Als er auf dem Bahnhof in Bremen ankam, so berichtete mir ein Freund vor einiger Zeit, gelangte er in eine dichtgedrängte Menge mit einem Meer von gelben und grünen Fahnen. Es herrschte eine angespannte Stimmung und es war kurz davor, dass sich die Menschen gegenseitig an den Kragen gingen. Ein kleiner Haufen von Polizisten stand dabei, der wohl kaum zu einem wirkungsvollen Eingreifen in der Lage gewesen wäre. Nein, wer vermutet, hier hätten sich Sympathisanten der FDP und der Grünen in die Haare gekriegt, liegt falsch.
Es waren Fans von Borussia Dortmund und Werder Bremen, die da vor einem Bundesligaspiel im Clinch lagen. Es war eine aufgeheizte Stimmung, skandierte gegenseitige Schmährufe hallten durch die Bahnhofshalle; ein Funke, und das Ganze hätte zu einer Schlägerei mit anschließender Massenpanik führen können. Die Rettung kam aus der kleinen Gruppe der Polizei, von einer Polizistin, die rhythmisch klatschte und dazu skandierte: Schei… Bayern, Schei… Bayern, Schei… Bayern usw. Schlagartig veränderte sich die Lage. Die Fans beider Lager, grün wie gelb, stimmten ein, skandierten ebenfalls die Schmähung der Bayern und zogen friedlich zusammen Richtung Weserstadion ab.
Die kluge Polizistin hatte verstanden: Um gegenseitige Konflikte zu neutralisieren, ist es nützlich, ein Feindbild zu schaffen, das außerhalb der Konfliktparteien liegt. Dazu musste sie nicht eigens die Arbeiten zur Massenpsychologie studieren, es half ihr die eigene Erfahrung.
Die Recherche, wie sie Correctiv im Internet romanhaft schildert, erinnert nicht an journalistisches Vorgehen, sondern an englische Schauerromane der Romantik. So schildert etwa Charles Robert Maturin in seinem Roman Melmoth der Wanderer, einen Menschen, der ganz faustisch seine Seele vermacht, um an Wissen zu gelangen – ungefähr so wie Correctiv seine journalistische Seele vermachte, um an Wissen über die rechte Szene zu kommen –, obwohl es einfacher gewesen wäre, den Klappentext des bei dem Treffen vorgestellten Sellner-Buchs im Internet zu lesen. Nur eben nicht so spektakulär.
Denn in Potsdam trifft sich, so entsteht nach der literarischen Schilderung (ästhetisch durchaus mit Relotius-Niveau), ein rechter eingeschworener Familienclan in der Ruine des „Schlosses von Otranto“ – ach nein, ich vergaß, es war eine Hotelvilla in Potsdam, ganz in der Nähe der Villa, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Wannseekonferenz abhielten, auf der es um die Vernichtung und Deportation der Juden ging. Und das wurde von Correctiv und in zahlreichen Medien gleich benutzt, um entsprechende Assoziationen zu erzeugen.
Und so richtig geheim klingt immer gut, in der Yellow Press, im Kolportageroman oder bei Correctiv. Da wurden mit Kameras Fotos durch Fenster der Villa geschossen, zum Teil offenbar von Booten auf dem nahegelegenen See aus, anscheinend wurden auch Richtmikrofone benutzt, um etwas von den vermeintlich aufrührerischen Gesprächen aufzuschnappen; kurzum: Zur Recherche wurden Stasi-ähnliche Methoden eingesetzt, die sich nur dadurch rechtfertigen lassen, dass man einer ganz, ganz schlimmen Sache auf der Spur war. Nur war man das wirklich?
Von Deportationen und widerrechtlichen Zwangsabschiebungen war bei dem Treffen offenbar gar keine Rede, diese Wörter sind allem Anschein nach gar nicht gefallen, denn sie finden sich nicht einmal in dem Bericht von Correctiv. Wohl aber erfanden sie zahlreiche Medien, unter anderem die ÖRR-Funker, hinzu. Ohne diese Buzzwörter war dann der Bericht allem Anschein nach nicht spektakulär genug. Wie viele Beschwerden sind eigentlich beim Presserat und den diversen Medienräten eingegangen? Denn mit journalistischer Sorgfaltspflicht hat diese Vorgehensweise doch wohl kaum etwas zu tun. Oder sind diese Medienorgane gar selbst gegen die künstlich erzeugte „scary world“ Medienrealität vorgegangen? Anscheinend nicht, aber das wäre eigentlich doch wohl ihre Pflicht.
Für den Inhalt des Correctiv-Berichts wäre ein solch Stasi-ähnliches Vorgehen nicht nötig gewesen. Man hätte, wie erwähnt, den Waschzettel des Sellner-Buches wiedergeben und kritisieren können, wahrscheinlich hätte der Verlag auch ein Vorab-Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt und bei einem Interview mit dem Herrn wären vermutlich belastendere Aussagen zu Tage getreten. Eine gründliche Kritik hätte sich anschließen können. Bessere Bilder von den Teilnehmern des Treffens und nicht so pixelige hätte man vermutlich vor dem Check-in beim Hotel oder bei Bildagenturen bekommen – nur es wäre nicht so spektakulär und abenteuerlich romantisch gewesen, das alles wäre auch nicht schön darstellbar gewesen und hätte nicht so mobilisiert. Übrigens: Die Schauerromantik richtete sich damals gegen die Rationalität der Aufklärung.
Nun habe ich auch absolut nichts am Hut mit der AfD, mit Herrn Höcke oder irgendwelchen Organisationen der extremen Rechten, ganz im Gegenteil, davon distanziere ich mich ausdrücklich. Ich wehre mich allerdings dagegen, dass eine derart billige Propaganda-Kampagne gestartet wird, um die desaströse Politik der Ampel zu verdecken und die berechtigten Proteste unserer Landwirte, Speditionsunternehmen, Handwerker etc. – kurz: der vielen Fleißigen in diesem Lande – in den Hintergrund treten zu lassen – womöglich wird der Protest der Hunderttausende dann gar als Zustimmung zur Politik der Ampel interpretiert.
Das Traurige dabei: dass wie in dunklen Zeiten Deutschlands eben Hunderttausende auf eine nicht einmal geschickt initiierte Kampagne hereinfallen, beruhend auf einem Ereignis, das sich vor Wochen ereignete und nun zum richtigen Zeitpunkt hervorgeholt wird. Und dazu demonstriert man noch mit dem guten Bewusstsein, etwas gegen die „Nazis“ zu tun. Nur – das hätten besser die Großeltern tun sollen. Wie sagte doch einmal der kluge Publizist Hendryk M. Broder? Je weiter wir von der NS-Zeit entfernt sind, desto heftiger und tapferer wird der Protest gegen „Nazis“.
All das erinnert mich an ein kleines Museum im Nebenraum einer Kapuziner-Kirche am Anfang der Via Veneto in Rom. Dort sollen ausgestellte Skelette und Knochen ehemaliger Mönche an die Vergänglichkeit des Menschen erinnern. Vor einigen Skeletten hängt ein Schild mit der Mahnung: „Wer ihr seid, das sind wir gewesen, wer wir sind, das werdet ihr sein.“ Angesichts der Propaganda und der Massenhysterie tauchen bei mir schreckliche Gedanken an eine dunkle Vergangenheit auf.
Übrigens: In den nächsten Wochen sollen die Demonstrationen weitergehen. Zur Erinnerung: auch die meiner Ansicht nach berechtigten Proteste unserer Bauern und Spediteure – das hätte man doch fast glatt vergessen. Cui bono, wem nützt das?
Bernd Steinbrink ist Medienwissenschaftler, Journalist und Buchautor.