Am Sonntag, den 4. Februar 2024, wurde Nayib Bukele zum zweiten Mal zum Präsidenten von El Salvador gewählt. Bukele hat das von Bandengewalt erschütterte Land – mit sehr umstrittenen, aber offensichtlich wirksamen Maßnahmen – befriedet. Dieser Meinung ist ein überwältigend großer Teil der Wähler, die ihn mit einem Rekordergebnis von 83 Prozent im Amt bestätigten. Das waren nochmal 30 Prozentpunkte mehr als bei seinem ersten Wahlsieg 2019.
El Salvador ist ein kleines Land in Mittelamerika. Größe und Einwohnerzahl sind mit Hessen vergleichbar. Nach 1992 wurde das von einem Bürgerkrieg verheerte Land von einer neuen Welle von Kriminalität und Gewalt heimgesucht, die 2015 ihren traurigen Höhepunkt mit mehr als 105 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohnern erreichte. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Zahl bei etwa 0,3 pro 100.000 Einwohnern.
Das ermöglichte den Aufstieg eines Mannes, der seine politische Laufbahn in der Werbeagentur seines Vaters begann. Dort arbeitete er an der Wahlkampagne der linksextremen Partido Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN). Die stellte ihn als Kandidaten für die Bürgermeisterwahl für einen Vorort der Hauptstadt San Salvador, für Nuevo Cuscatlán, auf. Er verbesserte die Sicherheit und die Sauberkeit in der Stadt und damit die Lebensbedingungen der Einwohner. 2015 wurde er dann zum Bürgermeister von San Salvador gewählt. In der folgenden Zeit wuchsen die Spannungen mit der Führung der FMLN. Die Gründe dafür dürften in der Finanzierung der linksextremen FMLN durch Venezuela und der damit verbundenen Korruption zu suchen sein. Aber auch in seinen, den Vorstellungen der FMLN diametral entgegenstehenden Ansichten zur Bekämpfung der völlig ausufernden Kriminalität und der Förderung der Wirtschaft.
2017 wurde er dann aus der Partei ausgeschlossen. Durch seine politischen Erfolge und seinem Wissen (und Können) als Werbefachmann war seine Popularität aber enorm gewachsen. Zunächst schloss er sich der liberalkonservativen Partei Cambio Democártico an. Die wurde jedoch kurz darauf verboten und so wechselte er zur Gran Alianza por la Unidad Nacional (GANA). Die damalige linksextreme Regierung glaubte, dass mit dem Verbot der Partei, die die vielen gravierenden Probleme benannte, auch die Probleme verschwinden würden. Verblüffenderweise passierte das nicht. 2019 gewann Nayib Bukele die Präsidentenwahl im ersten Wahlgang mit 53 Prozent.
Als Präsident begann er sofort nach seiner Wahl mit einem neuen Programm zur Bekämpfung der Bandenkriminalität. Dieses Programm, noch martialischer und PR-optimierter vorgetragen, war und ist aber mit drastischen rechtlichen Einschränkungen verbunden. 2022 wurde, nach einer Mordserie gegen Polizisten, der bis heute geltende Ausnahmezustand ausgerufen. Tatsächlich verbesserte sich jedoch das Leben für die Menschen in El Salvador sehr schnell. Die Zahl der Morde sank 2023 auf 2,4 pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Costa Rica, einem anderen mittelamerikanischen Land, in dem die Kriminalität in den letzten Jahren dramatisch zunahm, stieg die Mordrate von 12,5 Morden 2022 auf 17,2 pro 100.000 Einwohner 2023.
Wichtiger ist aber das Allgemeine dieser Entwicklung. Verleugnete Probleme, daraus folgend verlogene und falsche Analysen, dann wirkungslose bzw. die Situation verschlimmernde Maßnahmen. Das Resultat ist eine durch Korruption, Erpressung, Gewalt, Kriminalität, mit unqualifizierten Günstlingen der Parteien in Justiz und Verwaltung vollkommen erodierte öffentliche Ordnung. Diese Erosion konnten (so sie den wollten) die alten Parteien weder aufhalten geschweige denn rückgängig machen. Nayib Bukele ist der Meinung, dass außerordentliche Maßnahmen nötig seien, um diese Zustände zu heilen. Bis jetzt scheint ihm der Erfolg recht zu geben.
Von 1979 bis 1992 tobte in El Salvador ein überaus gewalttätiger Stellvertreterkrieg zwischen Kommunismus und dem damaligen freien Westen. 75.000 Menschen, zumeist Zivilisten, starben. Eine halbe Million Salvadorianer waren im Land auf der Flucht, genauso viele flohen in andere Länder. Viele in die Vereinigten Staaten und dort hauptsächlich nach Los Angeles. Hier trafen sie auf eine andere Spanisch sprechende Unterschicht, den seit den 40er Jahren, mit dem Programm „Bracero“ der amerikanischen Regierung, eingewanderten Mexikanern, die den großen Bedarf Kaliforniens an Arbeitskräften während des Zweiten Weltkriegs und danach befriedigten. Die „cultura chicana“, eine hybride Kultur, weder Amerikaner noch Mexikaner, ist daraus entstanden.
Die Kinder mexikanischer Einwanderer fühlten sich von der amerikanischen Gesellschaft ausgegrenzt, ihrerseits lehnten sie aber die amerikanische Gesellschaft ab und organisierten sich in Gangs, die sich gewalttätige Konflikte mit anderen Latinogangs, Matrosen der amerikanischen Marine und amerikanischen Jugendbanden lieferten. Die organisierte Kriminalität erkannte schnell das hier verfügbare Potenzial und das lockende Drogengeld schuf die ersten gemischten Gangs, die zum Teil bis heute relevante Sicherheitsprobleme in den USA darstellen. Ursache und Wirkung sind hier, wie so oft, bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen.
Die straffälligen, oft minderjährigen Mitglieder dieser Banden wurden meist in den Gefängnissen von San Quentin und Folsom eingesperrt. Die Latinogangs, die sich auf den Straßen bekämpft hatten, arbeiteten aber in den Gefängnissen, in denen sie sich gegen die organisierten Gangs asiatischer, anglo-amerikanischer und afro-amerikanischer Gefangenen behaupten mussten, zusammen. Dort änderte sich auch die Ästhetik ihrer Gangmitglieder. War im kriminellen Teil der cultura chicana noch der Pachuco mit seinen Zoot-Suit – weite, hochgeschnürte Hose, lange Anzugjacke, breite Krawatte und großer Hut – angesagt, definierte sich die neue Gangkultur durch das Gefängnis: Glatzen, großflächige Tattoos, weite Hosen und enganliegende Hemden. Diese Gangs nannten sich, da sie aus dem Süden kamen, „Sur“ oder „Sureños“. Daraus ging die Mafia Mexicana hervor, später einfach zu „M“ abgekürzt.
Um den Zwangsrekrutierungen durch das Militär oder den kommunistischen Guerillas zu entkommen, flohen viele, zumeist junge Männer ab dem Ende der 70er Jahren aus El Salvador, hauptsächlich nach Los Angeles. Sie waren dort auf den verschiedensten Ebenen Konkurrenz für die vorher eingewanderten, und, in gewisser Weise, bereits arrivierten Mexikaner. Sie arbeiteten für weniger Geld und waren durch ihre Erfahrung in den jeweiligen Armeen im Bürgerkrieg „entzivilisiert“, dadurch brutaler und durch keine „Bandenregeln“ einzubremsen. Eine solche Regel war beispielsweise, dass man Bandenmitglieder, die mit Mutter, Frau oder Kind unterwegs waren, nicht angreifen durfte. Drive-by-shootings waren ebenfalls durch die Normen geächtet.
Die Salvadoreños organisierten sich vor allem in zwei Gangs mit dem Namen Barrio 18 und Mara Salvatrucha 13. Im Gefängnis übernahmen sie sehr schnell die Ästhetik der Sureños: Glatzen, Tattoos und weite Kleidung. Sie ergänzten deren Stil aber durch satanische Symbole und Zahlen, meist in gotischer Schrift. Ende der 80er Jahre kam es zwischen diesen beiden Banden von jungen Männern aus El Salvador zu einem nochmal gesteigerten blutigen, einem Krieg nicht unähnlichen Konflikt.
1992 endete der Bürgerkrieg in El Salvador, und die Amerikaner lösten das Problem, indem sie die Gangmitglieder kurzerhand zurück nach El Salvador zurückbrachten.
Im Gegensatz zu den anderen lateinamerikanischen Gruppen der organisierten Kriminalität wie den Zetas, dem Cartel del Golfo oder dem Cartel de Medellín, die in allen Gewinn versprechenden Geschäftsfeldern engagiert sind, waren bei den Maras Status, Macht, Respekt und Identität wichtig. Tatsächlich wurden viele Mitglieder der Maras zu langen Haftstrafen verurteilt, ohne dass sie mit Aktivitäten in Verbindung gebracht wurden, bei denen Geld im Spiel war. Wichtig war ihnen ihr Status. Sie tätowierten ihre Gesichter, ihre Hälse und sogar ihre Münder als Zeichen eines langfristigen Engagements für die Gruppe, der sie angehörten.
Der Drogentransport von Südamerika in die USA erfolgt über die Karibik. El Salvador, ohne Karibikküste, hat deshalb keine große Bedeutung für den Drogenhandel. Die kriminellen Machenschaften der Maras begannen mit Erpressung, Diebstahl, Schutzgeld und Drogenverkauf in kleinem Umfang. Eine Gruppe kontrollierte einen Teil der Straße, eine Andere den Anderen. Ende der 90er Jahre gab es in den armen Vierteln von San Salvador etwa 150 verschiedene solcher Gruppen. Diese fusionierten und begannen größere Firmen und Geschäfte zu erpressen. Die Gruppe der Opfer wurde so größer, wohlhabender und die Politik konnte das Problem nicht weiter leugnen.
2003 wurde das erste Programm der Konservativen ARENA gegen die Banden beschlossen. „Mano Duro“, harte Hand, hieß das Programm. Bandilleros wurden vor laufender Kamera von martialisch ausgerüsteten Polizisten medienwirksam verhaftet, oft aber nach kurzer Zeit ohne Prozess wieder freigelassen. In der Haft lernten sich nun diejenigen Bandenmitglieder kennen, die sich bisher noch nicht kannten. Von da an arbeiteten sie zusammen und steigerten so die Effizienz der Maras. Die in dieser Zeit aufkommenden Mobiltelefone verbesserten die Zusammenarbeit der einzelnen Gruppen ebenfalls.
Ein Jahr später, jetzt regierte wieder die linksextreme FMLN, kam mit „Súper Mano Duro“ das nächste Programm: noch mehr und noch dramatischere Verhaftungen. Die Folge war, dass ein Großteil der Gefängnisinsassen jetzt zu einer der beiden Maras gehörte. Sie übernahmen die Kontrolle unter den Gefangenen und bekriegten sich in den Gefängnissen in unglaublichen Massakern. Die Antwort der Regierung, wieder ohne die Folgen ihrer Handlungen zu bedenken, war der Bau von separaten Gefängnissen für jede der beiden Gruppen, die mittlerweile das ganze Land untereinander aufgeteilt hatten. Eins für Barrio 18 und ein anderes für die Mara Salvatrucha. Diese Gefängnisse, in denen die Bandenführer über allen nur erdenkbaren Luxus verfügten, wurden zu den Kommandozentralen der Banden.
Ein weiterer Weg, den alle Regierungen nutzten, waren Verhandlungen. Mauricio Funes, ein Ex-Guerillero der FMLN, verhandelte einen heimlichen Waffenstillstand mit den Bandenchefs. Journalisten berichten darüber. Die Regierung gab zu, was nicht mehr zu leugnen war, behauptet aber, dass sie tatsächlich einen Waffenstillstand zwischen den Banden vermittelt hätte. Das stimmte zwar nicht, aber zu diesem Zeitpunkt hörten die Gangs auf, einander anzugreifen. Sie töteten sich zumindest nicht mehr auf offener Straße.
In dieser Zeit änderte sich auch das Geschäft der Banden. Sie investierten ihr Geld in neue Geschäfte: Autowaschanlagen, Bordelle, Nachtclubs, Brauereien und Taxiunternehmen. Die Banden begannen, mafiaähnliche Strukturen zu entwickeln. Dadurch änderten sich auch ihr äußeres Erscheinungsbild und ihre Symbolik.
In diesem Kontext erscheint Nayib Bukele als politisches Phänomen. Er ist disruptiv, sagt, er würde den gordischen Knoten der Gewaltkriminalität durchschlagen. Er, so sagte er, würde die Korruption beenden und die Parteien, die mit Kriminellen verhandelt hätten, verjagen. Doch auch er hat als Bürgermeister von San Salvador, ob als Pragmatiker oder Opportunist, mit Bandenmitgliedern verhandelt.
Die Morde waren seit 2016 rückläufig, doch nach 2019, als der neue Präsident an die Macht kam, sind sie auf für El Salvador historisch niedrige Zahlen gesunken. Die neue Regierung behauptet, der Rückgang der Morde sei der sichtbare Erfolg ihrer Politik. Kritiker erkennen den Rückgang der Morde an, behaupten aber, die Banden würden – mit dem impliziten Einverständnis der Regierung – ihre Geschäfte nun geräuschlos weiter betreiben. Weiter behaupten diese Kritiker, dass Nayib Bukele den als Mafia neu aufgestellten Banden ihre wegen den Tattoos entstellten Billigarbeiter auf staatliche Kosten abnehmen würde.
Andere Kritiker, vor allem NGOs und linke Gruppierungen, beklagen die fehlende Rechtsstaatlichkeit der Maßnahmen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. In Venezuela, Nicaragua und anderen Staaten Lateinamerikas besteht die Rechtsstaatlichkeit seit langer Zeit nicht mal mehr auf dem Papier, ohne dass dies von jenen Gruppen in der Vergangenheit bemängelt worden wäre. Aber damit das linke Weltbild wieder passt, wurde aus diesem Sohn eines aus „Palästina“ nach El Salvador eingewanderten Vaters, diesem aus einer linksextremen Partei kommenden Politiker, schnell ein Rechter.