Kulturen sind als Werteordnungen im Gegensatz zu natürlichen Merkmalen wie Hautfarbe und Genen veränderbar und daher ist ihre Unterscheidung nicht rassistisch, sondern eine Aufforderung zum Lernen aus dem Vergleich.
Israel ist es mit Hilfe der USA gelungen, von den Friedensverträgen mit Jordanien und Ägypten bis hin zum Abraham-Abkommen immer mehr arabische Staaten von den Vorzügen ziviler Kooperation zu überzeugen. Das arabische Interesse an Kooperation mit Israel lässt sich allen religiösen Eiferern zum Trotz durch ökonomische Vorteile legitimieren. Das Abraham-Abkommen könnte den Kampf der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation transformieren. Im Nahen Osten und in Europa handelt es sich um nicht weniger als um einen Kampf von Weltkulturen um die Minima einer gemeinsamen Zivilisation.
Die säkulare Logik einer Trennung von Religion und Politik ermöglicht die Leistungsfähigkeit einer modernen Gesellschaft und hat dementsprechend zu Fortschritten in der Bewirtschaftung der bis dahin verwüsteten Landschaften, zum Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und eines leistungsfähigen Bildungs- und medizinischen Systems in Israel geführt.
Auch die Palästinenser lassen sich entlang ihrer Teilhabewünsche an den Erfolgen der Zivilisation differenzieren. Das Westjordanland ist gepalten nach denjenigen, die mit Israel Geschäfte machen und denjenigen, die einen Endsieg anstreben. Die annähernd zwei Millionen Palästinenser in Israel sind angesichts der Vorteile des zivilen Lebens weitgehend loyal. Nach der Beseitigung der Hamas müssten die Bewohner des Gaza-Streifens durch Teilhabe und Hilfestellungen zum Frieden verlockt werden, etwa durch einen neuen Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt.
Israel: Frontstaat zwischen säkularer Welt und religiösem Totalitarismus
Israel ist gewissermaßen der Frontstaat im Ringen zwischen der säkularen Welt und dem religiösen Totalitarismus. Sollte Israel überrannt werden, so wird Europa, wie nach dem Fall Konstantinopels, noch stärker ins Visier geraten. Die deutsche und israelische Staatsräson fallen im Kampf gegen den Islamismus zusammen. Im Kampf gegen Antisemitismus findet sich eine der wenigen Ansätze, in denen sich Linke und Rechte einig sind. Israels unmittelbare Zukunft liegt in einem kontrollfähigeren Grenzschutz – und selbiges gilt schon mittelfristig für Europa.
Mit dem Kampf gegen Russland signalisiert der Westen, dass ihm Autoritarismus als gefährlicher gilt als der religiös motivierte Totalitarismus. Dies ist ein Irrweg. Autoritäre Regime verweigern zwar die Ausdifferenzierung der politischen Akteure, lassen aber wirtschaftlichen und anderen zivilen Freiheiten ihren Lauf. Während sie mit uns Geschäfte machen, will der Totalitarismus uns besiegen.
Im Rahmen einer gemeinsamen Strategie bräuchten Israeli und Europäer möglichst viele Verbündete auch unter den autoritär regierten arabischen Staaten und mehr noch, auch mit den autoritären Weltmächten Russland und China. Wie sich die Nato im Kalten Krieg mit den kleineren Übeln autoritärer Mächte – wie der damals laizistischen Türkei – gegen das totalitäre Sowjetsystem, so müsste sich die Nato heute mit autoritären Mächten gegen das größtmögliche Übel des Islamismus verbünden. Gegenüber dem religiösen Totalitarismus ist statt einer Beschwichtigungspolitik Eindämmung erforderlich.
Koexistenz und Konnektivität
Mit dem Ausbleiben einer multipolaren Neuordnung zwischen den Weltmächten wächst das Chaos zwischen den mittleren und kleineren Mächten. „Wer mit jedem verbündet ist, ist mit niemanden verbündet.“ Diese Erfahrung machte Armenien, welches sich seit 2018 zu Lasten der alten Partnerschaft mit Russland dem Westen zugewandt hatte und dann 2023 gegenüber dem Angriff des Nato-Partners Aserbaidschan allein stand.
Im Nahen Osten zeigt sich, dass das Fehlen jeder Ordnung schlimmer ist als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im Eurasischen Raum hervorrufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern.
Für eine Neuordnung nach dem Ukraine-Krieg bieten sich die Vorschläge an, die Henry Kissinger schon 2014 unterbreitet hatte. Kissinger erinnert an die im Gefolge des Wiener Kongresses 1815 entworfene Machtbalance in Europa. In Bezug auf die Ukraine sprach er von „Finnlandisierung“, ein Begriff, der zu Unrecht oft negativ konnotiert wird. Sie hat Finnland den Frieden und der Sowjetunion die Gesichtswahrung ermöglicht. Der kulturellen Integration Finnlands in den Westen hat sie nicht geschadet.
Denkbar ist ein dauerhafter, sich selbst verstärkender Waffenstillstand. Nord- und Südkorea haben seit 1954 nie einen Friedensvertrag unterzeichnet. Formal gesehen befinden sie sich im Kriegszustand, aber die koreanische Halbinsel ist seither friedlich. Ebenso haben die Türkei und Griechenland nie ein Friedensabkommen für Zypern geschlossen.
Trennung von Kulturkreisen statt Kampf der Kulturen und der Weltmächte
Selbst nach dem Kriegsausbruch gab es noch die Möglichkeit, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim ohne völkerrechtliche Anerkennung faktisch Russland zu überlassen. Eine differenzierte Form der Neutralität hätte der Ukraine den Weg in die EU, aber nicht in die Nato eröffnet.
Deutschlands und Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdanken sich in erheblichem Maße der Einfügung in die sich selbst behauptenden, aber auch selbstbegrenzenden Strukturen des Kalten Krieges. Die Welt hat den Kalten Krieg nur überlebt, weil sich die Mächte zu jener Zeit an ihre Einflusssphären hielten und sich auch dann nicht eingemischt haben, als in Ostberlin, Ungarn und Prag die Panzer rollten. Hätten sie sich eingemischt, hätte es spätere Entwicklungen hin zur Freiheitlichkeit Osteuropas nicht mehr geben können.
Die Trennung von Kulturkreisen ist einem Kampf der Kulturen und dem Kampf der Weltmächte vorzuziehen. Sie entspricht nicht den globalen Idealen von der Einheit der Welt oder auch nur eines eurasischen Europas. Sie bringt uns keinen „gerechten Frieden“, sondern oft nur einen Waffenstillstand, aus dem vielleicht eine neue Ordnung hervorgehen wird. Es handelt sich um das kleinere Übel im Sinne der Realpolitik.
Auf der Grundlage von Selbstdefinition, Abgrenzung und Eindämmung könnte der Westen vom Paradigma seiner Universalität zum Paradigma einer Koexistenz von Kulturen und Mächten übergehen. Durch eine Neutralisierung der politischen und kulturellen Beziehungen in einer somit multipolaren Weltordnung würde die Kooperation in Wissenschaft, Technik und Ökonomie erleichtert.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft. Zuletzt erschien von ihm: