt der reformierten Kirche) sowie Judit Varga, die einstige Justizministerin, die eigentlich den EU-Wahlkampf für die Regierungspartei Fidesz anführen sollte. Jetzt, da das Schlimmste (für Orbán) überstanden scheint, ist es sinnvoll, die Ereignisse noch einmal kühl zu analysieren. Was genau ist da passiert?
Am 2. Februar veröffentlichte das Nachrichtenportal 444.hu einen Artikel, wonach Staatspräsidentin Katalin Novák bereits im vergangenen April einen Mann begnadigt habe, der wegen Beihilfe zu Pädofilie zu einer mehr als dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Den größten Teil davon hatte er zu der Zeit schon abgesessen.
Die Begnadigung war damals nicht publik geworden (Begnadigungen müssen in Ungarn weder namentlich verkündet noch begründet werden), wurde aber im vergangenen September im Rahmen eines Berufungsverfahrens, das der Verurteilte noch vor seiner Begnadigung angestrengt hatte, aktenkundig und öffentlich einsehbar.
444.hu ist vehement regierungskritisch und wird teilweise aus NGO-Geldern finanziert. Jüngst wurde dem Portal indirekte Unterstützung aus Mitteln der US-Botschaft zugesprochen (indirekt in dem Sinne, dass das Geld vor über eine NGO namens Ökotárs an diverse regierungskritische Medien verteilt wird).
Es kann natürlich sein, dass die Redaktion erst jetzt zufällig auf die seit September 2023 zugängliche Information bezüglich der Begnadigung stiess. Es kann aber auch sein, dass die Story bewusst erst Anfang Februar veröffentlicht wurde. Das Timing war perfekt, der Schaden maximal: Am 17. stand Orbáns jährliche Rede zur Lage der Nation an, einer der wichtigsten Termine des politischen Jahres. Zudem sind bald EU- und Kommunalwahlen.
Die Begnadigungs-Geschichte traf Fidesz in deren Markenkern: Kinderschutz ist eine tragende Säule konservativer Identität, und Staatspräsidentin Novák, die als Familienministerin bekannt und beliebt geworden war, war das „Gesicht” dieser Identität. Warum nur hatte sie einen Pädofilie-Helfer begnadigt? Dadurch konnte nun die Opposition das Thema Kinderschutz zu ihrem eigenen machen, und gegen Fidesz wenden. Orbán selbst nannte es unter Verwendung eines Begriffs aus dem Tennis einen „unforced error”, einen unerzwungenen Fehler.
Als Sofortmaßnahme verkündete Orbán, für Pädofilie könne es keine Gnade geben, und kündigte eine Verfassungsänderung an, um solche Begnadigungen künftig unmöglich zu machen. Am 10. Februar trat Novák zurück, und auch Judit Varga verkündete ihren Rückzug aus der Politik. Eigentlich hatte sie als Fidesz-Spitzenkandidatin in den EU-Wahlkampf ziehen sollen.
Am 13. wurde dann klar, was passiert war: Zoltán Balog, Ex-Minister und Oberhaupt der reformierten Kirche, ein Freund und Vertrauter Orbáns, vor allem aber Freund und politischer Ziehvater der Präsidentin, hatte sich bei ihr für die Begnadigung eingesetzt. Der Mann, um den es ging, war in der reformierten Kirche gut angsehen und vernetzt, viele dort hielten seine Gefängnisstrafe für übertrieben. Das war falsch, und Balog gestand ein, einen „Fehler” begangen zu haben. Er versuchte aber dennoch zunächst, sich zu halten. Erst am 16. trat er zurück, gerade noch rechtzeitig vor Orbáns Rede am 17. Februar.
Am selben Tag demonstrierten (nach Angaben der Organisatoren) 50.000 in Budapest „für Kinderschutz” und gegen Orbán. Dazu aufgerufen hatten neun „Influencer” mit Millionen-Gefolgschaften im Internet. Das war eine Innovation: Die herkömmlichen Oppositionsparteien locken kaum noch jemanden auf die Strasse. Es war aber wohl doch eine politische Operation, und auch die aufwendige Logistik (Bühne, Elektrik) legte nahe, dass jemand mit Geld beigesprungen war.
Das Leck im Boot der Regierungspartei war mit den drei Rücktritten notdürftig, aber schnell geflickt worden. Auch tägliche „Enthüllungen” des Ex-Mannes von Judit Varga, Péter Magyar, gegen die Regierung waren mittlerweile verpufft. Zunächst hatten seine Behauptungen dunkler Machenschaften, vor allem über Orbáns Kabinettchef Antal Rogán, noch für fette Schlagzeilen gesorgt. Aber Magyar gilt als etwas durchgeknallt, und nach einer Woche reagierten selbst die Orbán-kritischsten Medien nur noch mit Zeilen wie „Péter Magyar hat schon wieder etwas gepostet.”
Dennoch war der Schaden enorm. Nicht nur hatte Orbán auf drei seiner wichtigsten Verbündeten verzichten müssen, die Parteibasis selbst war schockiert, traumatisiert und gespalten. Viele wollten Novák und Varga zurück haben. Orbán musste nun Seelenmassage betreiben und neue Themen finden, um das Drama abzuschliessen. Das tat er in seiner Rede am 17., in der er gleich zu Beginn und sehr lange (gut ein Sechstel der gesamten Rede) auf die Rücktritte einging. Ein „Albtraum” sei das gewesen, sagte er, „das Jahr hätte nicht schlimmer beginnen können”. Dabei lobte die beiden Frauen überschwänglich, nicht zuletzt um die Parteibasis etwas zu beruhigen. Den Rücktritt insbesondere von Frau Varga, die die Begnadigung gar nicht unterstützt, aber dennoch unterschrieben hatte, nannte er zwar politisch nötig, aber auch „unfair”. Er kündigte an, das Verfahren zur Ernennung eines neuen Staatsoberhauptes beschleunigen zu wollen. (In den Medien kursieren diesbezüglich unter anderen die Namen der Europapolitiker Tibor Navracics und László Trócsányi, beide auch frühere Justizminister.)
Ganz abgeschlossen ist die Sache noch nicht. In den regierungskritischen Medien rollt – fast als ob es geplant gewesen wäre – eine zunehmende Berichterstattung darüber, wie schlecht es um den Kinderschutz in Ungarn bestellt ist, und schon für Mittwoch ist die nächste Demonstration angesagt. Drei Schritte sind noch nötig, um die Krise endgültig zu überwinden: Ein neuer und möglichst akzeptabler Staatschef muss gewählt werden, am 15. März (Nationalfeiertag) plant Fidesz offenbar eine grosse Kundgebung – da wird es wichtig sein, mehr Ungarn zu mobilisieren als die 50.000 der Opposition. Und im Parlament muss die geplante Verfassungsänderung die Opposition dazu verlocken, dagegen zu stimmen. Dann wird man sie wieder als Kinderschutzfeindlich darstellen können.