Tichys Einblick
Zurück zu Maß und Mitte

Muss die deutsche Politik auf die Couch?

Der Umgang mit der AfD ist aus psychologisch-systemischer Sicht falsch und gefährlich. Es droht eine Lähmung des Landes durch Vertiefung und Zementierung der Spaltung. Ein psycho-logisches Vier-Punkte-Programm zur Abhilfe von Dietmar Hansch.

IMAGO

Nach dem allseits diskutierten „Geheimtreffen“ zum Thema „Remigration“ in Potsdam geht das hysterische Treiben um die AfD in die nächste Runde: Gewaltige Aufmärsche mit dem, nun ja, etwas unterkomplexen Motto „gegen rechts“ werden organisiert, die Verbotsforderungen werden lauter, AfD-Führungsfiguren sollen die Grundrechte aberkannt werden. Die Gräben drohen unüberbrückbar, die Wunden unheilbar und die Weltsichten unvereinbar zu werden. Man muss nur in die USA schauen, um zu erkennen, welche Gefahr hier heraufzieht.

Wie konnte es soweit kommen? Aus psychologisch-systemischer Sicht wurden und werden bestürzend viele Fehler gemacht: Verwöhnung, Realitätsverleugnung, Übertreibung, Fokussierung nur des Negativen, emotionale Aufschaukelung, infantile Gesprächsverweigerung etc.

In den drei gloriosen Wirtschaftswunder-Jahrzehnten wurde ein immenser Wohlstand geschaffen – man gewöhnte sich an ihn und verwöhnte sich daran. Wohlstand führt psychisch zur Aktualisierung „linker“ Konsum- und Verteilungswerte: Allen wird gegeben nach ihren Bedürfnissen, Härten werden beseitigt. „Rechte“ Werte der Wohlstandserschaffung und -sicherung unterlagen einem schleichenden Abbau und einer zunehmenden öffentlichen Diskreditierung. Ein früher und ikonischer Ausdruck dessen war die Nazifizierung grundlegendster bürgerlicher Tugenden durch Oskar Lafontaine, der sie mit dem Betrieb von KZs in Verbindung brachte. Auf allen Ebenen – Medien, Universitäten, Institutionen, Parteien – verschoben sich die Mindsets nach links, am rechten Rand des Politspektrums entstand eine „Repräsentationslücke“.

Nun, die Saat der Wohlstandverwöhnung ist unterdessen aufgegangen – als Stichworte mögen genügen: Pisa, Generation „Work-live-Balance“ und Viertagewoche. Zugleich verändern sich die äußeren Realitäten: Deutschland fällt im internationalen Wettbewerb zurück, die Bedrohungen durch globale Konflikte wachsen. Immer mehr fürchten um Wohlstand und Sicherheit, vor allem in den unteren Schichten, wo die Vermögen bereits schrumpfen bzw. gar keine Ersparnisse mehr vorliegen (bei 40 Prozent der Deutschen).

Bei immer mehr werden dadurch nun eher rechte Werte und Verhaltensneigungen aktiviert. Hierzu gehört es, in der Not die Reihen der Gruppe zu schließen und im Austausch mit anderen Gruppen mehr auf Gleichwertigkeit zu achten. Dieser Reziprozitäts- oder „Gerechtigkeitsinstinkt“ ist tief evolutionspsychologisch verankert. Und exakt dies ist das Grundthema der AfD: An ihrem Quellpunkt schon, als es darum ging, dass das Mittragen der griechischen Schulden nicht „alternativlos“ sein könne, und heute, wo unkontrolliert und massenhaft Leute in die berstenden Sozialsysteme einwandern, die bis dahin nichts zu ihnen beigetragen haben, die in nicht unbeträchtlichen Teilen nicht integrationsbereit sind oder Deutschland sogar feindlich gegenüberstehen, mit allen immer deutlicher werdenden Folgen.

Diese und weitere haarsträubende Probleme wurden und werden von den linken Politeliten viel zu lange verleugnet. Es wird eine ideologiegetriebene Politik fortgesetzt, die die Leistungserbringer belastet und deren hart erarbeitete Gelder unverantwortlich freigebig verteilt, von der zwölfprozentige Bürgergelderhöhung bis hin zum Bau von Radwegen in Peru für 300 Millionen Euro.

Auch wenn sich die Zeichen eines zögerlichen Umsteuerns mehren: Es ist überwiegend diese Ignoranz und Abgehobenheit, die die AfD erstarken lässt.

Dass sich die Ränder radikalisieren und es immer mehr Trotz-Wähler gibt, hat wesentlich auch damit zu tun, dass die AfD mit sehr unlauteren Mitteln bekämpft wird: Es wird selektiv wahrgenommen und berichtet; es wird bewusst missverstanden, übertrieben und verfälscht; es wird mit zweierlei Maß gemessen. Mit Abgrenzeritis und Kontaktschuldgehabe grassieren Verhaltensweisen, für die man schon in der Kita zu Recht ermahnt wurde. Die hysterischen Aufschaukelungen um die AfD müssen ein Ende haben. Alle Seiten sollten sich bewusst in Mäßigung üben und zu einem erwachsenen und fairen Umgang miteinander zurückfinden.

Wie sähe ein konstruktiver Umgang mit der AfD aus?

1. Die berechtigten Kernanliegen erkennen und einbeziehen. Ja, die AfD vertritt vielfach Positionen, die zweifelhaft, aber dennoch legitim und diskutabel sind; ja, es werden am Rande auch sehr überzogene Forderungen formuliert, die man als zu radikal ablehnen muss; ja, nicht wenige AfD-Leute wirken sehr ressentimentgetrieben und damit nicht gerade sympathisch; und ja, es gibt unter ihnen auch wirkliche Rechtsradikale.
Aber dennoch: Bestimmte Kernanliegen der AfD sind richtig und wichtig. Wir brauchen qualifizierte Einwanderer und keine weitere Einwanderung in die Sozialsysteme. Und: Eine Gesellschaft kann v.a. in Krisenzeiten nur funktionieren, wenn die Kohärenz einer Mehrheitskultur ausreichend gewahrt bleibt und Zuwanderer die wichtigsten Regeln respektieren. Wo es nicht anders geht, muss dies auch mit Härte durchgesetzt werden. Insgesamt brauchen wir auf allen Ebenen eine deutliche Rückkorrektur von linken Konsumwerten zu konservativen Leistungswerten, eine Rückkorrektur von Rechten zu Pflichten, eine Rückkehr zur Leistungsgerechtigkeit, beginnend bei strengerer Benotung in den Schulen bis hin zum Streichen der Boni bei Zielverfehlung in den Chefetagen. Wenn dies nicht endlich von der etablierten Politik verstanden und effektiv umgesetzt wird, wird sich das Erstarken am rechten Rand fortsetzen. In Frankreich jedenfalls wurde es verstanden – unter dem Motto „zivile Wiederaufrüstung“ drängt Emanuel Macron genau in diese Richtung.

2. Die Radikalisierung nicht künstlich verstärken. In komplexen Systemen wie Psyche und Gesellschaft kann sich schnell eine Vielzahl paradoxer Effekte einstellen, für die es Beschreibungen gibt wie Teufelskreis, Druck erzeugt Gegendruck, Trotzreaktion oder selbsterfüllende Prophezeiung. Wer sich auf negative Gefühlszustände fokussiert und gegen sie kämpft, verstärkt sie.
In ähnlicher Weise trägt eine Gesellschaft zur Radikalisierung bei, wenn sie Rechtskonservative permanent als Nazis verunglimpft und ausgrenzt. Eine wirksamere Strategie besteht zumeist darin, das Negative eine Zeitlang taktisch zu akzeptieren, ihm den Rücken zuzukehren und sich auf konstruktive Handlungsziele zwecks Stärkung des Positiven zu fokussieren. Ohne Beachtung verkümmert das Negative dann ein Stück weit ganz von allein, oder es wird aus der Stärke heraus trag- und tolerierbar. Wem es nicht um quotenhascherische Skandalisierung oder Ausschaltung politischer Konkurrenten geht, sondern um das Gemeinwohl, der müsste auch im Umgang mit der AfD auf eine solche Strategie umschalten. Der Fokus gehört nicht auf den radikalen Rand, sondern auf die richtigen und legitimen Kernanliegen.

3. Miteinander reden. Rechte kommen nicht vom Mars und Linke nicht von der Venus. Sie sind alle Erdenmenschen mit ähnlichen Lebenszielen, die sich im Kern nur ein wenig in ihren Charakterveranlagungen unterscheiden. Erst durch Ideologie, Emotionalisierung und mediale Aufschaukelung werden sie weit auseinandergetrieben. Rechte Leistungswerte und linke Konsumwerte sind zwei Seiten einer Medaille. Es braucht beide und das ist eine Basis, auf der man sich mit gegenseitigem Respekt verständigen kann. Also: Sensibilitäten abbauen, sich im Versuch zu verstehen in die Schuhe des anderen stellen, auf das Gemeinsame schauen, Kompromisse finden. Gesinnungen sind keine Viruserkrankungen, man bekämpft und verändert sie nicht durch Isolation sondern durch Disputation. Kaum etwas verletzt die Würde eines Menschen mehr, als ihm die Kommunikation zu verweigern!

4. Durch Einbindung deradikalisieren. Schaut man nicht auf den radikalen Rand der AfD, sondern auf ihren vernünftigen und akzeptablen Part und bezieht die Partei ein, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Rand schrumpft, die Partei moderater wird und in ihre Verantwortung hineinwächst – oder aber sich im Scheitern entzaubert. So ist es letztlich in den meisten anderen europäischen Staaten gelaufen. Fast überall, wo Brandmauern gegen rechtspopulistische Parteien standen, sind sie zerbröselt. Es gab Scheitern – etwa der Zerfall der Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden. Viel häufiger aber ist eine sukzessive Deradikalisierung – man denke an die FPÖ in Österreich, den Front National in Frankreich, die Fratelli d’Italia oder die Schwedendemokraten. In der Schweiz ist das rechte Spektrum bekanntlich über die SVP konstruktiv in die Politikgestaltung eingebunden. Und auch für den Umgang mit der AfD in Deutschland wird es letztlich keinen anderen Weg geben können. Es ist landeszerstörerisch, eine 25%-Partei dauerhaft ausgrenzen oder gar verbieten zu wollen.


Dietmar Hansch ist deutscher Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis Mai vorigen Jahres leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen