Auf dem Boulevard pfeift ein schärferer Wind. Die kuschelige Klatschkultur des Jahres 2015 ist vorbei. die BamS geht hart ran: Mit „Kommissar Kamera“ stellt sie ein Verfahren vor, wie aus der Luft ganze Städte kontrolliert und Übeltäter verfolgt werden können. Ob das klappt, mögen Techniker entscheiden. Entscheidend ist: Während die rot-rot-grüne Stadtregierung in Berlin noch einfache Video-Überwachung ablehnt, werden hier buchstäblich ganz andere Seiten aufgezogen. Im Inneren erst recht.
Das erschütternde nach dem Terror-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin war ja auch, wie gesichtslos die Opfer blieben. Kein Staatbegräbnis, eine Schweigeminute mit riesiger, umso peinlicher wirkender Verzögerung, die die Leerstelle erst so richtig fühlbar machte. Es wirkte, als ob die Opfer möglichst schnell begraben werden sollten, damit nur ja nicht die offizielle Linie des „Wir haben alle lieb“ gestört wird.
Katharina Windmaisser stellt dagegen den fünfjährigen David vor, dessen Mutter Nada beim Terroranschlag starb. Das Verbrechen wird um so eindrücklicher, die Bilder rühren zu Tränen. 11 Verletzte, so erfahren wir, liegen noch im Krankenhaus. Wir haben ja verlernt, über die Opfer zu sprechen. Die im Gesicht verstümmelten Opfer des Axt-Attentäters bei Würzburg bekamen keine sichtbare Anteilnahme, ihre Angehörigen, die sie besuchten, wurden in einem Schwesternheim notdürftig untergebracht. Bislang galt die Anteilnahme den Tätern und ihren persönlichen Schicksalen. Jetzt scheint sich das Blatt zu wenden, und die Opfer werden sichtbar, der Terror zeigt seine Fratze. „Wo bleibt der große nationale Trauerakt“, will Angelika Hellmann im Kommentar wissen. Damit ist alles gesagt.
Um so peinlicher das Interview von Hannelore Kraft, die als Ministerpräsidentin des Landes NRW, deren Behörden den Täter frei haben herumziehen lassen, sieht keinerlei Anlass für die Übernahme von Verantwortung ihres fahrigen Innenministers Ralf Jäger: „Warum sollte er nicht mehr im Amt sein?“ so Krafts rhetorische Rückfrage. Dann das übliche Blabla, dass Gesetze nicht ausreichen würden – alles falscher Text von vorgestern. Nicht einmal zu einer Entschuldigung rafft sie sich auf. (Auf Twitter spottet Andy Neumann: Hätte Amri doch nur während des Blitzmarathons NRW 11km/h zu viel drauf gehabt. Die volle Härte des Gesetzes wäre die Folge gewesen …)
Es ist das peinlichste Interview des noch kurzen Jahres und enthüllt, wie betonfest Kraft an Fehlern und Fehlermachern festhält. Hauptsache, ihr geht es „gut“, mögen doch die Bürger unter offenkundigen Schlampereien leiden: Das erreicht die abgebrühteste und kälteste Frau Nordrhein-Westfalens nicht; das zeigt auch ihr Betonfoto – nichts mehr da von ihrer verbindlichen Show.
Dazu kommt in der BamS ein Interview mit einer triumphierenden Marine Le Pen, ein Gegenentwurf zur gewöhnlichen Demonstrationsberichterstattung gegen das Treffen der „Rechten“ in Koblenz. Man lernt etwas, statt sich nur zu erregen. Es ist der Einzug der Wirklichkeit gegen fromme Wünsche.
Im Leitartikel stellt Chefredakteurin Marion Horn fest: „Der künftige deutsche Bundespräsident wird sich wünschen, er hätte Trump nie als „Hassprediger“ bezeichnet. Trotz solcher Sprüche müssten deutsche Politiker zukünftig freundlich zu Trump sein – ein diplomatisches Glatteis. „Sie werden darauf ausrutschen“.
Der Boulevard hat eine Zeitung zurück.
Eine Zeitung auf der Suche nach dem, was ist
„Sämtliche amerikanische Präsidenten … haben nach dem Zweiten Weltkrieg diplomatische Kontinuität betont. Trump betont dagegen die Möglichkeit des Bruchs. Für europäische Politiker ist es eigentlich unmöglich adäquat darauf zu reagieren.“ Schreibt Claus Christian Malzahn in „Trump legt los, die Welt ist schockiert“ in der WeLT AM SONNTAG.
Damit reiht Malzahn sich bei denen ein, die sich die „Möglichkeit des Bruchs“ nicht vorstellen konnten. Aber Malzahn sagt zu Recht „Möglichkeit“, nicht Tatsache. Und werter Malzahn, nicht nur europäische Politiker finden zu keiner „adäquaten“ Reaktion: das ganze US-Establishment, die Medien zuvorderst, auch nicht.
Die „Stoßgebete“ von Merkel und Schulz, die Malzahn zitiert, dokumentieren die Richtigkeit seiner Beobachtung. Den richtigen Weg weist er, wenn er sagt: „Europa wird sich neu erfinden müssen – und die gespaltenen Vereinigten Staaten gehen schweren Zeiten entgegen.“ Eine andere seiner Feststellungen lohnte sich, weiter gesponnen zu werden: „Trump eroberte vor allem jene Bundesstaaten, in denen sich die Demokraten sicher gefühlt hatten.“ Mancher Blick auf die US-Landkarte erinnert den Historiker sofort an alte Konfliktlinien vor dem „Krieg zwischen den Staaten“, wie geschichtsbewusste Amerikaner statt „Bürgerkrieg“ gern sagen.
„Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Wahlkämpfer, der den Tabubruch suchte, und dem Präsidenten, der nun der Chef im Weißen Haus sein wird.“ Trump suchte keinen Tabubruch, werter Malzahn, um die Wahl zu gewinnen, er ist der personifizierte Bruch mit dem seit 40 Jahren herrschenden Zeitgeist. Zuhause und international.
Malzahn sieht das Amerika vor Trump „wieder zu sich“ kommen: „An dieses Amerika sollten wir uns halten, auch wenn die nächsten Jahre böse Überraschungen bringen werden und das Ende gänzlich offen steht.“ No, Sir, Amerika ändert sich nicht wegen Trump. Trump ist an die Macht gekommen, weil Amerika sich ändert. Mit und ohne ihn.
Zwei Seiten Trump, Family und so weiter: „Die große TRUMP-SHOW“. Den Auftritt von The Donald und Gattin gut beobachtet. Er in den National-Farben, sie als „Hommage an die legendär stilbewusste Jackie Kennedy“. Ja, da wird nichts dem Zufall überlassen. Denn Bilder sind noch lange wirksame Botschaften, wenn Worte längst vergessen sind.
Richard Herzinger kommentiert in „Donald Trump verrät Amerikas ideelles Erbe“ entlang der Doktrin von Amerika, das die ganze Welt nach seinem Ebenbild demokratisch macht. Amerikas kulturelles Erbe ist wesentlich älter, breiter und tiefer als diese Doktrin.
In der WamS finden wir wie immer eine große Themenbreite. Mit „Die große ILLUSION R2G“ von Susanne Gaschke befassen wir uns lieber getrennt und zitieren hier nur den Schluss: „Wenn es auf Bundesebene tatsächlich zustande käme, dann wäre die Sozialdemokraten darin die Mitte. Sie stünden für Sicherheit und Ordnung – und nicht für mehr Sozialismus oder mehr Manufaktum.“
„Im Reich der toten WORTE“ schließt Ulf Poschardt so: „Die drohende Sprachverarmung kommt zum falschesten Zeitpunkt. Die Schreihälse links wie rechts rüsten zum Wettkampf. Unwürdig für das Land der Dichter und Denker.“ Ein Stück zum mehr als einmal lesen. Nicht weil Poschardt Roland Tichy zitiert und das auch noch korrekt: „Früher, so erinnert sich der streitbare liberal-konservative Publizist Roland Tichy gern, war es ein wenig anders. Er erinnert sich an Herbert Wehner, der Jürgen Todenhöfer ‚Hodentöter’ genannt hat, und das im Bundestag. Er erinnert sich an die Verballhornung des CDU-Abgeordneten Jürgen Wohlrabe zu ‚Übelkrähe’ … „. (Und ich – Fritz Goergen – erinnere mich an die unterirdischen Unterleibswitze der Abgeordneten aller Fraktionen ans Ossis Bar im Bundestag.) Was Poschardt von Tichy noch nennt: „Für Tichy nähert sich die politisch korrekte Sprache dem gewundenen, leeren, aber unangreifbaren Gewürge der Beamtensprache an’.“
Der Wirtschaftsteil macht mit einem Beitrag mehrerer Autoren vom World Economic Forum (WEF) auf: „Ist der Kapitalismus noch zu RETTEN?“ Er endet mit dem Rat eines Finanzexperten: „Wir brauchen einen neuen Alfred Herrhausen.“ Das ist mehr als wünschenswert.
Ansonsten gilt für das WEF wie für Davos: Bröckelnde Pracht, arg in die Jahre gekommen, die Risse schlecht getarnt . Ganz im Gegenteil zum Kapitalismus, der erfindet sich lkaufend neu: trial and error. Erich Honeckers Satz von Ochs und Esel stimmt schon, aber nicht für den Sozialismus, sondern den Kapitalismus. Vernunft findet nicht wegen des Primats der Politik statt, sondern trotzdem. Es dauert nur manchmal.